Sarrazins Kampf gegen den Terror der „Gutmenschen“

Müssen die „Roten Linien“ der Meinungs-Machtkartelle überschritten werden?

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Ein Motiv in der teilweise hysterischen Diskussion über das gedruckte Machwerk des ehemaligen Bundesbankers Thilo Sarrazin scheint zu sein, dass er sich selbst in der Rolle des tapferen Einen gegen die Heerscharen der „gutmenschelnden Liberalen“ sieht und von vielen so gesehen wird. Seit geraumer Zeit vergießen gerade die Herren in den Nadelstreifenanzügen Hohn und Spott über die „Gutmenschen“. „Kleine“ Professoren der Wirtschaftswissenschaften an „irgendwelchen Provinzuniversitäten“ wurden damit verspottet, ebenso wie engagierte Analytiker in den zahlreichen wirtschaftskritischen Organisationen. Noch vor Monaten grinsten die Frankfurter Börsianer über die Aktivisten von Attac und seinem Jugendnetzwerk Noya, die sich dort unter dem Motto „Das Casino schließen!“ zu einem fantasievollen Protest versammelt hatten. Den vor allem jungen Menschen warfen die Angestellten aus den Bankentürmen vor, sie seien naiv, realitätsfern und ahnungslos. Die politische Kontrolle der Finanzmärkte zu fordern, belege nichts weiter als ihr nutzloses „Gutmenschentum“.

Und nun spottet einer der ehemaligen obersten deutschen Banker auf sämtlichen medialen Resonanzkörpern über die „Gutmenschen“, die alles nur schlimmer machen. Wie konnte dieser Begriff zu einer so abwertend gemeinten Bezeichnung werden? Ein „guter Mensch“ sein zu wollen, der Verantwortung für sich und seine soziale und natürliche Umwelt zu übernehmen versucht, sollte doch eigentlich nichts Schlechtes sein.

„Gutmensch“ als Denunziation

Seit etwa zehn Jahren wird übertriebener Altruismus, Politische Korrektheit, Betroffenheitssprache, Gesinnungskitsch, Alarmismus, Fremdenfreundlichkeit und ähnliches als Vorwurf jenen Menschen gegenüber formuliert, die immer noch daran glauben, dass bessere und gerechtere Gesellschaftsverhältnisse als die gegenwärtigen machbar sind. Ist zynischer Realitätssinn tatsächlich einem angeblich unrealistisch hohen moralischen Anspruch überlegen? In der politischen Rhetorik wird das Etikett „Gutmensch“ schon geraume Zeit als Kampfbegriff verwendet. Dieser Neologismus leitet sich von „guter Mensch“ ab, begeht dabei jedoch den semantischen Trick, die positive Bedeutung ins Gegenteil zu verkehren.

Benutzer des Begriffs unterstellen Personen mit moralischer Grundhaltung ein fehlgeleitetes, zumindest zweifelhaftes Verhalten. Der Begriff bezieht sich immer auf den vermeintlich so entscheidenden Unterschied zwischen „gut gemeint“ und „gut gemacht“. Ein Gutmensch hat also zwar gute Absichten, möchte auch bestimmte Probleme lösen oder die Welt verbessern. Aber seine Handlungen oder die dabei verwendeten Mittel gelten in den Augen jener, die den Begriff „Gutmensch“ taktisch einsetzen, als zweifelhaft, meist wegen vermeintlich einseitiger Betrachtung eines Problems, mangelnder Objektivität oder Unkenntnis der Faktenlage. Seit Mitte der 1990er-Jahre wird mit dem Begriff „Gutmensch“ auch das weite Feld der „Politischen Korrektheit“ verbunden, deren Wirkung dann bis hin zum angeblichen „Terror der Gutmenschen“ führen könne. „Man kann ja schon gar nicht mehr sagen, was man sagen will“, lautet dann die gespielte oder tatsächliche Empörung. Auch Sarrazin meint das, wenn er sagt: „Ich habe darauf verzichtet, heikel erscheinende Sachverhalte mit Wortgirlanden zu umkränzen.“

Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ (GfdS) nennt als Erstbeleg für den Begriff „Gutmensch“ die Bezeichnung für den damaligen Gewerkschaftsführer Franz Steinkühler, der 1958 in der US-amerikanischen Zeitschrift „Forbes“ damit charakterisiert worden sei. Ohne einen Quellenbeleg anzugeben, behauptete der „Deutsche Journalisten-Verband“ (DJV) vor einiger Zeit, das Wort „Gutmensch“ sei als politischer Kampfbegriff bereits 1941 benutzt worden, strittig sei lediglich, ob der Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels persönlich das Wort geprägt habe, oder ob es ein Redakteur der antisemitischen Wochenschrift „Der Stürmer“ gewesen sei. Alternativ zu dieser angeblichen NS-Spur wird auch behauptet, die Bezeichnung „Gutmensch“ sei als ein interner Witz der „Anti-68er“ entstanden, im Umkreis der Feuilletonisten Matthias Horx und Klaus Bittermann. Bittermann, Herausgeber eines sprachkritischen „Wörterbuchs des Gutmenschen“ aus dem Jahr 1994, wandte sich darin gegen „Betroffenheitsjargon“ und „Gesinnungskitsch“. Ein Gutmensch, so Bittermann, gleiche einem „Besorgten“: „Die Besorgten [sehen sich] als geduldige, aber empfindsame Menschen. Sie verspüren innerlich intensiv, was von außen her auf sie einwirkt. Aber zugleich kümmern sie sich aktiv um das Leben außerhalb. Häufiger als der Durchschnitt machen sie sich Sorgen um andere Menschen. […] Wichtig ist ihnen aber auch ihre Innenwelt.“ Seit 1994 notiert die GfdS mit ihren Wortbelegen, dass diese Bezeichnung zunehmend als „Schmähwort“, als „Schlagwort zur Stigmatisierung des Protests, zur Diffamierung des moralischen Arguments“ zu charakterisieren sei. Und häufig wird dann auch Friedrich Nietzsche zitiert, der in seiner „Genealogie der Moral“ von 1887 geschrieben hatte: „Diese ‚guten Menschen‘ – sie sind allesamt jetzt in Grund und Boden vermoralisiert und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zuschanden gemacht.“

Auch von Menschen, die weder Nietzsche, noch die „Titanic“ oder „Den Stürmer“ lesen, wird der Begriff „Gutmensch“ häufig als Teil des alltagssprachlichen Geredes benutzt. Zumeist mit ironischem Klang werden damit Menschen bezeichnet, die sich nur angeblich für moralische Ziele einsetzen, denen jedoch Realitätsverlust unterstellt wird, oder deren uneigennütziger Einsatz für ein moralisch gut angesehenes Ziel als übertrieben oder naiv abgewertet werden soll. Kürzlich war erneut zu lesen, dass Menschen, die sich in „Ehrenämtern“ engagieren, also im Elternbeirat, in der Kirchengemeinde, im Sportverein, meist gebildet und beruflich erfolgreich sind und gut verdienen. Alles Menschen, die als „Gutmenschen“ nicht verstehen, worum es „wirklich“ geht?

Auch die Italiener meinen Ähnliches, wenn sie mit einem Augenzwinkern vom „buonismo“ sprechen. Silvio Berlusconi ist für sein süffisantes Grinsen bekannt geworden, wenn er diese Bezeichnung verwendet, wie sie überhaupt ein Erkennungszeichen im konservativen, rechtspopulistischen und rechtsextremen Milieu geworden zu sein scheint. Auch sich als gesellschaftskritisch verstehende Akteure üben mitunter ironische Kritik an vermeintlichen Mitstreitern, die die Gesellschaft kritisieren, ohne sich selbst den vertretenen Ansprüchen zu stellen. Diese Kritik meint, dass politische Äußerungen, die keine Konsequenzen verlangen, dem Sprecher allein dazu dienen, in einem „guten Licht“ dazustehen. Als ein besonderes Beispiel von „Gutmensch“ gilt der gutmeinende „Fremdenfreund“, der aufgrund seiner Überzeugungen behauptet, dass alle Menschen gleiche Rechte haben, auch die ihm Fremden. Und der sich dann wundert, wenn er von einigen seiner „Freunde“ zusammengeschlagen wird. Dann grinsen jene, die schon immer was gegen die „Gutmenschen“ hatten.

Insgesamt wird man sagen können, dass die politische Rechte den Begriff „Gutmensch“ dazu benutzt, um den politischen Gegner zu diskreditieren: Indem sie „linke“ Ideale als „Gutmenschentum“ abwertet, unterstreicht sie den Anspruch, selbst realistisch und auf der Sachebene zu argumentieren. So erhob etwa Michael Klonovsky, Chef vom Dienst bei „Focus“, den Vorwurf: „Die Tatsache, dass es unproduktive Unterschicht, Sozialschmarotzer, ja dass es Plebs gibt, findet der Gutmensch so skandalös, dass er jeden zum Schlechtmenschen erklärt, der darauf hinweist. Wenn es sich obendrein noch um Migranten handelt, kommt der hierzulande so beliebte Rassismus- und Ausländerfeindlichkeitsvorwurf mit derselben Sicherheit zur Anwendung, wie dessen Handhaber fernab von sozialen Brennpunkten siedeln.“ Die so Angegriffenen sehen darin einen rhetorischen Kunstgriff, der ihre Bestrebungen nach Humanität, Solidarität und sozialer Gerechtigkeit ins Lächerliche ziehen soll. Die Einordnung des Gegenübers als „Gutmensch“ ziehe die Diskussion auf eine persönliche und emotionale Ebene, um so einer inhaltlichen Auseinandersetzung auszuweichen. Sehr häufig wird der Begriff als aggressive Abwehrstrategie gegenüber Kritik an den eigenen Positionen verwendet. Potenzielle Kritik an (tatsächlichen oder vermeintlichen) rassistischen, homophoben, antisemitischen (und zunehmend auch antiislamischen) oder sexistischen Tabuverletzungen soll durch die Abwertung der Person mittels dieser rhetorischen Strategie entkräftet werden.

Endlich kann „man“ wieder „die Wahrheit“ äußern

Wer die aktuellen Leserbrief-Schlachten in Sachen Sarrazin verfolgt – von den Blogs ganz zu schweigen – erkennt, wie viele Menschen nur darauf gewartet zu haben scheinen, endlich die „politisch inkorrekte Wahrheit“ hinausschreien zu können. Endlich darf „man“ wieder „die Wahrheit“ sagen und muss sich nicht nur auf den geschützten Stammtisch beschränken. Doch es geht schon lange nicht mehr um „Thilo Normalbürger“ Sarrazin, es geht um politische Machtfragen, die gerade durch die Verwendung des Begriffes „Gutmensch“ eine moralisch polarisierende Form erhalten, die dazu geeignet sein soll, die Achtung vor dem politischen Gegner zu mindern und ihn zu diskreditieren. In der politischen Rhetorik gibt es Strategien, politische Fragen auf eine moralische Ebene zu transponieren und dort zu verhandeln. Fremdzuschreibungen des politischen Gegners durch Stigmatisierungen wie „politisch korrekt“ oder „Gutmensch“ moralisieren die Kommunikation. Damit ist die Position des politischen Gegners diskreditiert, und er ist gezwungen, sich auf die eine oder andere Seite zu stellen, wenn er sein Ansehen nicht (weiter) verlieren will. Besonders offensichtlich wird diese Strategie, wo es tatsächliche oder auch nur behauptete Tabus gibt. Die Kunst der Rhetorik besteht dann darin, mit stigmatisierenden Begriffen wie „Gutmensch“ oder „Moralkeule“, den politischen Gegner in der Auseinandersetzung in Situationen zu bringen, in denen die Alternative lautet: „meine Ansicht oder die tabuisierte“. Diese Rhetorik erweist sich oft als sehr wirkungsvoll, da hier nur unter schwierigen Umständen über Sachfragen analytisch gesprochen werden kann. Es wird nun wieder eine Weile dauern, bis das wieder möglich ist. Die Gegner der „Gutmenschen“ lassen derzeit zuhauf ihre Masken fallen und führen das Bild von Sarrazin als ihrem Retter mit sich. Ihn nun auch noch zum verfolgten Märtyrer gemacht zu haben, fehlte gerade noch, um das Joch der Gutmenschen endlich abzuschütteln. Es mangelt nicht an Fantasie, was nun wieder „offen“ gesagt werden kann.

Die „roten Linien“

Einer der Herausgeber der „F.A.Z.“, der Politikwissenschaftler Berthold Kohler, markierte im Nachklapp zur Causa Sarrazin seine grundsätzliche Kritik, wie wenig weit in Deutschland die Meinungsfreiheit reiche. Er griff die Aussage der Bundeskanzlerin auf, nach der „das Thema Sarrazin“ gerade kein Thema der Gefährdung der Meinungsfreiheit sei, sondern allein die Frage berühre, „ob und gegebenenfalls welche Folgen zum Beispiel ein Buch für einen Autor in einer besonders wichtigen öffentlich-rechtlichen Institution haben kann oder nicht.“ Dieser kryptische Satz sollte heißen: Jeder kann in Deutschland seine Meinung äußern, nur Bundesbankvorstände nicht. Wer solche „überhaupt nicht hilfreichen“ Bücher schreibt und dann auch noch durch sämtliche Medien tingelt, muss sich auf gesellschaftliche, zumindest staatsoffizielle Ächtung gefasst machen. Diese exekutierenden „Scharfrichter“ der Meinungskontrolle hatte Kohler eindeutig ausgemacht, es sind jene, die jahrzehntelang „die Grenzen des Meinungskorridors“ bestimmt haben: „Die Linke in Politik und Publizistik zog die roten Linien, von der Ausländerpolitik bis zur Vergangenheitsbewältigung.“ Hinter diesem „autoritären Gebaren der Antiautoritären“ zeige sich ein tiefes Misstrauen dem Urteilsvermögen „des Volkes“ gegenüber. Kohler plädierte dafür, dass auch falsche, verwerfliche und abwertende Äußerungen „bis an die Grenze anderer, von der Verfassung garantierter Rechtsgüter“ das Recht auf Meinungsfreiheit für sich in Anspruch nehmen können. Es nutze der Demokratie nicht, wenn der Raum der Meinungen verkleinert werde.

Es passte gut zu dieser angezettelten Debatte, dass nur fünf Tage nach diesem Kommentar eines der führenden Meinungsmacher in Deutschland im gleichen Blatt ein Bericht von Jürg Altwegg darüber veröffentlicht wurde, dass Noam Chomsky, dieser „linksradikale Linguist“, sich derzeit „unerschrocken“ mit den Kreisen „fraternisiert“, die sich zur Auschwitz-Lüge bekennen. Chomsky erklärt sein Engagement für Robert Faurisson, der die Gaskammern für eine Erfindung des internationalen Zionismus hält, und für Vincent Reynouard, der eine revisionistische Darstellung der „Wahrheit von Oradour“ publiziert hat – jenem Massaker vom Juni 1944, bei dem während eines Einsatzes der 3. Kompanie des I. Bataillons des zur SS-Panzer-Division „Das Reich“ gehörenden Panzergrenadier-Regiments „Der Führer“ im Zuge befohlener Partisanenbekämpfung der ganze Ort zerstört und fast alle Einwohner ermordet wurden – und der seit Wochen deswegen inhaftiert ist, als Kampf für die Meinungsfreiheit, die im Sinne Voltaires auch für Andersdenkende zu gelten habe.

Beim Antisemitismus hört die Meinungsfreiheit auf, proklamierte einst Jean-Paul Sartre. Sind wir also nun so weit, dass bisher geachtete Grenzen der Meinungsfreiheit vollkommen niedergerissen werden sollen? Viele Leserbriefe in der „F.A.Z.“ zum Beitrag Kohlers über „Die roten Linien“ plädieren dafür, dass die zensierende Macht des „Wächterrats“ über die Meinungen von „Bürgern“ auf ihre Übereinstimmung mit den Prinzipien der Political Correctness endlich gebrochen werden muss. Selbst der von mir geschätzte Kollege, der emeritierte Politikwissenschaftler der Universität Mannheim, Peter Graf Kielmansegg, plädierte für die Brechung der „Herrschaft der Meinungskartelle“: Die Errichtung von „Tabuzonen“, in die selbst wissenschaftliche Diskurse nicht ungestraft eindringen könnten, kosteten ihren Preis, den nicht nur die Stigmatisierten – wie aktuell Sarrazin – zahlten, sondern auch „die Gesellschaft im Ganzen“ zu tragen hätten: „Denn man kann sich Problemen nicht stellen, sie schon gar nicht bewältigen, die wahrzunehmen man sich untersagt.“

Muss, soll also nun „wieder“, „endlich“ jeder öffentlich sagen können, was ihm so in den Sinn kommt? Der Schutz der Meinungsfreiheit in den Vereinigten Staaten beispielsweise geht traditionell sehr weit, das macht schon seine Verankerung im ersten Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung deutlich, was dazu führt, dass amerikanische Gerichte beispielsweise Nazi-Propaganda und Nazi-Märsche durch überwiegend von Juden bewohnte Gebiete mit Hinweis auf die Meinungsfreiheit erlaubt haben. Traditionell vertraut man in Amerika darauf, dass sich im öffentlichen Diskurs die „vernünftigen Ideen“ durchsetzen.

Im deutschen Grundgesetz steht die Menschenwürde an oberster Stelle, die Meinungsfreiheit ist erst in Artikel 5 geregelt, und auch sogleich eingeschränkt durch die „Vorschriften der allgemeinen Gesetze“, den Jugendschutz sowie das „Recht der persönlichen Ehre“. Ich kann nicht erkennen, warum sich daran etwas ändern sollte. Wird „Biedermann und die Brandstifter“, jenes Drama von Max Frisch über den Bürger Biedermann, der die beiden Brandstifter in seinem Haus aus fehlgeleiteter Toleranz aufnimmt, obwohl sie von Anfang an erkennen lassen, dass sie es anzünden werden, eigentlich noch im Schulunterricht behandelt? Sein Untertitel lautet „Ein Lehrstück ohne Lehre“. Lasen nur naive „Gutmenschen“ dieses Buch und glaubten, sie müssten eine Lehre daraus ziehen?