Lieber Karl May als Karl Marx

Der Literaturnobelpreis geht an Mario Vargas Llosa

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Er erhält den Preis für seine „Kartographie von Machtstrukturen und seine scharf gezeichneten Bilder individuellen Widerstands“, hieß es in der Begründung des Stockholmer Nobelpreiskomitees, das dem peruanischen Schriftsteller Mario Vargas Llosa die mit umgerechnet rund 1,1 Millionen Euro dotierte wichtigste Auszeichnung der literarischen Welt zusprach.

Vargas Llosa ist stets für Überraschungen und auch für Provokationen gut. Als ihm vor 1996 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, bekannte er, dass seine erste Begegnung mit der deutschen Literatur im Wilden Westen stattgefunden hat. „Nicht Karl Marx, sondern Karl May habe ich als junger Mann verschlungen.“

Als Perus Präsident Alan Garcia 1987 ankündigte, dass er die Banken verstaatlichen wolle, mutierte der Dichter Vargas Llosa (mehr aus Protest als aus Überzeugung) zum Politiker und zog für die „Demokratische Front“ in den Wahlkampf. „Der Populismus ist die größte Seuche Südamerikas“, befand der Schriftsteller im Rückblick über seine Niederlage bei der Präsidentenwahl gegen Alberto Fujimori. „Ich würde mich als Liberalen bezeichnen. Ich bin ein liberaler Demokrat. Ich glaube an politische Freiheit und an ökonomische Freiheit als unverzichtbare Ergänzung dazu“, beschrieb der Schriftsteller sein politisches Credo.

Vargas Llosa, der am 28. März 1936 in Arequipa im peruanischen Hochland als Sohn eines Radiojournalisten geboren wurde, begann schon früh zu schreiben. In seinem ersten bedeutenden Werk, den in mehr als 20 Sprachen übersetzten Roman „Die Stadt der Hunde“ (1963) verarbeitete er seine Erfahrungen in der Kadettenanstalt von Lima. Er arbeitete später als Journalist für viele internationale Zeitungen, als Literaturdozent in den USA und hatte Gastprofessuren in aller Welt inne. Sein Studium hatte er ausgerechnet mit einer Arbeit über seinen großen südamerikanischen Antipoden Gabriel Garcia Márquez abgeschlossen, dem er stets dessen politische Nähe zu Fidel Castro vorhielt: „Daß ein Schriftsteller den Führer eines Regimes beweihräuchert, in dem es viele politische Gefangene – darunter mehrere Schriftsteller – gibt, das eine rigorose intellektuelle Zensur praktiziert, nicht die mindeste Kritik duldet und Dutzende Intellektuelle ins Exil gezwungen hat, ist etwas, das mich mit Scham erfüllt.“

Noch ein zweites Mal schrieb Vargas Llosa ganz eng an seiner eigenen Biografie entlang. Mit 18 Jahren hatte er Julia Urquidi geheiratet, mit der er neun Jahre zusammenlebte. Diese Beziehung diente als Grundlage des vielbeachteten Romans „Tante Julia und der Kunstschreiber“.

In seinen großen, überbordenden Romangemälden hat sich Vargas Llosa wiederholt der Ausbeutung der Ureinwohner, der blutigen Kämpfe von Untergrundorganisationen, der Korruption, der zwielichtigen Rolle der Militärs und des Totalitarismus gewidmet. Titel wie „Tod in den Anden“, „Das Fest des Ziegenbocks“, „Der Geschichtenerzähler“ und „Das grüne Haus“ (alle bei Suhrkamp erschienen) stießen auch hierzulande auf große Resonanz. Darüber hinaus hat er in „Lob der Stiefmutter“ und „Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto“ dem Faszinosum Liebe (und der Erotik) eine neue poetisch-zeitgenössische Dimension verliehen. In der Figur des leicht exzentrischen Don Rigoberto, der das Mittelmaß in allen Lebenslagen verachtet, spiegelt sich auch Vargas Llosas Credo.

In seinem letzten großen Roman „Das böse Mädchen“ (2006) breitet er ein opulentes Erzählspektrum aus, in dem es nicht nur um eine leicht märchenhaft anmutende Liebesgeschichte geht, sondern auch um politische Umwälzungen und gescheiterte Utopien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. „Um zu erreichen, was man will, ist jedes Mittel recht.“ So lautet das Credo der weiblichen Hauptfigur in seinem neuen Roman. Wie ein Chamäleon wechselt sie ihre Identitäten und treibt so über den Handlungszeitraum von rund vierzig Jahren ein emotionales und kriminalistisches Verwirrspiel mit dem männlichen Protagonisten Ricardo Somocurcio.

Dieser hochgebildete Autor, der auch brillante Essays über Gustave Flaubert, Victor Hugo und Paul Gauguin verfasste und zwei Jahre dem Internationalen PEN-Club vorstand, ist ein behutsamer Gratwanderer zwischen Exotik und Realismus, zwischen Lebensfreude und Skeptizismus.

Als großes „Plädoyer für eine Kultur der Freiheit“ wurde sein gewaltiges Œuvre von der Frankfurter Friedenspreis-Jury bezeichnet. Den Cervantes-Preis, die bedeutendste literarische Auszeichnung der spanischsprachigen Welt, hat er erhalten und 35 Ehrendoktortitel gesammelt, 2005 den ersten aus Deutschland – von der Berliner Humboldt-Universität.

Mit Vargas Llosa, der mit seiner zweiten Frau Patricia abwechselnd in London, Paris, Madrid und Lima lebt, hat die Stockholmer Akademie eine hervorragende Wahl getroffen und einen der bedeutendsten und sprachmächtigsten Erzähler unserer Zeit ausgezeichnet.