„Alles da, aber schon nicht mehr da“

Mit seinem neuen Roman „Das Zimmer“ beginnt Andreas Maier eine autobiografisch inspirierte Reise in die Welt der Wetterau, wie sie einmal war

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Durch Andreas Maiers Kolumnen in der Wiener Zeitschrift „Volltext“, von denen etliche gesammelt zuletzt unter dem Titel „Onkel J. Eine Heimatkunde“ erschienen sind, hat man schon von seiner Existenz gewusst. Nun dreht sich gleich ein ganzer Roman, Auftakt zu einer vielbändigen Familien- und Heimatsaga, um jenen seltsam-verschrobenen Mann, der im Leben des mit dem Autor mehr als nur das Geburtsdatum teilenden Ich-Erzählers eine wichtige Rolle spielte. Der geistig behinderte Sohn des Grabmalsfabrikanten Boll aus Bad Nauheim, in das Abenteuer eines Tages im Jahre 1969 geschickt, wird im Laufe dieser Zeitspanne immer mehr zur Verkörperung eines so fest in überkommenen Ritualen und Regeln verankerten Lebens, wie man es in unseren Tagen nicht mehr findet. Und gleichzeitig mit der liebevollen Annäherung an einen Protagonisten, der für den Erzähler ein „Mensch ohne Schuld“ ist, entsteht das Porträt einer im Verschwinden begriffenen Provinz, der Wetterau, die für den überzeugten Wetterauer Maier inzwischen nicht mehr darstellt als eine „Autobahn mit angeschlossener Raststätte“.

Für J. freilich – im Kolumnenbuch hat Maier ihn einen „Dorfschluri“ genannt, jemanden, der „an Baustellen herumsteht und schaut“ – ist die sanft gehügelte Landschaft nordöstlich von Frankfurt nichts weniger als die Welt, in der er sich auskennt. Deren Grenzen hat er nur als Kind einmal überschritten, da die Eltern den ständig dem Spott und den Handgreiflichkeiten Gleichaltriger ausgesetzten Sohn – eine Zangengeburt ohne Schmerzempfindlichkeit – auf eine spezielle Schule im Rheinland verbrachten. Zurückgekehrt aus diesem unfreiwilligen Exil, verließ er die geliebte Gegend dann nicht mehr. Sein ganzes restliches Leben spielte sich ab zwischen seinem Arbeitsplatz auf der Frankfurter Post, auf den ihn ein empfehlendes Wort des Schwagers brachte, und dem Elternhaus, in dem ein strenger Patriarch das Sagen hatte, der dem Heranwachsenden ein unnachsichtiger Vater war.

Maiers Roman braucht ein paar Dutzend Seiten, um in die Gänge zu kommen. Das liegt hauptsächlich wohl daran, dass man in den Kolumnen des Bändchens „Onkel J.“ vieles von dem schon gelesen zu haben meint, was man nun eingangs wieder aufgetischt bekommt. Ja, man kennt ihn schon, jenen unangenehmen Geruch des Onkels, der sich nur wäscht, wenn seine Schwester, des Erzählers Mutter, ihn ausdrücklich dazu auffordert. Und auch ins Forsthaus Winterstein, das Jagdhaus Ossenheim, die „Köpi“ genannte Königspilsenerkneipe in Bad Nauheim sowie ein paar andere Lokalitäten zwischen Frankfurt und Friedberg, den Bädern Homburg und Vilbel und den Flüssen Wetter und Nidder ist man mit ihm bereits gegangen. Der braune VW-Variant-Kombi, mit dem J. vom Nauheimer Familienwohnsitz zur Firma des Vaters in Friedberg fuhr, um unterwegs kleinere Aufträge zu erledigen, taucht ebenso wieder auf wie jenes Zimmer im ersten Stock des Elternhauses in der Uhlandstraße, wo der Onkel zu seinen Lebzeiten wohnte. Allein was damals noch einen Ort darstellte, der Abscheu und Widerwillen im Neffen und dessen Freunden gleichermaßen auslöste, wird in der Rückschau zum Dreh- und Angelpunkt eines Universums, dessen wahre Bedeutung dem Erzähler erst viel später aufgeht.

Es ist eine liebevolle Hommage an das Gestern, die Andreas Maiers Roman aus den Lebenssplittern eines Mannes zusammensetzt, der „stets mit einem Fuß im Paradies“ gestanden hat. Um sich nicht zu verzetteln, konzentriert das Buch sich bei seiner Recherche auf einen leicht zu überblickenden Zeitabschnitt. Von nicht mehr als einem einzigen Tag im Leben seiner Hauptfigur berichtet es. Die Erzählung ist sich völlig im Klaren darüber, dass sie wohl zu gleichen Teilen aus getreulich dem Leben Nachgeschriebenem und späterhin Erfundenem besteht. Doch gerade jene poetische Addition von Aufgeschnapptem und Bezeugtem, Erdachtem und Erinnertem, Verbürgtem und Hinzugeflunkertem bringt es fertig, eine kleine Welt, die heute komplett hinter Ortsumgehungsstraßen verschwunden ist, vor den Augen des Lesers wiedererstehen zu lassen.

Frankfurt – das „hessische San Gimignano“ – am Horizont, das Schaufenster des Waffensteinökel in Friedberg direkt vor der Nase – zwischen diesen beiden Polen von nah und fern, Provinz und Metropole, Heimat und Welt spielt „Das Zimmer“. Und mit dem Nahverkehrszug, in dem der Onkel am frühen Morgen in die Mainmetropole aufbricht, ehe er mit derselben Bahn am Nachmittag nach Bad Nauheim zurückkehrt, schon voller Vorfreude auf die Abenteuer, die ihm nach Feierabend in den Kneipen der Umgebung noch bevorstehen, nähern wir uns gemächlich jenen Zeiten, als Rauchen noch nicht in Acht und Bann getan und Trinken während der Arbeit Usus war.

Es ist mehr Marcel Proust als Thomas Bernhard, der einem bei der Lektüre von Maiers neuem Roman vergleichsweise in den Sinn kommt. Denn ganz offensichtlich wird uns hier eine Verlustgeschichte erzählt. Dass jenes „Damals“ nicht mehr existiert, für das der verschrobene Onkel steht, erzeugt in dem Moment, da es detailreich und mit viel Sinn für Humor rekonstruiert wird, auch Schuld- und Schamgefühle im Erzähler. Wer auf die Zwischentöne zu hören gelernt hat, dem wird nicht entgehen, dass darin eine leise Klage über das eigene Versagen dem Onkel gegenüber angestimmt wird. Für Letzteren zu spät sind Maier nämlich die Parallelen von dessen Außenseiterdasein zu seiner eigenen Existenz als Künstler aufgegangen. Der Leser von „Das Zimmer“ darf freilich davon profitieren, indem sich der Tag, von dem ihm das schmale Bändchen erzählt, zur Rückschau auf eine ganze Epoche ausweitet. Eine Epoche, gesehen mit dem naiv- schuldlosen Blick desjenigen, für den selbst kleinste Dinge Staunenswertes besaßen.

Titelbild

Andreas Maier: Das Zimmer. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
203 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421741

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