Gönggi und das Hamsterrad der Väter

Über Hansjörg Schertenleibs Roman „Cowboysommer“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wäre ich ein Mädchen – ich würde mich auf der Stelle in Dich verlieben“, meinte einst der Ich-Erzähler Hanspeter zu seinem Freund Boyroth. Das war im Fußballweltmeisterschaftssommer 1974, als die beiden so unterschiedlichen Jugendlichen gemeinsam den „Cowboysommer“ verbrachten. Der schweizer Autor Hansjörg Schertenleib, der zur Handlungszeit (wie seine beiden Hauptfiguren) 17 Jahre alt war, erzählt diese unkonventionelle Freundschaftsgeschichte rückblickend aus der Gegenwartsperspektive. Hanspeter hat es als Schriftsteller zu ansehnlicher Bekanntheit gebracht, während sich Boyroth mit Jobs im Staustellergewerbe leidlich durchs Leben schlägt. Lediglich über die Musik der frühen 1970er-Jahre finden die beiden bei ihrem unerwarteten Wiedersehen noch einen Draht zu einander. „Was dagegen, wenn ich dich Gönggi nenne?“, fragte Boyroth einst Hanspeter beim Kennenlernen. Und Boyroth, der eigentlich Walter Roth heißt, wurde für Gönggi zu einer Art Sozialisationsmotor. Er war etwas anders als die meisten gleichaltrigen Kumpels, war nicht nur der beste Fußballer der Clique und der begehrte Mädchenschwarm, sondern auch ein klein wenig der aufsässige Rebell, der andere Kleider und die Haare länger trug, der als Jugendlicher Led Zeppelin und Frank Zappa hörte und nicht etwa Sweet oder Abba und der seinem schüchternen Freund die Joints und das weibliche Geschlecht näherbrachte. Schertenleibs Roman lebt sehr stark von den Emotionen und den Sehnsüchten seiner Figuren. Trotz der großen Distanz zur Handlungszeit gelingen dem Autor eindringliche Stimmungsbilder, etwa von den ambivalenten Gefühlen zu den Eltern, die zwischen abgrundtiefem Hass und inniger Liebe pendeln. Das Handeln der Teenager ist primär geprägt von dem allen Schertenleib-Werken immanenten Aufbruchgedanken, von der unstillbaren Sehnsucht, die muffige Enge der Schweiz hinter sich zu lassen und aus dem „Hamsterrad der Väter“ auszusteigen. Das kurze Glück des „Cowboysommer“ wird abrupt und ziemlich dramatisch beendet. Boyroths jüngere Schwester Jolanda, in die sich Gönggi unsterblich verliebt hatte, kommt bei einem Motorradunfall mit dem gemeinsamen Kumpel Fabio ums Leben. Nichts ist mehr, wie es vorher war. Das unbeschwerte Glück verwandelte sich in eine kaum definierbare Melange aus Schmerz, Trauer, Selbstvorwürfen und Wut. Eine Verwandlung, die für pubertierende Jugendliche kaum zu bewältigen ist. „Ich hatte damals tatsächlich einen Kumpel wie Boyroth“, räumte Hansjörg Schertenleib offen ein. Das Alter, die Schriftsetzerlehre und der Handlungsort Zürich sind weitere augenfällige Parallelen zur Vita des Autors. Trotzdem ist es für dieses Buch völlig unerheblich, wie stark am Ende tatsächlich der autobiografische Gehalt ist. Viel entscheidender ist, dass die Balance zwischen stimmungsvoll-authentischem Zeitgemälde und verklärenden Jugenderinnerungen ganz fein austariert wurde.

Nach der Novelle „Der Glückliche“ (2005) und dem Roman „Das Regenorchester“ (2008) ist Schertenleib wieder ein ungemein gefühlvolles und doch unaufdringliches Buch gelungen. Bei aller Bewunderung dafür, wirkt es trotzdem etwas befremdlich, wenn ein gerade einmal 53-jähriger Autor auf so melancholische Weise auf seine Jugend zurückblickt. Aber auch das ist eine Sache des (ureigenen) Gefühls.

Titelbild

Hansjörg Schertenleib: Cowboy Sommer.
Aufbau Verlag, Berlin 2010.
237 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783351033217

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