Neue argentinische Stimmen

Über Fabián Casas „Lob der Trägheit gefolgt von Die Panikveteranen“ und Félix Bruzzone „76“

Von Ulrike WeymannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Weymann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den 21jährigen ehemaligen Philosophiestudenten Andrés Stella, Ich-Erzähler von Fabián Casas Erzählung „Lob der Trägheit“, lernen wir als einen verbummelten Nichtstuer und Verliertypen kennen, der einen Großteil seiner Zeit im Bett verbringt: „Es ist sechs Uhr abends, und es wird schon dunkel. Ich liege in meinem Zimmer und höre Abbey Road von den Beatles. Ich höre vor allem die B-Seite. Die mag ich. Sie besteht aus einer Handvoll Songs, die ineinander übergehen, oder vielmehr aus einer Anfangsmelodie, die sich nach und nach verändert. Die Beatles, die waren wirklich groß. Das kann ich sagen. Es gibt nicht viel anderes, das ich mit Sicherheit sagen kann. Ich kann allenfalls ein paar Dinge aufschreiben, zitieren, Zeitpunkte festhalten“, so beginnt die knapp 90seitige Erzählung. Sie schlägt damit nicht nur mit den ersten Sätzen schon den die Geschichte auszeichnenden lakonischen Erzählton an, sondern verweist gleich zu Anfang darauf, dass auch auf den folgenden Seiten nicht allzu viel geschehen wird. „Ich esse, scheiße, schlafe; ich bin eine Biologie ohne Ziel“, heißt es an anderer Stelle.

Anders als sein Bruder, der einem Brotberuf nachgeht – welchen erfährt der Leser nicht, denn die beiden Brüder tauschen lediglich oberflächliche Phrasen aus – und einen Tagesrhythmus wie ein Uhrwerk hat, bestimmen den trägen Tagesablauf von Andrés lediglich seine Körperbedürfnisse, sein Suchtverhalten (nicht nur bezüglich Drogen, sondern vor allem hinsichtlich der Literatur und der Musik) sowie gelegentliche Treffen mit seinen Freunden Roli und Picasso in der Bar „Astral“. Wenn der Protagonist nicht gerade bekifft durch das nächtliche Buenos Aires läuft, oder den Vormittag damit verbringt, sich davon zu erholen, flüchtet er sich ins Kino, in die Rockmusik – Frank Zappa, Led Zeppelin, Luis Spinetta werden als Referenzen genannt – oder in Bücher. Beide Lieblingsautoren des ‚Helden‘ – Louis-Ferdinand Céline und Roberto Arlt – haben Coming-of-age Romane verfasst und können in gewisser Weise auch als Vorbilder für das „Lob der Trägheit“ gelten. Wie jedoch bereits Casas’ Titel impliziert, wird das monotone Leben Andrés und seiner Freunde weder moralisierend noch als destruktiv (wie in Célines „Reise ans Ende der Nacht“), sondern in einem humorvoll-ironischen Ton geschildert.

Subtil überlagern die Alltagsbeschreibungen die eigentliche Problematik des Protagonisten: Ein nach dem Tod der Mutter völlig zerrüttetes Familienleben und die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit eines Lebens in dem Bonarenser Arbeiterviertel Boedo öffnen sich hinter den Oberflächenbeschreibungen als Abgründe, die den Alltag als doppelbödig erweisen. Als die beiden Freunde beginnen, ihren Lebensunterhalt als Drogendealer zu verdienen, gerät das Leben auch sichtbar aus den Fugen. Weil der bolivianische Mittelsmann auffliegt, müssen sie diese Nebentätigkeit zwar schnell wieder einstellen, zahlen aber dennoch einen hohen Preis, der sie beinahe das Leben kostet. Dieser finale Kampf wird allerdings in eben dem lapidaren Ton berichtet, der das Buch insgesamt auszeichnet: „Roli und der Todesfährmann Charon suchten die Entscheidung im Elfmeterschießen“. Ohne anklagenden Fatalismus zeichnet Casas das Bild einer desillusionierten Jugend, die außer ihrem popkulturellen Kontext weder Inhalte noch eine Lebensperspektive hat.

War die bildhafte Sprache schon für die erste Erzählung prägend, so gilt diese Feststellung erst recht für die zweite und wesentlich kürzere Erzählung. Sie handelt von der Familiengeschichte des Erzählers, davon, „wie jeder Einzelne von uns sich allmählich und unaufhaltsam in einen Panikveteranen verwandelte“ und assoziiert stellenweise den magischen Realismus eines Gabriel Garcia Márquez. Der Erzähler erinnert sich an seine große Familie, die – mitsamt den unzähligen Tanten und Onkels – in der geräumigen Küche saß und das Familienleben diskutierte, das sich dem kindlichen Zuhörer als einen eigenständigen, von der profanen und häufig unverständlichen Realität abgehobenen Kosmos präsentiert: „Ich könnte mein Leben lang die Geschichten erzählen, die ich in jener höllischen Küche hörte. Aus der Küche gehen zu müssen, um etwas anderes zu erledigen, bedeutete für mich, eine Welt zu verlassen, in der alles, was geschah, seine Notwendigkeit hatte.“ Die Familie ist Inspirationsquelle für viele Anekdoten, etwa die über den treulosen Onkel Raimundo, dessen Potenz mittels eines Hexenzaubers in Zaum gehalten werden soll: „Um die Untreue meines Onkels unter Kontrolle zu bringen, suchte meine Tante den Rat einer Hexe. Die sagte zu ihr, sie solle in die Suppe und den Wein ein paar Tropfen Menstruationsblut geben. Aber mein Onkel stieg weiter den Röcken nach.“ Die Hexe versucht es mit einem weiteren Trick und erbittet eine Unterhose des Schürzenjägers, die verknotet wird: „Der wird nicht mal mehr mit Gottes Hilfe einen hochkriegen“, meint die Hexe, womit sie auch Recht behalten sollte. Aber unter einer solch generalisierten Impotenz hat nun auch die Tante selbst zu leiden und bittet die Zauberin: „Dass sie den Rey Mundo, den König der Welt, befreite.“ Mit großer Leichtigkeit wird hier die Geschichte einer Familie entfaltet, wohingegen die politischen Ereignisse der Zeit und die brutale Geschichte Argentiniens nicht thematisiert wird. Sie ist höchstens als Hintergrundrauschen in dem Lebensgefühl der porträtierten Jugend wahrzunehmen.

Ganz anders ist Félix Bruzzones Sammlung von Erzählungen mit dem Titel „76“ zu verorten. Die Ziffer gibt das Geburtsjahr des Autors und gleichzeitig den Beginn der von 1976 bis 1983 dauernden Diktatur an, die dreißigtausend Opfer kostete. Im Falle des Autors verschmelzen politisches und privates Leben, denn Bruzzones Eltern gehören zu den desaparecidos, den spurlos Verschwundenen. Seine Mutter wurde zum letzten Mal auf dem Campo de Mayo gesehen. Dort unterhielt die argentinische Luftwaffe vier geheime Folterzentren, in denen die Verhafteten gequält, gedemütigt und unter Drogen gesetzt wurden, um nach diesem Martyrium ausgeflogen und über dem Rio de la Plata oder dem Atlantik aus dem Flugzeug geworfen zu werden. Die Militärs ließen die Leichen der Opfer verschwinden und verschwiegen jegliche Angaben über deren Schicksal, um damit die Spur ihrer Verbrechen zu verwischen. Den inhaftierten Müttern des Campo de Mayo wurden im „Hospital Militar“ die Neugeborenen abgenommen, um sie zur Adoption – häufig für die Familien der Täter – freizugeben. Welche Auswirkungen diese bis heute nicht aufgeklärten Verbrechen auf die Nachkommen der Ermordeten haben, davon erzählen die in „76“ versammelten acht Erzählungen.

In „Unimog“ etwa kauft Mota mit der staatlichen Abfindung für den Tod des Vaters einen gebrauchten Lastkraftwagen dieses Typs, anstatt das Geld in die Fertigstellung seines Hauses und damit in seine Zukunft zu investieren. Als verdichtetes Erinnerungsbild repräsentiert der Unimog das Andenken an den Vater, der als Mitglied einer militärischen Guerillaeinheit gegen die Militärdiktatur kämpfe. In Córdoba war er beim Überfall auf das Arsenal des Fernmeldebataillons 141 dabei und versuchte in einem Unimog zu flüchten. Hier endet das Wissen des Protagonisten über das Ende seines Vaters. Nach dem Kauf des Unimogs macht er sich in diesem Wagen auf den Weg nach Córdoba, „zum Bild seines Vaters, das nun vor ihm stand wie ein großes Glas Bonbons“. Die Reise scheitert zwar, aber man gewinnt den Eindruck, als ob sich Moto aufgrund dieser letzten Anstrengung zukünftig mit dem fehlenden Wissen über das Schicksal des Vaters abfinden und nun sein eigenes Leben leben kann.

Beeindruckend ist auch die Geschichte „Die Ordnung der Dinge“, in welcher der Protagonist Primo Nachforschungen über den Verbleib seiner Mutter anstellt. Die puzzlehafte Suche nach den einzelnen Details dreht sich dabei wie in einem surrealistischen Alptraum immer wieder im Kreis. Primo führt ein Adress- und Telefonbuch mit den Nummern derer, die damit zu tun haben. Er sammelt Fotos, Belege und Beweise, wo sich seine Mutter wann aufgehalten hat, um den Ereignissen letztendlich doch nicht näher zu kommen. Dieser Umstand ist nicht nur auf äußere Faktoren zurückzuführen, sondern auch den eigenen Verdrängungsmechanismen beim Versuch der Bewältigung des Unfassbaren zuzuschreiben. Nachdem der Leser den Protagonisten eine zeitlang bei seinen erfolglosen Recherchen begleitet hat, endet die Geschichte mit dem Verlust des akribisch geführten Adressbuchs. Aber da die Suche sowieso nie aufhören wird, ist auch das letztendlich nicht das Schlimmste: „Irgendwann, dachte ich, kommt das Adressbuch wieder zum Vorschein. Und wenn nicht, dann ein anderes, oder sonst irgendein altes Adressbuch, haufenweise Adressbücher, und alle voller neuer Hinweise.“

Von Verdrängung handelt „Susana ist in Uruguay“, in der sich eine Frau das Verschwinden ihrer Tochter schön redet, um weiterhin ihren banalen Alltag zwischen der Sommerfrische am Meer und dem gesellschaftlichen Leben in Buenos Aires aufrechterhalten zu können. Bis auf die letzte, durch den Titel „2073“ explizit als halluzinatorische Science-Fiction-Prosa ausgewiesene Geschichte spielen die Erzählungen in der Gegenwart und erzählen – wie Casas Erzählungen auch – vom argentinischen Alltag. Aber viel stärker als bei jenem, spielt bei Bruzzone die traumatische und deswegen nicht zu bewältigende Vergangenheit eine Rolle und bildet den Hintergrund für das meist unspektakuläre Leben der Hinterbliebenen. Der Autor erzählt, wie die Argentinierinnen und Argentinier gegenwärtig mit ihren schmerzlichen Erinnerungen, der Suche nach Identität, mit ihrer Verantwortung für die Aufklärung der Verbrechen des Dirty War und ihrem Schweigen darüber umgehen.

Beide Autoren sind bedeutende Vertreter der jüngeren argentinischen Literatur und es ist zu begrüßen, dass anlässlich der Buchmesse ihre Prosabände nun auch in deutscher Übersetzung erhältlich sind. Der 1965 in Buenos Aires geborene Casas trat hierzulande bereits als Lyriker in Erscheinung. Eine Auswahl seiner Gedichte erschien letztes Jahr bei luxbooks in der von Timo Berger herausgegebenen Reihe luxbooks.latin. Berger ist auch für die gelungene Übersetzung des hier besprochenen Prosabandes verantwortlich. Für sein poetisches Werk erhielt Casas 2007 den renommierten Anna-Seghers-Preis. Der jüngere Bruzzone ist ebenfalls bereits zu den wichtigsten argentinischen Schriftstellern der Gegenwart zu zählen. Der gerade bei Berenberg in der Übersetzung von Markus Jakob und in einer schön gestalteten, bibliophilen Ausgabe im Schreibheft-Format erschienene Erzählband „76“, kam in Südamerika bereits 2007 auf den Markt. Mittlerweile hat der Autor auch einen Roman mit dem Titel „Los Topos“ vorgelegt, von dem man hoffen kann, dass auch dieser bald einen Verlag findet.

Titelbild

Félix Bruzzone: 76.
Aus dem Spanischen von Markus Jakob.
Berenberg Verlag, Berlin 2010.
143 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783937834399

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Titelbild

Fabián Casas: Lob der Trägheit gefolgt von Die Panikveteranen. Zwei Erzählungen.
Übersetzt aus dem argentinischen Spanisch von Timo Berger.
Rotbuch Verlag, Berlin 2010.
123 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783867891097

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