Mit der Seele Liebe machen

„Die Sechzigjährige und der junge Mann“ von Nora Iuga rührt an ein Tabu

Von Anke PfeiferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Pfeifer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Mich erregt nichts so sehr wie ein Blick“, sagt die sechzigjährige Anna. Und so ist es der grüne Blick des schweigend ihrem Monolog folgenden jungen Mannes, der sie zu Geständnissen bringt, derer sie sich fast schämt, so dass sie immer wieder mit Zweifeln und Selbstvorwürfen kämpft. Dennoch ist sie überzeugt, dass sie sich ineinander verlieben würden, wäre sie selbst nur jünger. In ihrer Erinnerung sucht sie nach jener jungen Anna, die ihn tatsächlich mit Erfolg hätte verführen können. Auch wenn es im Raum erotisch knistert, Liebe mit den Augen, mit Worten machen, das ist es wohl, was nun im Alter bleibt und sie stellt sich vor, wie er ihr Äußeres vergisst, sie schön findet und liebt.

Die rumänische Autorin Nora Iuga bricht ein Tabu: das in der Gesellschaft immer noch als unschicklich angesehene Bedürfnis älterer Frauen nach Liebe und Sexualität, insbesondere in Hinwendung zu einem jüngeren Partner, und dies auch oder gerade, wenn der Verfall des eigenen Körpers in Form von grauen Haaren, fehlenden Zähnen, hängenden Brüsten und schlaffer Haut sichtbar wird und nicht mehr zu leugnen ist. Es geht also nicht um die schönheitsoperierte Sechzigjährige, die ihre äußerliche Attraktivität und unveränderlich scheinende Jugendlichkeit demonstriert, sondern sehr wohl um die zweifellos schmerzliche Akzeptanz körperlicher Veränderung und des näher rückenden Todes. Iuga zeigt anhand der Protagonistin, dass im Alter dennoch das Begehren wie auch das Bedürfnis, begehrt zu werden, bestehen bleiben. Und Anna traut sich, dies offen auszusprechen und auszuleben. Sie verkörpert vor allem eine überaus wache und sehr präsente Sinnlichkeit, ja werbende Koketterie, sowie eine große geistige Vitalität, die ihre Rede über Lebenserinnerungen und ihr Philosophieren über Themen wie Freiheit, Instinkt, künstlerische Schöpfung oder Verbrechen und natürlich die Liebe bestimmt. Sie erzählt, um der Einsamkeit zu entfliehen, um sich ihrer Existenz und Liebenswürdigkeit – hier im wahrsten Sinne des Wortes – zu versichern und um die Zuneigung des Zuhörers in Gestalt des fünfundzwanzig Jahre jüngeren, attraktiven Mannes und wohl auch des Lesers zu werben. Immer wieder überprüft sie ihre Anziehungskraft, provoziert mit Worten, setzt Mimik und Gestik ein und kontrolliert ihren Gang sowie die Körperhaltung, wenn sie aufsteht und durchs Zimmer geht. Und der grüne Blick des Gegenübers, mal süß und verlockend „wie ein Pistaziensorbet“, mal fest „wie ein sicheres Versprechen“, „streichelt“ und „peitscht“, „macht Hoffnungen“, „spielt Versteck“, „verhakt sich wie ein Angelhaken“ und wartet auf die Fortsetzung des Monologs. Und „es tut gut, alles, was einem durch den Kopf geht, in Anwesenheit eines anderen auszusprechen, so als wäre man alleine, ohne allein zu sein“. Jedenfalls ist es besser „als mit dem Foto oder der Katze zu sprechen“, aber vielleicht ist ja doch nur alles Fantasie.

Das Buch hält noch weit mehr für den Leser bereit. Anna, hinter der mitunter die Autorin selbst hervortritt, wie die wechselnde Erzählperspektive verrät, berichtet in immer neuen Episoden ausführlich über ihr vergangenes Leben, von der unbeschwerten Kindheit in der Künstlerfamilie – ihr Berufswunsch damals war Kurtisane oder Spionin –, von ersten sexuellen Erfahrungen und späteren Liebeserlebnissen, von Karrieren, politischen Arrangements, Ausgrenzungen und Schikanen in Rumänien seit den 1950er-Jahren und sie diskutiert zeitgenössische Ereignisse in ihrer Heimat. Erklärende Informationen zu rumänischen Fakten und Personen liefern ihre Anmerkungen am Ende des Buches.

Ein wichtige Figur für Anna ist Terry, mit der sie während des Studiums und auch später eine innige, aber komplizierte Freundschaft verband. Jene Terry, die manchmal ganz anders als sie selbst und ihr dann wieder zum Verwechseln ähnlich war, bis sie sich voneinander entfernten. Insofern handelt es sich bei diesem Monolog für Anna wohl auch um eine Art therapeutische Aufarbeitung.

Doch der rote Faden ist die erlebte Liebe in verschiedenen Formen beziehungsweise die unstillbare Sehnsucht nach Liebe. Das Buch ist ein Plädoyer für das Annehmen und Ausleben des Wunsches nach körperlicher und geistiger Nähe. Und für Iuga selbst ist das Schreiben eben auch Lieben und ihr Versuch, sich „zu erklären, oder vielleicht auch nur ein bisschen verrücktzuspielen“, ist zweifellos gelungen.

Bei der Lektüre dieses kleinen Romans, dessen poetische, metaphernreiche Sprache von Eva Wemme kompetent und sensibel übersetzt wurde, hält man oft inne, genießt die schönen und klugen Sätze und denkt nicht immer ohne Widerspruch über das Gelesene nach. Die Dichterin, Prosaschriftstellerin und Übersetzerin aus dem Deutschen – sie übersetzte unter anderem Herta Müller, Günter Grass, Elfriede Jelinek und Paul Celan ins Rumänische –, beinahe 20 Jahre älter als ihre Protagonistin und ähnlich unangepasst, wusste schon immer mit politisch unkorrekten Versen, Tabu-Themen oder ihrer surrealistischen Dichtung zu provozieren. Auf Deutsch sind von ihr bereits die Gedichtbände „Der Autobus mit den Buckligen“ (2003) und „Gefährliche Launen“ (2007) erschienen.

Titelbild

Nora Iuga: Die Sechzigjährige und der junge Mann. Roman.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2010.
192 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783882215328

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