Sind wir alle Künstler?

Gabriele Feulner zum „Mythos Künstler“

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der „Mythos Künstler“ gehört zum Kernbestand deutschsprachiger Literatur und der sich ihr widmenden Wissenschaft. Die europäischen Nachbarphilologien stehen dem Sujet und seinem Verklärungspotential etwas nüchterner gegenüber, haben vielfach nicht einmal einen Namen für das, was hierzulande als so genannte „Künstlerliteratur“ bei jedem Germanisten sogleich eine Reihe von kanonischen Texten aufruft. Zahlreiche solcher Ur-Texte wird der Interessierte in Gabriele Feulners Studie „Mythos Künstler“ (zugleich Dissertation, Bonn 2008) besprochen finden, wenngleich die Autorin nur einen sehr kurzen Blick auf die Anfänge der Tradition in Sturm-und-Drang und Romantik wirft, vielmehr durch die Art ihrer Schwerpunktsetzung Thomas Mann als den Urvater von Künstlernovelle („Tonio Kröger“), Künstlerroman („Doktor Faustus“) und eben jener „Konstruktionen“ der Künstlerthematik würdigt, die deren „Destruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts“ vorausgehen. Das ist für die Entwicklungen im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert, denen das eigentliche Interesse der Arbeit gilt, sicher nicht falsch, nimmt der Verfasserin aber die Möglichkeit eines furiosen Auftakts. Vielmehr bieten die ersten 130 Seiten, von denen nach einem knappen Forschungsüberblick 90 Seiten, das heißt 20 Prozent des gesamten Buches, Thomas Mann gelten, nichts Neues, weder in der Substanz noch in der Akzentuierung. Das verwundert, wie gesagt, nicht, und spricht auch nicht gegen Feulner, wirft allerdings die Frage auf, inwiefern Pflichtübungen einer Qualifikationsarbeit Eingang in die Buchpublikation der Dissertation finden müssen.

Als Komplement und Antipode zu Manns Künstlerkonzeption werden Thomas Bernhards „Radikalisierung und Dramatisierung“ thematisiert, auf ebenfalls 90 Seiten, und mit kaum besseren Chancen für die Verfasserin, sich aus der qualitativ und quantitativ produktiven Bernhard-Forschung heraus und endlich frei zu schreiben. Dass sie das will und kann, erweisen die folgenden Kapitel: das Peter Handke gewidmete, das vor dem Hintergrund des zuvor Dargelegten für Handke Charakteristisches neu perspektiviert, und mehr noch die Blicke auf Rainald Goetz und Stuckrad-Barre, Martin Walsers umstrittene „Diskurs Spiele“ (in „Tod eines Kritikers“) und die sehr viel konventionelleren von Ulrich Treichel („Tristanakkord“) und Daniel Kehlmanns „Ich und Kaminski“, mit dem sich in gewisser Weise der Kreis schließt.

Mit Pierre Bourdieu zeichnet Feulner Verschiebungen im Verständnis des Kunstwerks von Autonomie- zu Heteronomie-Positionen nach und verfolgt die Selbstpräsentation der Autoren als Künstler, die von Mann über Bernhard, Handke (Princeton) und Goetz (Klagenfurt) zunehmend durch Provokation und literarische Skandale bestimmt ist bis hin zu Stuckrad-Barres „neuer, multimedialer Selbstchoreographie“, die nahezu an die Stelle eines Werks im traditionellen Sinne tritt.

Während Handke einem letztlich rückwärtsgewandten Konzept von Kunst und Künstlertum anhänge, das sich durch Weltabgewandtheit und „auratische[], exklusive[] und tendenziell geschlossene[] künstlerische[] Räume“ auszeichne, stehe ihm mit Goetz ein Vertreter der Entauratisierung und „Entsublimierung im Sinne Bourdieus“ gegenüber. Goetz leite geradezu einen „Paradigmenwechsel innerhalb der Künstler- und Werkdiskurse der deutschsprachigen Literatur“ ein. Dazu trügen wesentlich Idee und Praxis der „Vernetzung“ von Kunst bei: als intermediale Verlinkung der Künste und Medien sowie als Transgression der Dichotomie von Kunst und Leben; im Gegensatz zu Handkes kulturpessimistischem Mediendiskurs zelebriere Goetz „euphorische Medienaffirmation“.

Walsers „Tod eines Kritikers“ mit seinem Rekurs auf Elemente „charismatischer Schöpferideologien wie Melancholie, Außenseitertum, Krankheit und Verbrechen“ liest Feulner als „bewusst anachronistische Selbstbehauptung und Selbststilisierung“ angesichts dieser zunehmenden und als bedrohlich empfundenen Medialisierung des Literaturbetriebs. Gelte seine Satire dem Betrieb, so unterziehe Treichel in „Tristanakkord“ den Künstler selbst dem unerbittlichen Blick und der komischen Überzeichnung.

Die Stärken des Buches liegen in seiner kaleisdoskopischen Wirkung und in der Aufarbeitung jüngerer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte vor dem Hintergrund einer übermächtig scheinenden Tradition. Da die einzelnen Kapitel sich auch isoliert lesen lassen, sind sie an die jeweilige Autoren-Philologie unmittelbar anschlussfähig. Die Einheit des Buches stiften intertextuelle Bezüge und zum Teil explizite Referenzen zwischen den einzelnen Autoren, andererseits metaphorische und konzeptionelle Entsprechungen im Hinblick auf Selbstverständnis und Außendarstellung des Künstlers, seiner Arbeit und eines im Wandel befindlichen Werkkonzepts. Solche Entwicklungen verfolgt Feulner im Buch stringent und resümiert sie im Abschlusskapitel pointiert.

Problematisch gerät zuweilen die Verquickung von Positionen und Selbststilisierungen der Autor-Person und ihrer Figuren, was zum Teil durch den Gegenstand selbst und methodisch durch die Materialgrundlage bedingt ist, insofern Selbstexplikationen außerhalb fiktionaler Texte als Teil des Werks oder eben als dessen Meta-Kommentare aufgefasst werden. Das Ergebnis: „Von den Künstlerkonzeptionen Thomas Manns, Thomas Bernhards […] hebt sich Rainald Goetz insofern ab, als sein Tagebuch den Schriftsteller als Menschen zeigt, der, ‚wie alle anderen‘ alltäglichen und banalen Tätigkeiten nachgeht, der ökonomische Interessen verfolgt und sich über Radio, Zeitung, Fernsehen und Internet mit dem tagespolitischen und gesellschaftlichen Geschehen auseinandersetzt“, verdankt sich einer solchen Grenzverwischung. Feulner stellt Goetz’ „Tagebuch“ fiktionalen Texten von Mann und Bernhard gegenüber, um auf einen Bruch hinweisen zu können; bliebe sie beim Vergleich im Paradigma der Referenztexte, träten eher Gemeinsamkeiten zu Tage, denn bekanntlich beweisen Mann und Bernhard in ihren Diarien Sinn fürs Triviale respektive Ökonomische. Insofern wäre ein Vergleich schlüssiger und seine Basis homogener, würde Feulner Goetz’ „Abfall für alle“ als fiktionalen Text werten – wie es zumindest für die Buchversion der Aufzeichnungen vorgeschlagen wurde, was Feulner an anderer Stelle dazu führt, den Text als „Künstlerroman“ zu würdigen. Das Entauratisierungsargument, das hier belegt werden soll, wird aber umso schlagkräftiger, je vermeintlich ‚authentischer‘ sein Kontext ist, weswegen Feulner vermutlich am Terminus „Tagebuch“ festgehalten hat.

Insgesamt ist das Buch lesbar und verständlich, gleichwohl will ein rechter Funke nicht überspringen, und das liegt nur zum Teil am Spannungsverhältnis von künstlerischem Gegenstand und wissenschaftlicher Methode, denn die auf Nietzsche gestützte These von der anhaltenden Aktualität und Faszination verklärender Künstler-Mythen, in die die Studie mündet, steht in einem gewissen Widerspruch zum Alltagsbefund der sprichwörtlichen Proseminarstudenten; diese vermag der „Mythos Künstler“ mehrheitlich nicht mehr zu faszinieren, kaum noch zu interessieren. Zum einen hat medial der „Star“ den Künstler abgelöst, und auch die Scheidung von Kunst und Leben erweist sich lebensweltlich als überwunden oder in ‚prekären‘ Lebensverhältnissen ‚aufgehoben‘, auch solchen jenseits von im engeren Sinne kreativen Berufen. Zum anderen, und das ist wesentlicher, hat das Paradigma des Schöpferischen an Wirkmacht eingebüßt, seit Kommunikation an seine Stelle getreten ist. Feulners auf Bourdieu gestützte Ausführungen zum Kunstbetrieb, in dem Aufmerksamkeit das höchste zu erzielende Gut darstellt, machen diesen Befund plausibel. Sie erklären indirekt auch, warum Daniel Kehlmann am Ende der Untersuchung steht: „Ungleich eindeutiger“ als Treichel entzaubere Kehlmann „den Künstler und das künstlerische Werk“ im Roman „Kaminski und Ich“.

Dass der Autor als Person es versteht, sich gegen die fiktionale Entzauberung zu inszenieren, indem er Züge traditionellen Künstlertums ironisch kommentiert, medial instrumentalisiert, erwähnt Feulner nicht; so bewirkt Kehlmanns vermeintliche Entmythologisierung genieästhetischer Konzepte letztlich das Gegenteil: „Kehlmännchen“ (Sigrid Löffler) erscheint als altkluges Erzählgenie, dessen Schalk als gelehrt und witzig (und nicht wie bei Stuckrad-Barre als publikums- und geldgeile Provokation) empfunden wird, dessen Bücher als „Werke“ rezipiert und (anders als die besprochenen Texte Treichels oder Walsers), von dem Firnis des Satirischen oder Kolportagehaften befreit, nicht auf ‚Schlüsselromane‘ reduziert werden – nicht zuletzt, weil ihnen ‚Stil‘ zuerkannt wird, der sie, anders als Goetz’ Texte, schichten- und milieuübergreifend lesbar und kommensurabel macht – gelehrt, selbstironisch, postmodern.

Der Befund im Schlusswort, es existiere ein „Zugleich von auratischen und entauratischen Bildern“ des Künstlertums, wirkt insofern wie ein Lippenbekenntnis, als die Autorin Kehlmann scheinbar teleologisch als (vorläufigen) Endpunkt der „Konstruktionen und Dekonstruktionen“ des „Mythos Künstler“ positioniert, während sie Handke den Rekurs auf das Konzept des poeta vates und die Sakralisierung von kreativem Prozess und Produkt als ‚anachronistisch‘ vorwirft. Beides zeigt, wo der „Mythos Künstler“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur letztlich zu verorten ist: im Auge des Betrachters.

Titelbild

Gabriele Feulner: Mythos Künstler. Konstruktionen und Destruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2010.
474 Seiten, 69,80 EUR.
ISBN-13: 9783503122080

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