Ein Dichter von der traurigen Gestalt

Michael Krügers späte Lyrik

Von Felix Philipp IngoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Philipp Ingold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum noch jemand schreibt heute von Hand und schon gar nicht von Hand ins Reine. „Ins Reine“, so heißt der Titel zu Michael Krügers jüngstem Lyrikbuch, auf dessen Umschlag die Abschrift seines gleichnamigen Gedichts säuberlich faksimiliert ist. Sieht gediegen aus; und da eben dieses Gedicht den 115 Seiten starken Band auch abschließt, ergibt sich daraus eine sinnige Parenthese zwischen handschriftlicher Ouvertüre und druckschriftlichem Finale – das Titelgedicht soll als Schlüsseltext gelesen werden.

Der mit Klappen- und Rückentext geschickt bestückte Buchumschlag bietet diverse Lesehilfen zur Einführung und soll natürlich auch gewisse Erwartungen provozieren. In einem knappen poetologischen Eintrag auf der vordern Klappe vermerkt Krüger, was seine Gedichte wollen und was sie nicht wollen: Sie wollen lediglich „poetische Augenblicke und Notate“ sein, haben also keinen allzu hohen Kunstanspruch, und sie wollen weder als Abgesang auf die Vergangenheit noch als Menetekel für die Zukunft Geltung haben, vielmehr geben sie sich zufrieden mit „dieser“ Welt, wiewohl sie „dem Jetzt misstrauen“.

Erklärend heißt es dazu: „Es ist eine einfache Welt, die darauf besteht, in ihrer Besonderheit wahrgenommen zu werden, diesseits und jenseits der Begriffe, die sie verstellen.“ Auffallend ist hier zunächst, dass der Welt als solcher und dass auch dem Gedicht als solchem ein Eigenwille zugestanden wird, dem der Autor nur folgen, den er nicht lenken, schon gar nicht aufhalten kann: die Welt selbst besteht darauf, vermittels der Dichtung in ihrer Gegenwärtigkeit wahrgenommen zu werden, so wie die Dichtung gleichsam selbstredend sich in den Dienst eben dieser Welt stellt.

Und der Autor? Schreibt er also lediglich nach, was die Welt ihm souffliert und was die Dichtung ihm abverlangt? Dazu zitiert der Klappentext ein süddeutsches Qualitätsfeuilleton mit der wohlgesetzten Sentenz: „Es gelingt ihm [d. i. Krüger] immer wieder scheinbar mühelos, die Worte anzuheuern, welche Natur, Welt und ihn und uns selber zur Sprache bringen.“ Und auf der Rückseite des Umschlags sekundiert eine namhafte Kritikerin: „Schreibend die Natur schreiben zu lassen, das verstehen nur wenige. Zu ihnen gehört Michael Krüger.“

Das ist wohl das Höchste, was der Dichter heute vermag – mühelos Worte anheuern, die Welt, sich selbst und gleich auch den Leser zur Sprache bringen, oder eben einfach die Schrift fließen lassen. Das ist viel verlangt, und dass es zuviel des Guten ist, belegt Krügers Neuling von Seite zu Seite in jeglicher Hinsicht.

A propos Dichter. Er lebt nach eigenem Bekunden „als Verleger, Herausgeber einer Literaturzeitschrift und Autor“ (in dieser Reihenfolge) in Bayern und ist Träger „zahlreicher Auszeichnungen“, darunter – zuletzt – des hochdotierten Joseph-Breitbach-Preises, dessen Stifter schon im Juni 1939 seine erste Million beisammen hatte und nachmals auch Wesentliches zur deutschen Erzählliteratur beitrug. Höher kann sich ein Dichter hierzuland nicht feiern lassen.

Solchermassen eingestimmt, lässt man sich erwartungsvoll auf die Michael-Krüger-Lektüre ein, und tatsächlich bekommt man etwa das zu lesen, was die Paratexte zu seinem Buch versprechen oder jedenfalls andeuten – gediegene Naturlyrik in unprätentiöser Diktion, die sich von gepflegter Alltagssprache nur durch ihren Reichtum an poetischen Bildern und Vergleichen abhebt, dabei jedoch durchweg leicht verständlich bleibt, Gedichte, in denen schlichte Wahrnehmungsdaten aus den Bereichen Haus und Garten, Landschaft und Fauna, Reise und Freundschaft sich locker, bisweilen fast beliebig verbinden mit gängigen Philosophemen, mit privaten Reminiszenzen, Bedenken und Befindlichkeiten, vorrangig freilich mit Skepsis und Trauer.

Soviel Traurigkeit wie bei Krüger schlägt in zeitgenössischer Lyrik selten durch, er selbst zählt sich, von fern mit dem Vagantenvolk sympathisierend, zu den „Experten für Traurigkeit“. Der gestandene Autor gibt hier, nicht ohne Selbstmitleid, den sentimentalen Melancholiker, wo jüngere Semester cool mit Zynismen aller Art, mit Fäkaljargon, Zitaten oder Fachsprachen operieren. Als obligate Begleiter des melancholischen Flaneurs figurieren bei ihm, einer weit zurückreichenden Tradition entsprechend, der Doppelgänger und der Schatten.

Beide – Schatten wie Doppelgänger – stehen für ein gebrochenes, zumindest für ein prekäres Selbstbewusstsein, das durch Spiegelung und Spaltung in seiner Integrität gleichermaßen bedroht ist. „Ich sehe das, was ich nicht mehr bin“, heißt es dazu an einer Stelle: „Aber ich sehe mich nicht.“ Und an einer andern: „Ich wollte nicht sein, wer ich war, und will nicht sein, der ich bin.“ Das lyrische Ich lässt das empirische Ich hinter sich und ist ihm doch immer voraus, so als wäre ‚Ich‘ tatsächlich ein Anderer: „Er ging durch mich hindurch und nahm den letzten Zug, der für mich bestimmt war.“ Da sitzt dann gelegentlich einer „im Haus“, der des Andern Leben lebt, der „herzzerreißend“ die Impromptus von Schubert spielt und der außerdem „spricht wie ich, wenn ich, des Lesens müde, die Trauer zähmen will, den Chor des Weltzerfalls“ – so wird freilich eher Resignation zelebriert denn Trauer getragen.

Naturgemäß gehören zur melancholischen Grundbefindlichkeit Erfahrungen von Verlust, Vergeblichkeit, Vergänglichkeit, mithin das bevorzugte Programm romantisch-intellektueller Schwarzgalligkeit, wie man es von Günter Kunert, von Botho Strauss oder auch (toute proportion gardée!) von Joseph Brodsky kennt. Michael Krüger spielt dieses Programm auf einer von ihm schon immer privilegierten Ebene konsequent durch – auf der Ebene des anthropomorphen Vergleichs.

Kaum ein Gedicht ist bei ihm auszumachen, in dem er nicht irgendeinen Gegenstand, eine (meist unscheinbare) Pflanze, ein (meist sehr gewöhnliches) Tier oder auch eine Naturerscheinung (Wolken, Gewitter, Licht) vermenschlicht, indem er sie zum „Reden“ oder wenigstens zum Stöhnen, Singen, Zittern, Ahnen, Grüßen, Flüstern bringt.

So überlässt sich der Dichter mit frappierender Vorurteilslosigkeit – man könnte meinen, er sei naiv – der sanften Sympathie der Dingwelt und kann, als hätte er nie ein Stilleben von Cézanne gesehn, fast schon larmoyant notieren: „Ein Apfel rollt traurig vom Tisch und bricht, wie Wörter brechen, wenn man sie lang nicht benutzt,“ – Das Menschliche an diesem Apfel ist seine Traurigkeit; schon weniger menschlich die Tatsache, dass er vor lauter Traurigkeit „vom Tisch“ rollt, was der klassischen Physik eindeutig widerspricht, und dass er – als Apfel – beim Aufprall „bricht“, wird auch durch aufmerksamste Wahrnehmung nicht bestätigt, muss hier jedoch sein, weil danach der Vergleich mit dem Wort folgt, das bekanntlich sowohl brechen wie gebrochen werden kann.

Das allerdings ist keineswegs der Fall, wenn es „lang nicht benutzt“ wird, sondern im Gegenteil dann, wenn man es zu oft braucht und durch den Gebrauch abnutzt, es brüchig macht. Wohingegen selten benutzte, sogar vergessene Wörter in aller Regel – gerade in der Poesie – eine staunenswerte Frische bewahren. Doch mehr als um die Poesie geht es Krüger um das Poetische.

Für ihn ist die Natur so etwas wie ein Buch mit menschlichem Antlitz – er blättert und stöbert darin, und willkürlich liest er daraus, was ihm (im eigentlichen Wortsinn) „entspricht“. Er begnügt sich also nicht damit, seine feinsinnigen Wahrnehmungen im Gedicht zu registrieren, er gibt ihnen immer auch eine Bedeutung oder jedenfalls eine Bedeutsamkeit, die über das Wahrgenommene hinaus auf etwas anderes – nicht selten auf ihn selbst – verweist.

Den Gedichten bekommt dies nicht immer gut, und die in ihnen dargestellte Gegenständlichkeit wird dadurch allzu oft verwischt und ins Menschliche verfremdet. Bei Krüger „handeln“ die Dinge, „wissen“ die Ameisen und „weiß“ das Alter, „erzählen“ die Blumen und die Schlüssel, „erlöst“ der Blitz, „überlisten“ den Koran (sic!), „schreibt sich“ die Sonne, „freut sich“ der Tod, „seufzen“ die Eichen, „grübeln“ die Hummeln; und so fort.

In den letzten Versen des Titelgedichts, die auch den Schlussakkord des Buchs bilden, heisst es in solchem Verständnis: „Überlass es den Vögeln, das Gekrakel ins Reine zu schreiben, auf sie ist Verlass“. Damit verabschiedet sich das lyrische Ich vom Autor, und man erfährt endlich, wer da was „ins Reine“ geschrieben hat – es sind die verlässlichen Vögel, die des Dichters flüchtige Schrift auf den Punkt bringen, ihr zur lyrischen Gültigkeit verhelfen sollen. Wie das?

Man versuche, die Metaphernbildung nachzuvollziehen, und man wird sofort erkennen, dass sie in den reinen – sicherlich ungewollten – Nonsense führt: Das Scharren der Vögel wird mit der Geste des Schreibens gleichgesetzt und auch noch als verlässlich gewürdigt. Das ist gut gemeint, aber schlecht gesehen und schwach gedacht.

Wo Krüger einen dichterischen Mehrwert anstrebt, kommt auch in manch andern Fällen bloß ein ruinöses Bild heraus. Zum Beispiel dann, wenn der Dichter im Baum einen wundroten Apfel hängen sieht, sich damit aber nicht begnügen kann und deshalb gleich noch ein Bild nachschiebt („wie ein Herz in der Krypta der Zweige“), das den ersten Blick bestätigen und veredeln soll, ihn jedoch bloß verunklärt – der wundrote Apfel hat nicht nur für ein offenbar wundes Herz einzustehen, er soll auch noch, überschwer vor Traurigkeit, das luftige Gezweig, in dem er baumelt, zu einer (meistens doch unterirdischen?) Krypta verfinstern. Ruinös ist seine Metaphorik auch dann, wenn er ein Kind „das Rad der Leere“ drehen, den Wind „mit abgewandtem Gesicht“ stolpern oder seinen Freund Parland „eine lose Seite aus der Geschichte“ bekritzeln lässt.

An zahlreichen derartigen Stellen erweist sich eben doch, dass Krüger weit mehr im Sinn hat, als bloß das eine oder andre lyrische Notat in seinem Moleskinebuch festzuhalten. Nein, er kann es nicht lassen, den jeweiligen Augenschein vor den rohen naturhaften Dingen durch kulturelle Vergleiche aus Malerei, Musik, Literatur zu überhöhen und damit oft auch – entgegen seiner eignen Ambition – zu beschönigen: „Vor uns zwei Linden, die ein Denkmal bilden, ein Denkmal mit Traum. Wir bleiben stehen. Wir wachsen fest in einer dunklen Zeit. Wir sind jetzt Schubert, ein für allemal.“ Ein Denkmal mit Traum? Festgewachsen in der Zeit? Wir als kollektiver Schubert? Und all dies ein für allemal? Das soll ein Naturgedicht sein (auch Wald und namenlose Bäume, Regen und Sonne kommen darin vor), gerät aber zur schwarzseherischen Klage eines Intellektuellen, der mit der Natur nur dann etwas anfangen kann, wenn sie ihm „Bedeutungen“ liefert, die er aus Büchern offenbar nicht mehr zu gewinnen vermag.

Michael Krüger steht – nach und neben bewährten Autoren wie Heinz Piontek, Hans-Jürgen Heise, Werner Dürrson, Walter Helmut Fritz, Peter Hamm, Alfred Kolleritsch oder Ulla Hahn für eine Dichtung ein, wie sie, mit jeweils aktuellen Anpassungen an die Zeitläufte, schon immer mehrheitlich gepflegt worden ist; eine Dichtung, die vorab als transitive Rede praktiziert wird und die, festgelegt auf die Besprechung außersprachlicher Realien, notwendigerweise defizitär bleibt. Denn kein Wort vermag seinem Gegenstand gerecht zu werden, ihn also voll und ganz zu vergegenwärtigen, und umgekehrt ist kein Gegenstand umfassend zu begreifen, vor dem das Wort versagt, „gebricht“.

Die traurigen Künder solcher Ohnmacht – George Steiner, Botho Strauss und andere – pflegen a capella den Abgesang auf die verlorene Realpräsenz der Erfahrungswelt zu intonieren, verschließen sich aber der Tatsache, dass es auch eine intransitive dichterische Rede gibt (und stets gegeben hat), die sich jener Trauer dadurch enthebt, dass sie sich selbst zum Gegenstand macht. Mithin die Sprache als solche in ihrer Realpräsenz ernstnimmt und kraft dessen die wechselseitigen Defizite zwischen Wort und Welt aufheben kann.

In allen Epochen und Literaturen hat sich die hermetische Dichtung, erwachsen aus mystischer Rede und formalistischer Wortkunst, für diesen Sprachrealismus stark gemacht, doch ist sie durchweg ein Randphänomen geblieben, von dem die zeitgenössische Plauderlyrik kaum noch berührt ist. Und so muss auch Krüger „die unerträgliche Last“ beklagen, „eine Sprache zu finden, die entspricht“. Aus diesem nicht einholbaren Defizit erwächst die weit verbreitete dichterische Melancholie, die sich in der klassischen Moderne zur programmatischen „Sprachskepsis“ verschärft hat.

Doch bis heute scheint die Lyrik mehrheitlich an diesem Defizit festhalten zu wollen, die Klage darüber gehört zum dichterischen Standard und mündet nicht selten in die wortreiche Beschwörung des Schweigens, das auf diese paradoxale Weise „beredt“ gemacht werden soll. Da geht es denn, noch einmal mit Krüger, darum, „Dinge, die nichts sagen und dennoch nicht schweigen“, zur Sprache zu bringen. In einem seiner Gedichte schickt er ein Kind vor, das sich bei einem Sturz das Knie aufschürft, das aber (statt seinen Schmerz schreiend kund zu tun) tapfer schweigt: „Es will die Stille nicht stören.“

Soviel Heroismus bringen auch Dichter nur ganz selten auf, ihn einem Kind zuzuschreiben, ist wohl eher eine Übertreibung denn eine „Übertragung“. Und davon gibt es im vorliegenden Band beliebig viele, die durch ihre Schrägheit oder Inkohärenz irritieren, manche, die durch aphoristische Zuspitzung zum Einhalten und Nachdenken zwingen, wenige, die als strukturiertes dichterisches Produkt unmittelbar überzeugen.

Titelbild

Michael Krüger: Ins Reine. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
115 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421680

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