Die kritische Masse ist erreicht

Gwynne Dyers strategische Szenarien einer sich aufheizenden Welt sind keine apokalyptische Zukunftsmusik mehr, sondern kaum noch zu verhindernde Miniaturkatastrophen auf dem Weg zu einem atmosphärischen Supergau

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der irreversible Klimawandel werde für das 21. Jahrhundert Krisen von apokalyptischen Ausmaßen bringen, ganz gleich, zu welchen Anstrengungen sich die Menschheit jetzt noch aufrafft. Mit dieser ungemütlichen Prophezeiung eröffnet der kanadische Militärhistoriker Gwynne Dyer seine umfassende Studie über die geostrategischen Folgen eines weltweiten andropogenen Temperaturanstieges und er denkt dabei durchaus nicht an eine noch Dekaden entfernte Zukunft. Die sicherheitspolitischen Folgen des globalen Klimawandels werden bereits in den kommenden Jahren für alle deutlich – wenn auch zunächst in unterschiedlicher Intensität – zu spüren sein: Dramatisch sinkende Ernteerträge in Mittelamerika und Afrika, gigantische Migrantenströme nach Norden aus Mexiko und dem Maghreb sowie neue militärische Konflikte bis hin zum nuklearen Schlagabtausch zwischen Pakistan und Indien seien zu erwarten. Der genannte Problemkomplex komme schneller auf uns zu, als es die Öffentlichkeit wahrhaben will, konstatiert der ehemalige Dozent an der britischen Militärakademie Sandhurst und beruft sich dabei vor allem auf die Klimaprognosen des 4. Sachstandberichtes der IPCC (Intergouvermental Panel of Climatic Change) aus dem Jahre 2007. Allein in dem moderatesten Szenario dieser Studie muss nach Ansicht der renommierten Klimawissenschaftler bis zum Jahr 2040 mit einem durchschnittlichen Anstieg der globalen Temperatur von 1,3 Grad Celsius (gegenüber dem Beginn der Industrialisierung um 1800) gerechnet werden. Da hierbei auch die generell niedrigeren Werte über den Meeresspiegeln einbezogen wurden, bedeutet dies für viele kontinentale Zonen bereits in Generationenfrist einen Anstieg von deutlich mehr als 2 Grad und damit den ökonomischen Supergau. Selbst wenn es halbwegs günstig läuft und die inzwischen von allen Wissenschaftlern geforderte vollständige Dekarbonisierung der wichtigsten Industrieländer bis 2040 tatsächlich gelingt, vermag bis jetzt niemand zu sagen, ob sich der entscheidende CO2-Gehalt unserer Atmosphäre nicht durch so genannte Feedback-Effekte noch rasant erhöht. Tatsächlich gibt es bereits deutliche Anzeichen dafür, dass etwa die bisher noch in den Permafrostgebieten gebundenen Methanmengen frei gesetzt werden könnten, so dass es zu einem zusätzlichen dramatischen Anstieg des atmosphärischen CO2-Gehaltes (gemessen in Parts per Million/ppm) käme. Nicht nur die durchschnittliche globale Temperatur würde damit erheblich über jene 2 Grad ansteigen, die zurzeit noch als Grenze des politisch Beherrschbaren angesehen wird. Auch der CO2-Anteil stiege deutlich über die als kritisch bewertete Marke von 450 ppm, ab der die Eismassen des Nordmeeres rasch und vollständig abtauen. Ein Anstieg der Meeresspiegel um 70-80 m wäre die katastrophale Folge. Der 2007 gemessene Wert betrug 390 ppm, aber jedes Jahr kommen zurzeit etwa 2-3 ppm hinzu.

Trotz erheblicher Risiken sieht der Militärhistoriker Dyer keine andere Alternative, als eine rasche und entschlossene Dekarbonisierung der Weltwirtschaft, eingeleitet von den traditionellen Industrienationen als eine Art Bringschuld. Ein wesentlicher Meilenstein auf dem Weg dorthin wäre ein Rückgang des fossilen Energieanteils im Jahre 2030 von 80 % (gegenüber 1990). Unklarheit herrscht aber noch immer darüber, wie eine derart ambitionierte Zielsetzung – die Bundesregierung strebt immerhin 40 % bis 2020 an – überhaupt umgesetzt werden kann. Die technischen Möglichkeiten, um endlich auf breiter Basis von einer Verbrennungstechnologie des 19. Jahrhunderts Abschied zu nehmen, liegen längst vor. Allein fehlte bisher der politische Wille – und die achtjährige Amtszeit der Bush-Administration könnte sich auch in klimapolitischer Hinsicht noch als verhängnisvoll vergeudete Zeit erweisen.

Da aber auch eine vollständige Dekarbonisierung der Weltindustrie bis 2050 keine Gewähr für einen halbwegs glimpflichen Ausweg aus dem ungewollten globalen Klimaabenteuer bietet, setzt Dyer, der sich dazu mit einer Reihe namhafter Spezialisten in aller Welt unterhalten hat, zusätzlich auf die Methoden eines so genannten Geo-Engineering, mit deren Hilfe eine weitere Erwärmung der Atmosphäre zumindest verzögert werden könnte. Doch eine künstliche Erhöhung des Schwefelanteils in der Luft, wie sie auch durch große Vulkanausbrüche bewirkt wird, wäre ebenso wie die vollständige Dekarbonisierung eine existenzielle Gradwanderung. Drastische Ernteausfälle und zugleich das völlige Versiegen der Exporterlöse der Erdölerzeuger würden für viele Ökonomien der so genannten Dritten Welt und des Nahen Ostens den Zusammenbruch schon in naher Zukunft bedeuten. Dyer schreibt dazu unmissverständlich, dass der Problemkomplex schon jetzt nicht mehr zu bewältigen sei, ohne dass es eine Menge Opfer kostet.

Über die jetzt in eindeutiger Form vorliegenden Klimaprognosen hinaus entwickelt der Militärhistoriker ein halbes Dutzend düsterer Szenarien mit einer Reihe von regionalen Katastrophen, die so oder in ähnlicher Form der Weltbevölkerung in den kommenden 40 Jahren bevorstehen könnten. Vergleichsweise harmlos dürfte noch der Konflikt zwischen dem NATO-Mitglied Kanada und dem wieder erstarkten Russland um die Förderrechte im abtauenden Nordmeer sein. Nach einigen Jahren diplomatischen Tauziehens, das fallweise schon in kleinere militärische Aktionen überging, lenkt Moskau zu Beginn der 2020er-Jahre ein, um den Rücken für einen anbahnenden Konflikt mit China frei zu haben und da der rasch fallende Erdölpreis auf den Weltmärkten andere Prioritäten setzt. Ein zweites dramatisches Szenario, das Dyer um das Jahr 2025 ansiedelt, spielt sich im Südwesten der Vereinigten Staaten ab, wo sich der bisher von Politik und Wirtschaft geduldete illegale Grenzübertritt zu einer regelrechten Invasion steigert. Dutzende von Millionen Menschen aus einem inzwischen von regionalen Warlords beherrschten Mexiko drängen gegen einen Grenzzaun, der inzwischen den tödlichen Charakter der ehemaligen innerdeutschen Grenze mit Minenfeldern und Selbstschussanlagen hat. Nur am Rande erwähnt Dyer, dass sich die europäischen Staaten etwa zur gleichen Zeit mit ähnlichen – muslimischen – Migrantenströmen aus dem Maghreb und dem Nahen Osten befassen müssen. Noch schrecken die Regierungen vor dem Schießbefehl auf hilflose Flüchtlinge zurück. Ob man aber in den Hauptstädten Europas in 20 Jahren noch ebenso human sein wird, ist angesichts der zu erwartenden Zahlen höchst fraglich.

Ein regionaler Atomkrieg zwischen Pakistan und Indien könnte sich bereits ab 2030 abspielen, wenn nicht nur die gewohnten Regenfälle des Monsuns ausbleiben, sondern auch der gewaltige Strom des Indus nicht mehr von den Himalayagletschern gespeist wird. Im Jahre 2039 schließlich wird China, das Dyer im übrigen als den großen Verlierer des Klimawandels sieht, im Alleingang einen verzweifelten Versuch starten, Hunderte von Ballons mit Schwefel in die Atmosphäre aufsteigen zu lassen, um die globale Oberflächentemperatur vielleicht um 1 Grad abzukühlen. Dyer räumt ein, dass seine Datierungen einer gewissen Willkür unterliegen, betont aber zugleich, dass die geschilderten Entwicklungen so oder in ähnlicher Form bereits unabwendbar sind, selbst wenn die Menschheit die magische 20 Grad-Marke insgesamt noch einhalten kann. Scheitert sie jedoch daran, dann wäre auch folgendes wahrhaft apokalyptisches Szenario im Jahre 2075 denkbar: Die Gattung ist auf 500 Millionen. Menschen geschrumpft, spricht nur noch zwei Sprachen (Englisch und Russisch) und hat sich, von wenigen Enklaven abgesehen, um das abgetaute Nordmeer angesiedelt, dessen Konturen nur erahnt werden können. Über diesem anoxischen Meer wird zudem ein ständiger Schwefelgeruch liegen und tödliche Schwaden von Schwefelwasserstoff werden die Atmosphäre zunehmend vergiften, wie schon einmal am Ende der Kreidezeit.

Dieses letzte Szenario, das die Menschheit wie einst die Dinosaurier zum Aussterben verurteilt, werde hoffentlich nur ein Alptraum bleiben, so Dyer, dessen Vertrauen in die menschliche Vernunft nach seiner Tour d’horizon zu sämtlichen namhaften Klimaforschern nach eigenem Bekunden gestärkt worden sei. Die Menschheit hat nun die Reifeprüfung vor sich, nachdem sie immerhin im 20. Jahrhundert die Mittlere Reife bestanden hat, als sie die Zivilisation nicht durch einen globalen Nuklearkrieg vernichtete. „Jetzt sind nicht mehr nur Wissen und technische Fertigkeiten gefragt; es geht vielmehr um Selbstbeherrschung und Kooperationsfähigkeit: um die Werte von Erwachsenen, wenn man so will.“ Ob derartige Hoffnung machende Einschübe nun auf Wunsch des Verlages erfolgten, der seinem deutschen Publikum vielleicht nicht zu viel zumuten wollte, bleibt offen. Jedenfalls verleihen sie dem Buch eine gewisse Ambivalenz. Gleichwohl bleibt die Lektüre von Dyers Studie ein absolutes Muss für jeden, der nicht der Gattung Strauss angehört.

Titelbild

Gwynne Dyer: Schlachtfeld Erde. Klimakriege im 21. Jahrhundert.
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Held.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010.
383 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783608946116

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