Reise durch den deutschen Kulturbetrieb

Fritz J. Raddatz’ Tagebücher der Jahre 1982-2001 sind ein Dokument voller Eigensinn und Weltschmerz

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fritz J. Raddatz (Jahrgang 1931) ist der widersprüchlichste Geist, ja der bunteste Vogel im deutschen Literaturbetrieb. Der Feuilletonist, Biograf, Verleger und Schriftsteller war einige Jahre – von 1977 bis 1985 – Chef des Feuilletons der Wochenzeitschrift „Die Zeit“. Er kennt den deutschen Kultur- und Literaturbetrieb also wie kaum ein anderer.

Nun liegen bei Rowohlt, wo Raddatz in den 1960er-Jahren stellvertretender Verlagschef war, seine Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1982 bis 2001 vor. Sie beginnen am 13. Mai 1982 mit dem Vorhaben: „Ein Tagebuch. Es schien mir immer eine indiskrete, voyeurhafte Angelegenheit, eine monologische auch – ich möchte nie ,hinterher, wenn die Gäste weg sind‘, aufschreiben, wie sich Augstein oder Biermann, Grass oder Wunderlich benommen haben.“

Eine löbliche Absicht, die jedoch nicht immer eingehalten wird. Raddatz beobachtet scharf, erzählt in zahllosen Anekdoten und Begebenheiten von dem kleinbürgerlichen Getue der kulturellen Intellektuellen dieser Bundesrepublik. Doch mitunter haben seine Notizen den Charakter von „Klatsch royal“. Scharfzüngig hält er die Verlogenheit des Literaturbetriebs, die Eitelkeiten der Verantwortlichen und Künstler und ihre biederen Haus- und Wohnungseinrichtungen fest, schüttet Häme über die Party-Allüren und die plumpe Anbiederei aus. Da wird Marcel Reich-Ranicki zur „Verona Feldbusch der deutschen Literaturkritik“, Hans Magnus Enzensberger ein „Scharlatan“, Friedrich Dürrenmatt ist „etwas dumm“ und „die Dönhoff ganz verlogen“. Irgendwie bekommen alle ihr Fett weg. Die selbst gestellte Frage „Darf ein Biograf die persönlich-intimen Dinge ganz auslassen?“ lässt Raddatz leider unbeantwortet.

Raddatz ist ein bissiger Polemiker, aber am gnadenlosesten ist er mit sich selbst. Es scheint, als müsste er stets die schonungslose Wahrheit sagen, doch dann leidet er wieder am Echo. Dann möchte er den Journalisten- und Kritiker-Beruf hinter sich lassen („Seit wann macht dieser Krimskrams glücklich?“), dann wieder flüchtet er sich in das eigene Schreiben, in einen Roman. Dieser persönliche Vorgang bereitet ihm Spaß – viel mehr als das journalistische Arbeiten. Hier kann er sich seine eigene Welt bauen und darin versinken.

Es war schon die Rede davon, diese Tagebücher seien der „große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik“. Diesem Urteil kann sich der Rezensent jedoch nicht anschließen, auch wenn hier Weltschmerz kultiviert dargeboten wird. Wenn ein renommierter Literaturkritiker jedoch vermerkt (28. März 1998): „… wo immer Wurzen liegen mag …“, sei ihm ins Tagebuch geschrieben: Wurzen liegt in Sachsen und war immerhin der Geburtsort von Joachim Ringelnatz!

Trotz kluger und geistreicher Gedanken sind die Aufzeichnungen vor allem ein großer, zwar gehobener Klatsch- und Tratschroman. Die knapp tausend Seiten sind aber auch das Eingeständnis eines einsamen und verletzlichen Menschen, der nach Anerkennung giert: „Mich wählt ja niemand in eine Akademie, mir hat auch noch nie irgendjemand einen Preis zuerkannt.“ Seine Tagebücher werden sicher nicht viel dazu beitragen.

Titelbild

Fritz J. Raddatz: Tagebücher 1982-2001.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2010.
944 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783498057817

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