Ein zutiefst emotionales Buch über eine Nicht-Kindheit

„Rabenliebe“ ist ein Autobiografie des Bachmann-Preisträgers Peter Wawerzinek

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1954 in Rostock geborene Schriftsteller Peter Wawerzinek (eigentlich Peter Runkel) beschreibt in seinem autobiografischen Roman „Rabenliebe“ seine Kindheit an der mecklenburgischen Ostseeküste. Eine Kindheit, die aus langjährigen Aufenthalten in verschiedenen DDR-Kinderheimen (Grimmen, Nienhagen und Rerik) bestand, denn mit zwei Jahren wurden er und seine jüngere Schwester von der Mutter, die in den Westen floh, alleine in der Wohnung zurückgelassen. Einige Tage später wurden beide durch einen glücklichen Zufall gefunden.

Von der Mutter verstoßen, ist der Junge nirgends daheim. Er wird von einem Heim zum andern gebracht. „Wie eine Ware stets. Wie ein Paket aus Fleisch und Blut angeliefert.“ Er hat keine Mutter, keinen Bruder, keine Schwester. Der kindliche Alltag besteht aus Abzählappellen und auferlegten Strafen. Diese Erlebnisse brennen sich dem Jungen ins Hirn, stundenlang liegt er in einer Kellernische und denkt sich abenteuerliche Geschichten aus, um in Gedanken dieser freudlosen Welt entfliehen zu können.

Die Köchin eines Heims will ihn adoptieren, doch ihr Mann ist dagegen. Schließlich nimmt ihn eine Handwerkerfamilie auf, bringt ihn aber dann wieder ins Heim zurück. Nach diesen zwei gescheiterten Adoptionsversuchen findet er endlich bei dem Lehrer-Ehepaar Wawerzinek eine Heimat.

Nach der Schule absolviert er eine Lehre als Textilzeichner und leistet anschließend seinen Militärdienst bei der NVA. 1978 zieht er nach Ost-Berlin und beginnt ein Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, das er jedoch nach zwei Jahren abbricht. Anschließend schlägt er sich mit verschiedenen Berufen (unter anderem Briefträger und Mitropa-Kellner) durch. In den 1980er-Jahren tritt er in der Ostberliner Literatenszene auf. Nach der Wende erscheinen einige Bücher, jedoch ohne durchschlagenden Erfolg. Dann folgt eine mehrjährige Schreibpause. Nun hat Peter Wawerzinek mit „Rabenliebe“, dessen Anfang er in Klagenfurt vortrug, den diesjährigen Bachmann-Preis sowie den Publikumspreis gewonnen.

Nach fünfzig Jahren hat Peter Wawerzinek darin den sicheren Schreibtisch verlassen, um sich auf den Weg in seine Kinderjahre zu machen. Mit dem Besuch seiner Kinderorte, der Heime, schreibt er sich seine Lebensgeschichte, sein Schicksal und sein Trauma von der Seele. Durch diesen Erinnerungsprozess hat er seine schon verloren geglaubte Kindheit wiedergewonnen.

„Schreibend bin ich tiefer ins Erinnern geraten, als mir lieb ist“, gesteht der Autor. Jeder Waise will zu seiner Mutter aufbrechen, auch wenn es eine Rabenmutter ist. Doch die Suche nach der Mutter ist eine weitere menschliche Enttäuschung. Bei seinem Besuch sitzt sie ihm in der Küche schweigend und unangreifbar gegenüber, als ginge sie das alles überhaupt nichts an. Menschliche Leere. Mutter und Sohn haben sich nichts zu erzählen, selbst die Wände schweigen. Nach diesem Besuch „ist das Kind erwachsen geworden und in der Mutterlosigkeit daheim. Es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen“.

„Rabenliebe“ ist ein zutiefst emotionales Buch und ein ergreifendes Zeugnis einer Nicht-Kindheit. Die schmerzvolle Geschichte wirft zudem ein Licht auf das Lebensschicksal Tausender Kinder, die einen ähnlichen Seelenschmerz erlitten haben. So fügt der Autor immer wieder Nachrichtenmeldungen von Kinderaussetzungen und -vernachlässigungen in seine Erinnerungen ein. Den 430 Seiten kann man sich kaum entziehen, denn sie haben eine Botschaft, die uns zum Nachdenken und zum Innehalten zwingt.

Titelbild

Peter Wawerzinek: Rabenliebe.
Galiani Verlag, Berlin 2010.
432 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783869710204

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch