Das Scheitern eines Amerikaners

Über Paul Austers Roman „Unsichtbar“

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mittlerweile gehört es zum guten Ton des Feuilletons, Paul Auster als den „früh verwöhnten Autor der achtziger Jahre“ zu klassifizieren, der zwar beharrlich und regelmäßig den Markt mit seinen Unikaten beliefere, es aber versäume, etwas Neues zu produzieren oder sich selbst als Autor neu zu erfinden. Dabei vermodert das Feuilleton selbst in den „feuilles mortes“, denn weder kommen die Feuilletonisten über die bloße Invokation eines obskuren Neuen hinaus noch wagen sie sich selbst zum Unerprobten hervor, sodass sie sich an festen Größen des Kulturbetriebs abarbeiten können. Die Schalheit, die sie dem arrivierten Autor attestieren, fällt auf sie zurück.

Seit seinem autobiografisch gefärbten Buch „The Invention of Solitude“ (1982), das Austers Übergang von Dichter zum Romancier markierte, nimmt das Zusammenspiel von Erinnerung, Trauma, Einsamkeit und Kreativität eine zentrale Rolle in seinem literarischen Werk ein. Auch in seinem neuen Roman „Unsichtbar“ variiert Auster diese Thematik in einer mehrschichtigen Textarchitektur. Im Zentrum des im geschichtsträchtigen „Summer of Love“ des Jahres 1967 spielenden Romans steht Adam Walker, „ein ahnungsloser junger Student mit Lust auf Bücher“, der sich zum Dichter berufen fühlt. Auf einer Party lernt er den französischen Gastprofessor Rudolf Born und seine Freundin Margot kennen, die ihn zunächst in ihren Bann und später ins Verhängnis ziehen. Born lockt den unbedarften Studenten in sein Spiel, indem er ihm in Aussicht stellt, eine von ihm finanzierte Literaturzeitschrift redigieren zu können, und wenig später offeriert er Adam seine Freundin, deren Blicke Adam als „vage erotisch“ wahrnimmt. In der Folgezeit entspannt sich eine kurze, aber heftige sexuelle Affäre, die Adams „Lust auf Bücher“ in eine unbändige Lust auf Sex verwandelt. Als jedoch Walker hilflos mitansehen muss, wie Born bei einem Straßenüberfall den schwarzen Angreifer eiskalt mit einem Springmesser tötet und nach Frankreich flüchtet, endet seine Selbstgewissheit. Weder Born noch sich selbst kann der „schuldlos Schuldige“ verzeihen, und der kurze, jäh über ihn hereingebrochene Moment wird zum Trauma seines Lebens.

Beginnt der erste Teil noch wie eine geradlinig erzählte Auster-typische Geschichte, so stellt er sich im zweiten Teil als Fiktion, als Text im Text heraus. Vierzig Jahre später versucht der von Leukämie im Endstadium gezeichnete Walker, die Erinnerung an die Ereignisse des Jahres 1967 noch einmal wachzurufen. Aus dem Jungen, „der für ein Leben in der literarischen Welt bestimmt gewesen war“, ist ein Anwalt „für die Verachteten und die Unsichtbaren“ der amerikanischen Gesellschaft geworden, der zu Beginn der 1970er-Jahre eine Karriere als erfolgloser Dichter in Europa für immer aufgab. Da sein Erinnerungsprojekt aufgrund einer Schreibblockade ins Stocken geraten ist und ihm die Zeit ausgeht, sucht er Hilfe bei seinem ehemaligen Kommilitonen James Freeman, einem erfolgreichen Romancier, der dem alten Freund mit Rat und Tat zur Seite steht. Doch Walker verschwindet aus der Welt, ehe er sein Projekt vollenden kann, sodass es Freeman als Nachlassverwalter obliegt, die unfertigen Texte zu editieren und zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen.

Im zweiten Teil, der den Titel „Sommer“ trägt und in der distanzierenden zweiten Person Singular erzählt wird, spielt die über allem hängende sexuelle Aufladung die zentrale Rolle. Als Walker in den Semesterferien in der Universitätsbibliothek jobbt, überwältigen ihn inmitten der Massen von Büchern sexuelle Fantasien, während er in der Distanz zur eigenen Person über sein inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester Gwyn berichtet, ehe er im Herbst zu einem Austauschprogramm nach Paris aufbricht. Zugleich wuchert in die Gegenwart der Geschwister der Alp der Vergangenheit: Im Alter von sieben Jahren starb ihr kleiner Bruder Andy bei einem Badeunfall im See und ist wie ein Geist permanent in der Vorstellungswelt der überlebenden Geschwister präsent.

Im dritten Teil schließlich erzählt Walker in der dritten Person von seinem missratenen Aufenthalt in Paris. Durch Zufall trifft er Born wieder, dessen Heiratspläne er aus Rache für den Mord in New York hintertreiben möchte. Doch durch ein Komplott wird er des Drogenbesitzes beschuldigt und auf Lebenszeit des Landes verwiesen.

Während Walker zum Unsichtbaren wird, bleibt nur sein Text als Summe seiner Existenz. „Was Adam da schreibt, ist reine Erfindung“, behauptet Gwyn und bestreitet die inzestuöse Beziehung. „Das sind die Phantasien eines Sterbenden, ein Traum; er hat sich gewünscht, dass es so war, aber so war es nicht.“ Trotz allem will sie den Text nicht unterdrücken und stiftet Freeman an, „etwas Publizierbares daraus zu machen“, indem die Personen und Orte umbenannt werden. Der Nachlassverwalter wird zum Fälscher, der um den Preis der Veröffentlichung den Originaltext zur Unkenntlichkeit umarbeitet und manipuliert. Mit dieser Praxis beschreibt Auster seine eigene Arbeitsmethode als Autor, der einerseits später Erbe einer sperrigen Moderne ist und ein Faible für die sprachkritische Avantgarde des vorigen Jahrhunderts hat, andererseits die Sperrigkeit von Erinnerung, Trauma, Einsamkeit und Kreativität mit seiner Fähigkeit als eloquenter Geschichtenerzähler übertüncht. Unterliegen die brüchigen Sprachgebilde eines Samuel Beckett einer konsequenten Logik des Zerfalls, füllt der Beckett-Herausgeber Auster die entstehenden Lücken und Leerstellen mit Worten, um die Realität nicht in einem weißen Rechteck verschwinden zu lassen, wobei ihm der Vorwurf der Gefälligkeit nicht zu ersparen ist.

Zugleich ist bei Auster stets das Bewusstsein des Scheiterns präsent, das jedoch letztlich den Erfolg des „eau d’Auster“ ausmacht: Es schmeckt zuweilen bitter, verursacht aber dennoch nach dem Genuss einen wohligen Geschmack. Der literarische Nachlassverwalter Freeman kann das „Rätsel“ Walker nicht lösen – zu vieles bleibt zweifelhaft, und die objektive Wahrheit bleibt verborgen. Doch fatalistisch nimmt Freeman das Scheitern in Kauf. Der Wahrheit kann er sich nach seinem Verständnis nur annähern, sie aber niemals absolut ermitteln. Am Ende erscheint die Realität als eine mit Worten übersäte Landschaft, die zur Interpretation einlädt, sich einer Deutung aber gleichzeitig verschließt. Das Resultat ist ein „aufpolierter“ Text, dem nicht zu trauen ist. Trotz allem ist er noch das Beste, was aus dem jedem Schreibprozess innewohnenden Scheitern zu retten ist, auch wenn ihm der Ruch des Betruges anhaftet.

Titelbild

Paul Auster: Unsichtbar. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englischen von Werner Schmitz.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2010.
315 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498000813

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