Wo Heimat und Heimatlosigkeit zusammenfallen

Über das Gesamtwerk der oberschwäbischen Chronistin Maria Beig

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

„Heimat sehe und empfinde ich, zum Beispiel, wenn ich in diesem oder jenem Buch von Maria Beig lese, auch. Da fällt, wie auch bei mir, ganz schnell die Erfahrung der Heimat mit jener der Heimatlosigkeit zusammen“, notierte vor kurzem Büchner-Preisträger Arnold Stadler in einer Tageszeitung über den Begriff Heimat.

Wann immer in unseren Breiten im Kontext der Literatur von Heimat die Rede ist, fällt der Name Maria Beig. Sie ist und bleibt ein Phänomen. Mit knapp 60 Jahren begann die frühpensionierte Handarbeitslehrerin zu schreiben. Und es bedurfte der Patronage eines Martin Walser, der 1982 ihren Erstling beim renommierten Suhrkamp Verlag protegierte. Er war es, der ein Jahr zuvor erstmals eine breitere Öffentlichkeit auf die in der Nähe des oberschwäbischen Meckenbeuren bei Friedrichshafen am Bodensee als sechstes von 14 Kindern auf einem Bauernhof geborene Maria Beig aufmerksam machte. In seiner „Ersten Notiz über Maria Beig“, als Nachwort in Beigs Debüt „Rabenkrächzen“ wiederabgedruckt, umschreibt Walser die scheinbare Kunstlosigkeit des Beig‘schen Schreibens so: „Gleichmut ist die größte Tugend dieser Autorin. Gleichmütig sagt sie das Größte und das Kleinste, das Entsetzlichste und das Lieblichste her.“ Und in der „Dritte(n) Notiz über Maria Beig“, bemerkt Walser über die (autobiografische) Erzählerin ebenso lakonisch: „Durch Erzählen überlebt sie.“

Und überlebt hat die oberschwäbische Chronistin, die mit ihrem unvergleichlichen Werk nicht nur Heimat-, sondern auch Weltliteratur geschrieben hat, wofür auch die zahlreichen Übersetzungen ein Indiz sind, glücklicherweise bis heute. Am 8. Oktober feiert die zierliche ehemalige Bauerntochter ihren 90. Geburtstag.

Der Tübinger Klöpfer & Meyer Verlag, dem wir auch die wunderbaren Bände der Landesbibliothek verdanken, hat aus diesem Anlass eine ebenso voluminöse wie ansprechend aufgemachte Gesamtausgabe vorgelegt. Auf knapp 2.000 Seiten wird eine starke Stimme vernehmbar, für die Schreiben in der Tat Überlebenshilfe war.

Ob im fulminanten Erstling „Rabenkrächzen“, in „Hochzeitslose“, in „Hermine. Ein Tierleben“, zuletzt in der Rückschau „Ein Lebensweg“ oder in den Entdeckungen des fünften Bandes, der die Erzählungen versammelt: Maria Beig beschönigt nichts, beschreibt keine Idylle auf dem Bauernhof zwischen den Weltkriegen. Im Gegenteil, so wie sie die Leserinnen und Leser seit „Rabenkrächzen“ und der „Tier-Scheherazade“ kennen und wie Walser „Hermine. Ein Tierleben“ genannt hat: Unprätentiös und lakonisch, herb und poetisch zugleich schildert sie die Lebenswege ihrer meist starken Heldinnen.

„Maria Beigs Stimme überwältigt ihre Leser. Doch sie überwältigt nicht mit Gewalt, sondern mit einer Wortgenauigkeit, mit Aufrichtigkeit, Tiefe, Lebensweisheit und, in letzter Instanz, mit einer Schwäche, in der man nicht umhin kann, die ultimative Spannung zwischen Rettung und Untergang zu spüren“, umschreibt Mitherausgeber Peter Blickle im Nachwort die „Kunst der scheinbaren Kunstlosigkeit“. Oder pointierter formuliert: „Weshalb uns Maria Beigs Literatur bleiben wird, ist ihre Kunst, Seelenporträts in einer Stimme zu komponieren, die uns beim Lesen nicht mehr loslässt.“ Mehr kann Literatur nicht.