Missverstehende Trauer

Christian Schneider und Ulrike Jureit beleuchten in ihrem Band „Gefühlte Opfer“ die „Illusionen der Vergangenheitsbewältigung“

Von Ulrich KrellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Krellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie sollten die Deutschen der nationalsozialistischen Judenvernichtung gedenken? Diesem Thema, vom Umschlagtext wohl nicht zu Unrecht als „das heikelste […] der deutschen Zeitgeschichte“ apostrophiert, haben Ulrike Jureit und Christian Schneider mit „Gefühlte Opfer“ ein bemerkenswertes Buch gewidmet. Ausgangspunkt der Untersuchung ist ein generelles Unbehagen der Autoren an den gegenwärtig vorherrschenden Formen der Aneignung der belastenden Nazi-Vergangenheit. Ein „opferidentifiziertes Gedenken“ – so Jureit und Schneider – präge den Mainstream der öffentlichen Gedenkkultur in Deutschland und verhindere ein Erinnern jenseits moralischer Imperative, das nicht zuletzt angesichts der „generationellen Neuzusammensetzung der Bundesrepublik“ sechzig Jahre nach dem Genozid möglich sein sollte.

Um ihre Unzufriedenheit zu veranschaulichen, führt Ulrike Jureit im ersten Teil des Buches das Beispiel Bruno Grosjeans an, der 1995 unter dem fiktiven jüdischen Namen Binjamin Wilkomirskis Holocausterfahrungen zu berichten vorgab, bis seine „Bruchstücke aus einer Kindheit 1939-1948“ als pure Fiktion entlarvt wurden. Dieses drastische Beispiel eines „geliehenen Selbstentwurfs“ konnte – so Jureit – nur „in einem kulturellen und gesellschaftlichem Kontext stattfinden, der dafür spezifische Möglichkeiten bereithielt“.

In den folgenden Abschnitten erörtert sie die politischen und kulturwissenschaftlichen Rahmenbedingungen, die diesen Möglichkeitsraum schufen. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker habe in seiner vielbeachteten 1985er-Rede mit der Formel, „das Geheimnis der Erlösung sei Erinnerung“, den Deutschen eine Art „religiöses Heilsversprechen“ gegeben, das sich nicht nur als uneinlösbar erweise, sondern auch im Widerspruch zur diskursiv verfahrenden „Liturgie des sozialen Lebens“ in unserer säkularen Gesellschaft stehe und deshalb ein Gedenken begünstige, das auf einen „irritierenden Kompensationsversuch“ hinauslaufe.

Ähnlich wenige Sympathien hegt die Autorin für das nicht nur im Umkreis des Holocaustgedenkens weithin positiv rezipierte Konzept eines „kulturellen Gedächtnisses“, das Jan und Aleida Assmann im Anschluss an die Thesen des Soziologen Maurice Halbwachs vertreten. In einer kleinschrittigen Argumentation legt Jureit dar, dass das Assmann’sche Theorem – dem expliziten Anspruch nach einer Abgrenzung von biologistischen Modellen zum Trotz – einerseits im problematischen „Horizont evolutionären Denkens […] verbleibt“ und andererseits einer „homogenen Identitätsausstattung“ zuarbeite, die den selbstreflexiven Bedürfnissen von „nicht mehr nur nationalstaatlich verfassten Gesellschaften“ kaum mehr angemessen sei.

Entgegen komme dieses Konzept allerdings dem Wunsch, im nationalsozialistischen Judenmord ein negatives Bezugsereignis von identitätsstiftender Kraft zu konstruieren. Aus dieser Koinzidenz folgert Jureit, dass mit der Konstruktion eines kulturellen Gedächtnisses „weniger die konkreten Bedingungen und Konstellationen von Erinnerungskulturen in den Blick kommen, sondern eher den spezifischen Bedürfnissen einer Gesellschaft zugearbeitet wird, die in der Nachfolge des Nationalsozialismus steht“. Diese Bedürfnisse existierten allerdings nicht in der gesamten Gesellschaft, sondern vornehmlich in der Alterskohorte der Kriegskinder und späteren ’68er, die ein „generationelles Deutungsmonopol auf den Holocaust“ beanspruchten, was am Beispiel der vornehmlich von dieser Gruppe getragenen Bundestagsabstimmung um das Holocaustmahnmal erläutert wird.

An die zeitdiagnostischen Beobachtungen der Historikerin anknüpfend, setzt sich im zweiten Teil des Buches der Soziologe und Forschungsanalytiker Christian Schneider mit den sozialpsychologischen „Grundlagen der Vergangenheitspolitik“ auseinander, insbesondere mit dem Paradigma der „Trauer“, die als „zentrale Metapher deutscher Erinnerungspolitik“ namhaft gemacht wird. Als Referenzgrößen dienen ihm dabei zunächst zwei Autorenpaare, die entscheidend auf die Vergangenheitsdisposition der Nachkriegsdeutschen eingewirkt haben: Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sowie Alexander und Margarete Mitscherlich.

Anhand der Rückkehrumstände des Instituts für Sozialforschung nach Deutschland erläutert Schneider wie Max Horkheimer die neu etablierte Kritische Theorie „explizit auf die Perspektive der Opfer […] verpflichtete“. Eine Sichtweise, die in den Lehrveranstaltungen Adornos bereitwillig angenommen wurde, traf sie doch „den zentralen Wunsch der jungen deutschen Intellektuellen […] unschuldig zu sein und den Schrecken, der aus ihrer Genealogie nicht zu tilgen war, ungeschehen zu machen“. Die Problematik dieser Wunschperspektivierung werde – so Schneider – spätestens dann deutlich, als Adorno nach dem Tod von Benno Ohnesorg die Studenten in der Nachfolge der ermordeten Juden ansiedelte und damit Auschwitz „als fungibles Dispositiv seiner Gesellschaftsanalyse und Kulturkritik zu verwenden“ begann.

Vergleichbar kritisch fallen Schneiders Diagnosen zu Alexander und Margarete Mitscherlichs bahnbrechender Untersuchung „Die Unfähigkeit zu trauern“ aus, deren Grundthese „heute umstrittener denn je“ sei. Problematisch sei insbesondere der implizit eingeforderte Defizitbegriff: „Trauer ist eben nicht moralisch postulierbar, sie ist überhaupt kein moralischer, sondern auf der Affektebene zunächst ein spontaner, kreatürlicher Akt.“ Dass der analytische Fauxpas der Mitscherlichs lange Zeit unbemerkt bleiben konnte, erklärt der Verfasser damit, dass die Deutschen der 1960er-Jahre, „dringend ein Deutungsangebot für den moralischen Zustand der Nachkriegsrepublik brauchten“ und es dabei auf „kategoriale Akkuratesse“ nicht ankommen ließen.

Auf der Suche nach dem letztlichen Urheber des missverstandenen Trauerbegriffs widmet sich der Verfasser in einem längeren Exkurs der „Hinterfragwürdigkeit Freudscher Theoreme“ und bezichtigt in einer Biografie und Werkgeschichte verschränkenden Exegese den Urvater der Psychologie seinerseits einer Art ‚Unfähigkeit zu trauern‘. Freud, so der Befund, habe in seinen keineswegs systematischen Deutungen den „Gefühlswert von Trauer“ ignoriert und damit erst die Voraussetzungen für die Über-Ich-Besetzung des Begriffs durch die Diagnosen der Mitscherlichs geschaffen.

Der letzte, konstruktiv-appellative Teil des Buches skizziert eine Erinnerungskultur, die den ursprünglichen Sinn von Trauer wieder zur Geltung zu bringen sucht. Schneider schlägt vor, erlittene Verluste in einem Ablöseprozess zu realisieren, das heißt Trauer „lytisch“ aufzulösen. Ausgehend von einem nicht kollektiven, sondern individualisierten Trauerbegriff, für den Norbert Elias als Gewährsmann auftritt, plädiert Schneider für eine „Selbstreflexion im verlorenen Anderen“, die es möglich machen soll „von der Über-Ich zur Ich-Position zu gelangen“ und damit das problematische Mitscherlich’sche Paradigma zu überwinden.

Soweit die Argumentation, die stringent vorgetragen wird und mit einem umfangreichen Endnotenapparat von einem Sechstel des Gesamtumfangs Wert auf wissenschaftliche Präzision legt. Einwände ließen sich dennoch formulieren. Wurde beispielsweise Günter Grass, der seine einstige Zugehörigkeit zur Waffen-SS mit strategischer Verspätung 2006 öffentlich gemacht hatte, tatsächlich Opfer einer Debatte mit „absurden Zügen“, entfesselt von den „Hohen Priestern des moralisch einwandfreien Gedenkens“? Fiel nicht eher die Kritik an dem nachträglichem coming out bemerkenswert verhalten aus? Man könnte Grass’ spätes Bekenntnis und die Reaktionen darauf weitaus schlüssiger als Indikatoren eines gesellschaftlichen Stimmungsumschwungs deuten, der mittlerweile eine Abweichung von erinnerungspolitischen Normen möglich macht, deren angeblich starr festliegende Mechanismen die Autoren allzu oft überstrapazieren. Eine Tendenz zur einseitigen Zuspitzung kennzeichnet auch die mehrfache Ausdeutung der Weizsäcker’schen Rede vom 8. Mai 1985. Falls der damalige Bundespräsident mit seiner Zusammenziehung von „Erinnerung“ und „Erlösung“ überhaupt ein „staatspolitisch bekräftigtes Erlösungsversprechen“ abzugeben versucht hatte: wahrgenommen und aufgegriffen wurde vor allem der Begriff der „Befreiung“, den Weizsäcker bewusst gegen anders lautende Vorstellungen von „Kapitulation“ und „Zusammenbruch“ ins gedenkpolitische Spiel gebracht hatte.

Die Rede erweist sich bei genauerem Hinsehen auch nicht als „unverzichtbarer Teil des erinnerungspolitischen Mainstreams“, sondern als zeitgebundene Manifestation eines Gedenkens, dessen Formen seither keineswegs unveränderbar gültig blieben, sondern im Fluss befindlich sind. Die Einrichtung von Speziallager-Gedenkorten in Gedenkstätten, die ehemals allein den großenteils jüdischen Opfern des Nationalsozialismus vorbehalten blieben, die Opferperspektive umkehrende Debatten um Luftkrieg, Flucht und Vertreibung, aber auch Wandlungen in der medialen Repräsentation des Holocaust, wie ihn der Erfolg von Filmen wie „La vita è bella“ oder „Der Pianist“ anzeigen, könnten als Gradmesser dafür herangezogen werden, dass die Annahme eines monolithisch feststehenden – und schon deshalb kritikwürdigen – Gedenkrituals die reale Praxis des Gedenkens an die ermordeten Juden nur unzureichend erfasst.

Ein Einwand sei auch gegen das äußere Erscheinungsbild des Buches erhoben. Denn leider werden die über weite Strecken klugen und nachdenkenswerten Reflexionen über eines der für das Selbstverständnis der Bundesrepublik wichtigsten Themenfelder in einer unnötig provokanten Aufmachung vorgelegt. Den Buchumschlag ziert eine den Vordergrund unscharf belassende Schwarz-Weiß-Abbildung des Berliner Holocaustmahnmals, die dessen unnahbare Totalität akzentuiert und als wenig empathieverheißend einen scharfen Kontrast zum Titel „Gefühlte Opfer“ bildet. Die im Untertitel angeprangerten „Illusionen der Vergangenheitsbewältigung“ könnten potentielle Leser als Indikator eines Enthüllungsjournalismus der gewaltsam vereindeutigenden Art missverstehen und von der Lektüre abhalten. Das allerdings wäre schade.

Titelbild

Ulrike Jureit / Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010.
250 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783608946499

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