Von Kunstwerken und Bäumen

Georg Groddecks Buchbesprechungen und die Begründung der Psychosomatik

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

1. Einleitung

Georg Groddeck (1866-1934) gilt als „Vater der Psychosomatik“ (Steffen Häfner). Die vorliegenden Überlegungen verstehen sich als eine Skizze über die Zusammenhänge zwischen den von Groddeck in mehreren Buchbesprechungen festgehaltenen literarischen und poetologischen Vorstellungen und seinen Bemühungen um die Einführung und Etablierung einer psychosomatischen Perspektive in Forschung und Therapie.

Groddecks starke Affinität zur Literatur ist bekannt. Bereits sein Großvater Karl August Koberstein war mit seinem „Grundriß der Geschichte der deutschen National-Litteratur“ (Leipzig 1827) und den „Vermischten Aufsätzen zur Literaturgeschichte und Ästhetik“ (Leipzig 1858) einer der führenden Literaturhistoriker seiner Zeit. Georg Groddecks Schulzeit am Internat Schulpforta, an dem schon der Großvater Koberstein gelehrt hatte und an dem auch Friedrich Nietzsche und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ausgebildet wurden, erwies sich als prägend für seine literarische Bildung und Betätigung. Obwohl er Medizin studiert hatte und zeitlebens als Arzt arbeitete – die meiste Zeit davon in seinem Sanatorium „Marienhöhe“ in Baden-Baden – verfasste Groddeck eine Reihe von literarischen Texten unterschiedlicher Gattung. Dazu gehören das Epos „Die Hochzeit des Dionysos“ (1907), die Novelle „Der Pfarrer von Langewiesche“ (1909) sowie drei Romane, die sich in Inhalt, Form und Stil beträchtlich voneinander unterscheiden: der monumentale Bildungsroman „Ein Kind der Erde“ (1905), der satirische Roman „Der Seelensucher“ (1921) sowie der Briefroman – wohl Groddecks berühmtestes Werk – „Das Buch vom Es“ (1923).

Während einige dieser Texte, besonders diejenigen, die als „psychoanalytisch“ eingestuft werden können, in den letzten Jahren von der Forschung weitgehend berücksichtigt und gewürdigt wurden, sind Groddecks Frühwerke aus seiner voranalytischen Zeit, in denen sein Verhältnis zur Literatur besonders deutlich zum Vorschein kommt, vernachlässigt worden. Damit ist auch Groddecks Verhältnis zur Literatur ungenügend erforscht worden, wie zum Beispiel die Frage nach den Kriterien und Prinzipien, die für dieses Verhältnis charakteristisch sind und die er bei der Betrachtung und Verfassung literarischer Werke anlegt. Groddeck selbst verstand sich als ein kritischer Geist, was auch durch sein Interesse für die Satire zum Ausdruck kommt. Zu überprüfen ist also die von ihm artikulierte Literaturkritik, ihre Formen, Funktionen und Wandel – und dies insbesondere im Zuge der Formulierung seiner psychosomatischen Ideen und seiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds.

Die Untersuchung wird sich auf wenige Texte beschränken müssen. Hilfreich ist hier die von Egenolf Roeder von Diersburg herausgegebene Schriftensammlung „Georg Groddeck. Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst“ (Limes Verlag Wiesbaden 1964). Martin Grotjahn charakterisiert dieses Buch in seiner Rezension in “Psychoanalytic Quarterly” folgendermaßen: „Groddeck at his best, emphasizing his enormous capabilities and his incredible knowledge of linguistics, history, art, literature, mythology, philosophy, and medicine“.

Das Vorwort zu diesem Werk bietet erste Anhaltspunkte für die noch zu schreibende Gesamtdarstellung und Auswertung von Groddecks Verhältnis zur Literatur, lässt aber einen Fokus auf dessen Literaturkritik vermissen. Ein möglicher Grund dafür ist die infolge der freundschaftlichen Verbindung zwischen Groddeck und dem Herausgeber hauptsächlich auf positive Merkmale konzentrierte Darstellung, aber auch die Besonderheiten der Groddeck’schen Literaturkritik, die im Weiteren herauszuarbeiten sein werden. Eine Überprüfung und Fortsetzung dieser hier skizzierten Beobachtungen und Annahmen an weiteren Texten ist erforderlich und wäre ein wichtiger Schritt, um die Forschung zum Thema „Psychoanalyse und Literatur“, welches inzwischen recht viele Ergebnisse vorweisen kann, auch in Richtung Psychosomatik auszudehnen, weist doch die ebenfalls auf literarische Modelle und Figuren angewiesene Psychosomatik Spezifika auf, die sie von der Psychoanalyse erheblich unterscheiden.

Eine Zentralstellung in den folgenden Betrachtungen werden die von Groddeck verwendeten und für seine Lehre von der leib-seelischen Einheit ausschlaggebenden Begriffe „Gottnatur“ und „Es“ einnehmen. Es wird deutlich werden, dass diese Begriffe auch seine literarischen und poetologischen Konzeptionen bestimmen.

2. Groddecks Sprachkritik

Groddecks kritischer Gestus kommt früh zum Vorschein und manifestiert sich zum Beispiel in seinem Vortragszyklus „Hin zu Gottnatur“ (1909). Groddeck schließt sich dem Chor der um die Jahrhundertwende sehr verbreiteten Sprachskeptiker an. Er erkennt zwar die produktive Kraft und Leistung der Sprache in der Geschichte der Menschheit an – sie ist „Träger der Kultur“ und hat sowohl die Religionen als auch den Handel und den Ackerbau geschaffen – er wirft aber auch die Frage nach der „hemmenden Wirkung“ der Sprache auf, nach den „unlösbaren Fesseln, mit denen die Sprache unser Denken und Handeln knebelt“. Was allerdings zunächst als ein dialektisches Abwägen der Vorzüge und Schwächen der Sprache anmutet, erweist sich schnell als ein nur rhetorisch-polemischer Feldzug gegen die Sprache. Die positiven Aspekte der Sprache werden allzu summarisch dargestellt und auch die Alltäglichkeit und Banalität des Vertrauens in die Sprache wird hervorgehoben. Disqualifiziert wird sie durch ihre Bezeichnung als „Instrument“, „Werkzeug“ und „Mittel“ sowie durch den Vergleich mit einem „Taschentuch“. Groddeck lenkt die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer abrupt auf die vorher genannte negative Rolle der Sprache. Begründet wird dieses Urteil mit common sense-„Sprüchlein“ wie „der Mensch [hat] die Sprache, um seine Gedanken zu verbergen“.

Auch wenn der Redner gleich danach die skeptische Frage stellt, „ob die Sprache überhaupt fähig ist, den Gedanken auszudrücken“, wird diese Frage sofort, ohne weitere Argumentation, dogmatisch und ein für alle Mal entschieden: „Wir wissen es alle aus eigener Erfahrung, dass sie das nicht kann“, wobei die Wir-Form die Zustimmung des Publikums herausfordert. Nach außen hin im Sinne einer genetischen Argumentation gestaltete Textsegmente („Das ist das eine […]“, „Und geht man einen Schritt weiter, so erkennt man […]“) werden ebenfalls umgehend von der kategorischen Antwort überholt: „Das ist aber falsch.“ Groddeck bevorzugt umfassende Pauschalurteile und Generalisierungen wie: „Da stehen wir denn vor der Tatsache, daß jedes Wort unserer Sprache, mag es nun durch den Mund laut werden oder stumm im Gehirn gebildet sein, eine Lüge ist, die die Tatsachen vergewaltigt, die uns dazu verführt, die Welt falsch zu betrachten und falsch zu denken.“ Zugleich enthalten seine zahlreichen Vorträge (ab 1916 hält Groddeck in seinem Sanatorium auch psychoanalytische Vorträge) und Bücher keine Hinweise darauf, dass der Autor seine eigenen sprachlichen Produktionen im Lichte der eigenen Sprachkritik problematisiert.

Die polemische Ausschaltung der Sprache wäre trotzdem als eine Form radikalisierter Kritik zu betrachten, würde nicht die Ambivalenz des Autors durchscheinen, welche dieser Kritik einen Riegel vorschiebt, zum Beispiel wenn er darauf hinweist, dass die Sprache eine „Fessel“ sei, die den Menschen auch „heilsam zurückhält“. Von den Bedingungen dieses „Zurückhaltens“ wird im Weiteren noch die Rede sein. Ein anderes Beispiel für den Versöhnungsgestus des sprachkritischen Groddeck lautet: „Die Sprache lügt, sie muß lügen, es liegt in ihrer menschlichen Natur.“ Der vom Autor diagnostizierte Missstand wird mit einem christlichen Spruch sogar aufgewertet: „Und die Antwort, mit der Christus dem Römer beipflichtete: Die Wahrheit ist weder im Himmel noch auf Erden [sic!] noch zwischen Himmel und Erde, ist jedem verständlich.“ Die mit der Sprache assoziierten Charakteristika der Fälschung und Lüge werden sogar zur anthropologischen Konstante erklärt: „Es liegt im Wesen der Sprache, daß sie ungenau ist, daß sie verfälscht, ja, es liegt im Wesen des Menschen.“

Diese Beispiele und Überlegungen demonstrieren zum einen Groddecks Schwierigkeiten, eine rational begründete, ausgewogene und nachvollziehbare Kritik zu betreiben und zum anderen seine Tendenz, die kritisierten Erscheinungen in eine von Ambivalenz gezeichnete Perspektive zu überführen.

3. Die Rolle des Dichters

In seinen Ausführungen zur Sprache gibt Groddeck jedoch schnell den für skeptisches Denken typischen Zweifel auf und legt sehr bald die Instanz fest, mit deren Hilfe auch das ambivalente Zusammenspiel zwischen dem völligen Versagen der Sprache und der „heilsam“-erlösenden Wirkung dieses Scheiterns beendet wird: die Natur. Dass „die wertvollsten und tiefsten Gedanken“ nicht durch die Sprache darstellbar sind und damit unausgesprochen bleiben müssen, ist „weise von der Natur eingerichtet“. Die „heilsame Fessel“ der Sprache ist auch von der Natur gewollt, die sich davor „scheut“, „sich zu zeigen, wie sie ist“. Noch lange vor seinem Anschluss an Sigmund Freud und die Psychoanalyse verbindet Groddeck die Natur allerdings nicht mit der bunten Vielfalt der Welt, sondern mit einer Tiefendimension, in der alles „wortlos, unterirdisch, unbewußt“ ist, mit dem „Tiefsten und Innersten.“ Das Leben selbst ist für Groddeck „ein Abgrund undurchdringlichen Dunkels, aus dem seltsame Gebilde aufsteigen“.

Vor diesem Hintergrund entfaltet der Autor seine Vorstellungen von der Dichtung und der Rolle des Dichters. Bezeichnenderweise lässt sich in diesen Auffassungen auch ein Konfliktmodell erkennen, welches innerpsychische Befindlichkeiten zum Ausdruck bringt: Groddeck konturiert „das [intrapsychische] Ringen“ zwischen der „ureigenen“, „stummen“ Natur und der „gestaltenden Kraft“ des Menschen. Mit der Proklamation der Natur zur obersten Instanz versucht er Gesellschaft und Zivilisation auszublenden, den Menschen von ihnen abzukoppeln und wieder der Natur zuzuführen. „Das stumme Innere“ ist sowohl Geist als auch Seele – eine wichtige ‚psychosomatische‘ Festlegung – und zugleich das für alle Menschen Gemeinsame, „das Allgemeine“.

Das hier genannte „Ringen“ hingegen ist nur für den Dichter charakteristisch, das Vorhandensein der „gestaltenden Kraft“ „macht den ‚Wert‘ des Menschen aus“. Deutlich wird, wie Groddeck den Dichter damit vom „Volk“ abhebt, ihn zum „Größten aller Sterblichen“ erklärt, und mit dieser Konzeptualisierung des Dichters implizit dem „Volk“ den Wert verweigert. Auch das bereits erwähnte ,Konfliktmodell‘ hat die Funktion, den Dichter abzuheben. Es kommt zwar zu keiner Parallelisierung und Gleichsetzung des Dichters mit der allmächtigen Natur, aber der Dichter wird in größere Nähe zu ihr gesetzt als der Nicht-Dichter: wie die Natur, die sich nicht gern zeigt, so vermag auch der Dichter „nur das Geringste seines Denkens in Worte zu fassen“. Die in Worte gefasste Dichtung vergleicht Groddeck mit „Schmetterlinge[n], die die Schönheit verlieren, sobald der Finger sie berührt“. Somit wird Schönheit, soweit noch relevant, als nur innere, stumme Schönheit aufgefasst und das dichterische Produkt herabgesetzt. Neben der Umwertung des Defizitären (das heißt des begrenzten Ausdrucksvermögens der Sprache) ist auch die Mystifizierung des Dichters unübersehbar, entsteht doch sein Werk im „Dunkel“. Während aber die Konzeption vom unbewussten Urgrund der Dichtung und vom unbewussten Charakter der Kreativität weder damals noch heute außergewöhnlich ist, überrascht Groddecks nächster Gedanke: dass sich der Dichter „versündigt“, wenn er sein „Bestes“, sein Innerstes offenbart. Gerade in dieser Zurückhaltung und in der Nicht-Offenbarung des Innersten, in der Wahrung des geheimnisvollen Urgrunds entdeckt Groddeck den Sinn der Sprachkrise, die er auf diese Weise umwertet und mit neuer Bedeutung erfüllt.

Es ist unnötig zu betonen, dass solche Ansichten vom Dichter und von der dichterischen Produktion keine gute Basis für eine konsequente und gehaltvolle Literaturkritik bilden. Sie wecken aber die Neugier darauf, in welcher Form und mit welchen Mitteln sich eine solche Kritik den Weg bahnen wird.

4. Goethe contra Shakespeare

Bei der Lektüre der Groddeck’schen Werke wird sofort deutlich, welchen literarischen Vorbildern er folgt. Diese Vorbilder werden äußerst emphatisch gepriesen. Es ist vor allem Johann Wolfgang von Goethe, für den sich Groddeck begeistert und dem er höchste Huldigung spendet, so dass dieses Thema auch nach den hier vorliegenden Betrachtungen einer separaten Untersuchung wert ist. Im Lichte des bereits Ausgeführten überrascht es nicht, dass im hier behandelten Vortrag Goethe zuerst als Persönlichkeit zum Vorschein kommt. Als „höher gearteter Mensch“ ist er nicht nur begabter als die anderen, sondern auch „wahrer“. Groddeck verweist an dieser Stelle nicht auf Goethes Werke, sondern auf eine von ihm formulierte Wahrheit: „Man soll jedes Ding als Teil eines Ganzen betrachten.“ Goethes Weisheit, die ohne Quellennachweise und konkrete Angaben herangezogen und nur im freien Wortlaut zitiert wird, wird zum Ausgangspunkt für Ermahnungen an das Publikum in der Imperativform: „betrachte es als Ganzes“, „kümmere dich nicht“, „suche ihn“ und so weiter. Den Umweg über die literarischen oder naturwissenschaftlichen Werke Goethes spart sich der Redner und präsentiert seinem Publikum nur das Destillat der goetheschen Wahrheit. Nachdruck verschafft er sich auch durch die Erinnerung, dass Goethe diese „schriftlich und mündlich immer von neuem wiederholt hat […]“. Goethes Autorität wird zur Erteilung von Lebensanweisungen eingesetzt, er soll den „Weg zur Wahrheit“ weisen. Groddeck bemüht hier den alten Topos vom Dichter als Prophet. Dass auch dieser Topos der Literaturkritik im Wege steht, ist naheliegend. Viel interessanter ist jedoch, dass hier plötzlich, nach der vorherigen Apotheose des Dichters, der Naturforscher Goethe über den Dichter Goethe gesetzt und in einem weiteren Superlativ sogar zu einem „der größten Forscher aller Zeiten“ erklärt wird. Nicht die Goethe’sche Kunst sei die beste Weisheitsquelle, sondern Goethes Naturforschungen. Goethes Weisheit wiederum ist laut Groddeck „uralt, älter als die assyrischen Mauern“.

Klar erkennbar ist der Versuch des Autors, die Lehre von der Abhängigkeit des Individuums vom All durchzusetzen, es zeigt sich auch, dass trotz der Verherrlichung des Dichters die Autorität der Literatur vor der Autorität der Naturforschung versagt. Die Autorität sowohl der Kunst als auch der Goethe’schen Naturforschung wird aber vor allem zur Eliminierung des Ichs und zur Inthronisation des Es, des „großen Geheimnis[es] der Welt“ eingesetzt. Der Rekurs auf Goethe ist bei Groddeck selektiv und fragmentarisch. Eine weitere Hinwendung zu Goethe stellt in diesem Vortrag der Begriff „Gottnatur“ dar, der auch ganz aus dem Kontext der Goethe’schen Werke herausgegriffen wird. Groddeck profiliert die Ehrfurcht vor „Gottnatur“ als ein Arzneimittel gegen die „Hast und Geldgier“ der Gegenwart, die aber keiner echten und fundierten Sozialkritik unterzogen werden. Statt einer solchen Kritik und statt der Wiedergabe und einer kritischen Auseinandersetzung mit Goethes Konzept im konkreten Wortlaut der Werke verordnet der Arzt Dr. Groddeck seinem Publikum „ein Goethesches Wort“. Goethe wird an den Beginn einer neuen, „echten Kultur“ gesetzt, mit der das moderne Barbarentum überwunden werden soll: „Wir sind Barbaren, haben aber die Möglichkeit einer echten Kultur vor uns.“ An die Stelle der gescheiterten Sprache setzt der Redner in seiner Kultursehnsucht neue Mittel, die er enigmatisch als „brauchbarer an Geist und Wahrheit“ einstuft.

Als programmatisch erweist sich hier ein weiterer Vortrag Groddecks in „Hin zu Gottnatur“ – „Charakter und Typus“. Bemerkenswert ist, dass Groddecks Betrachtungen in diesem Text von einem Gefühl umfassender „Schwäche“ ihren Ausgang nehmen. Doch auch dieses „dunkle Gefühl der Schwäche“ und die damit verbundene „scheue Angst“ werden als eine „Wurzel alles menschlichen Schaffens“ aufgewertet. Gerichtet ist der trotz sprachkritischer Überlegungen wortreich und anschaulich angeführte Nachweis der menschlichen Schwäche gegen den bewussten Willen. Als Ausweg predigt Groddeck eine Verschmelzung mit dem All, die er mit Hilfe einer hymnischen Apostrophe an das Meer besiegelt: „Gegrüßt, du Freund! Das Meer bezwingt jeden Hochmut, das Meer gibt jedem Ruhe. Aus seinen Wassern stieg die Schönheit, seine Wellen rauschen in dem Menschheitsliede der Odyssee.“

Für Groddeck ist das Eins-Sein mit der Natur die große Quelle der Dichtung. Die Kunst ist nicht isoliert, sondern ein Teil des Allzusammenhangs. Der Grad der Verbundenheit mit der Natur wird somit zum Kriterium für echtes Dichtertum. Die Aufzeichnungen über Goethe machen noch einmal dessen wichtigste Leistung deutlich: dass er „das Geheimnis der Welt“ begriffen hat. Die Verbindung zwischen Dichter und dichterischem Werk wird gelockert, um sowohl den Dichter als auch sein Werk fester an die Natur zu binden. Sowohl Kunstwerke als auch Dichter sind „Werke der Natur“. Die Verherrlichung der Dichter und der dichterischen Werke gerät auf diese Weise zu einer Verherrlichung der Natur, bedeutet aber auch eine Entmündigung des Dichters.

Von dieser gesicherten Grundlage – nach der Erhebung der Dichtung zum Werk der Natur und der Beglaubigung dieser Ansichten mit Goethes Autorität – holt Groddeck zu einem Schlag gegen die Literatur der letzten Jahrhunderte aus. Die Analogisierung zwischen dem Wachstum der Bäume und der Entstehung dichterischer Werke, die er eingeführt hat, dient ihm zur Diskreditierung der Werke derjenigen Schriftsteller, die diese Naturprinzipien, beziehungsweise den ,organischen‘ Charakter der Dichtung missachten und ,nur‘ sich selbst, ihre Mitmenschen und die Menschenseele „durchforschen“. Die neue Kultur soll sich an der Natur orientieren, die Bäume nachmachen: „Das Kunstwerk ist ein Werk der Natur so gut wie der Baum.“ Demnach werden auch die wahre Dichtung und die neue Kultur in biologischen Kategorien bewertet und mit Naturbildlichkeit veranschaulicht. Groddeck löst die Dichtung aus der Sphäre sowohl des Intellektuell-Geistigen als auch des Sittlichen und übergibt sie der Natur. Die Kultur erwächst aus der Natur und setzt sich über die Gesellschaft mit ihrem Postulat der Nächstenliebe und mit ihrem Interesse für die Menschenseele hinweg. Die Biologie verdrängt die Psychologie.

Groddeck, der für Verschmelzung plädiert, gräbt eine tiefe Kluft zwischen den Schriftstellern und führt eine starke Polarisierung in „Dichter“ und „Psychologen“ durch. Letzteren verweigert er das Prädikat „Dichter“ und richtet über sie: „Er [ein solcher Schriftsteller] bleibt immer und ewig ein Psychologe, ein Charakterdarsteller, er ist, um es deutlich zu sagen, ein Schauspieler, der aus der Wahrheit ein Stück herauswählt und zur ganzen Wahrheit fälscht“. Wie immer bei Groddecks Kritik werden die Urteile generalisiert: „Da haben Sie den Grundzug unserer neueren Literatur, ja vielleicht unserer ganzen Zeit“.

So wird auch William Shakespeare zum Antipoden Goethes stilisiert. In der Auseinandersetzung mit Shakespeare erprobt Groddeck sein Programm einer neuen Kultur und lässt seinem antianalytischen Impetus freien Lauf. Hier, im Angriff auf diese Art von Literatur, zeigen sich aber auch am deutlichsten die Hauptcharakteristika von Groddecks Literaturkritik.

Beachtenswert ist, dass die Besprechung Shakespeares mit einem begütigenden und selbstimmunisierenden Hinweis beginnt: „Ich muß hier ein Wort zu meinen eigenen Gunsten einschieben, gewissermaßen meine Seele retten, sonst könnten Sie auf den Gedanken kommen, ich wolle Shakespeare angreifen. Das ist nicht der Fall“. Trotzdem beabsichtigt der Redner, „so kaltblütig wie möglich die Strömungen der Zeit festzustellen.“ Die Strebungen und Ziele der psychologisierenden Literatur bezeichnet Groddeck als eine „Sünde wider den Zusammenhang des Alls, wider Gottnatur.“ Die strafende Tendenz ist also bei der Besprechung literarischer Werke ausschlaggebend und wird vorangestellt. Verstärkt wird der Eindruck vom sündhaften Charakter dieser Literatur auch durch das apokalyptische Bild, welches der Redner evoziert: die psychologisierende Literatur hat die Kunst „in unwegsame Bahnen gelenkt, und es ist sehr die Frage, ob sich unser europäisches Wesen da je wieder herausfindet“. Bei Shakespeare weicht Groddeck aber wieder der harten Kritik aus und greift zum Lob dieses Autors, einem Lob aber, das Shakespeare genau zum „gewaltigsten Vertreter“ der hier kritisierten Richtung macht: „daß niemand unter allen Menschen sicherer und glaubwürdiger Charaktere, Persönlichkeiten, wie man jetzt sagt, belebt hat […]“.

Groddeck kritisiert aber auch Literaturkritiker, welche die Charakterzeichnung zum Zentralprinzip nehmen und prangert den modernen Geschmack an, der von der Literatur, besonders vom Drama, Charakterzeichnung fordert. Er disqualifiziert diesen Geschmack als „Klatschsucht“ und als „Produkt der hochmütigen Selbstüberschätzung des Menschen“. Soweit kategorische Urteile in Bezug auf Personen fallen, beziehen sie sich nicht auf die großen Schriftsteller, sondern etwa auf die zeitgenössische Romanliteratur: „Sie taugt nichts.“ Bei den großen Namen verwendet Groddeck andere Taktiken – so spielt er Homer gegen Shakespeare aus, womit er wieder bei einem positiven Gegenbeispiel landet und seine Literaturkritik wieder in Superlative übergeht: „Und doch gibt es keine Dichtung, die der Ilias und Odyssee an Wahrheit zu vergleichen wäre“. Und dann der trotzige, aber kryptische Hinweis: „Ja, Goethe, wieder Goethe“.

Mit wenigen Strichen hat Groddeck die zeitgenössische Kunst und sogar die Kunst vieler Jahrhunderte – und dies fast ohne Rekurs auf konkrete Werke oder Namen – ausgeschaltet und ihnen das Aus prophezeit: „Neue Strömungen der Zeit zeigen sich, und ich werde auf sie zu sprechen kommen.“ Groddecks Literaturkritik ist also präskriptiv, normativ, großzügig generalisierend und prophetisch. Begründungen bleibt der Autor seinem Publikum schuldig, so zum Beispiel wenn er konzedieren muss, dass „für die große und kleine Masse die Goetheschen Dramen mäßige Ware sind“. Goethe erscheint als „wunderlicher Heiliger“, und Groddeck verzichtet auf den Versuch, Goethes Kreativität und seinen Schöpfungsprozess zu erklären. Hier werden die Ausführungen wieder sehr vage und ausweichend: „Ob er das absichtlich so gemacht hat, weiß wohl niemand. Es könnte sein.“ Das Rätsel der Kreativität wird weiter verstärkt und die Bemühungen, es zu lösen werden blockiert – Goethe ist nicht zu „erraten“.

Dem Gegensatz zwischen Goethe und Shakespeare legt Groddeck den Gegensatz zwischen dem All und dem Menschen zugrunde. Shakespeares Menschen seien nur „Geschöpfe des Dichters“, nicht der Natur. Goethes „Über allen Gipfeln ist Ruh“ wird zitiert, aber nichts von Shakespeare. Das Schicksal der Shakespeare’schen Dramen wird als beschlossen dargestellt: sie seien nur Lesedramen geworden. Das Verdikt gegen Shakespeares Kunst mündet allerdings nicht in Kulturpessimismus, sondern zieht eine optimistische Vision von einer neuaufkommenden Kultur nach sich, in der Dichtung die „Offenbarung“ der Gottnatur sein werde: „Man ahnt dann, daß der moderne Geist sich vom Studium der Menschenseele abwendet und Verständnis für die Zusammenhänge der Welt zu gewinnen sucht.“ Es ist eine Vision, die sich mit Groddecks zukünftiger psychosomatischer Forschung, die auf der Suche nach psychophysischen Zusammenhängen ist, gut vereinbaren lässt, wohl aber kaum mit den Prioritäten und Zielen der Psychoanalyse. Goethes Gottnatur und die daran angelehnten Literaturbesprechungen Groddecks sollen uns lehren, „die Dinge nicht durch Zerlegen zu erforschen, sondern im Ganzen zu schauen“. In diesem Zusammenhang ist die von Groddeck in seinem Buch „Nasamecu“ 1913 geäußerte Stellungnahme zur Psychoanalyse durchaus konsequent: „Bei der Psychoanalyse, der Seelenzergliederung, handelt es sich im wesentlichen darum, Krankheitserscheinungen aller Art, seelische und körperliche, durch genaues Durchforschen der Schlupfwinkel des innersten Herzens auf starke seelische Eindrücke zurückzuführen […].“

5. Henrik Ibsen

Der große Norweger wird von Groddeck im Vortrag „Charakter und Typus“ der von ihm kritisierten „Literatur extremer Seelenzustände“ zugerechnet. Groddecks Anforderungen an die Literatur treten bei der Besprechung Ibsens besonders deutlich zutage. Ibsen finde „vor lauter Ziselierarbeit kaum noch Lösungen seiner Probleme.“ Ibsen erscheint jetzt neben mehreren anderen Autoren, die nur en passant als Vertreter der psychologisierenden Dichtung erwähnt werden. Die weniger prominenten Exemplare dieser Dichtung werden abschätzig registriert: „Die Liebesliederei geibelschen Genres ist bekannt bis zum Ekel“, große Autoren wie Heinrich Heine, Viktor Hugo, Alfred de Musset, Paul Verlaine, Charles Baudelaire und Friedrich Nietzsche werden pathologisiert – sie sind „krank an Menschenliebe“. Die Menschenliebe und das Interesse für die menschliche Seele sind für Groddeck Mängel und ein Schibboleth, nach dem er gute von schlechter Dichtung unterscheidet.

5.1 „Nora“

Anders als „Charakter und Typus“ gestaltet Groddeck seinen Vortrag „Nora“ genetisch und verfährt – noch bevor er die Psychoanalyse kannte – durchgehend assoziativ. Er beginnt die Besprechung mit dem Titel und registriert die Einfälle und Assoziationen, die der Titel „Puppenheim“ auslöst. Der Text wird gründlich besprochen, die wichtigsten Stationen der Handlung werden sehr ausführlich wiedergegeben. Trotzdem ist die Absicht einer Korrektur von vornherein deutlich. Auch die lebendige Beschreibung der Einrichtung in Noras Haus sowie der Protagonistin, die Groddeck gibt, ist mit Kommentaren durchsetzt – einige davon sind nähere Erläuterungen, andere wiederum ironisch. Groddeck kritisiert das Stück aber nicht, Schwächen oder Defizite werden nirgends genannt. Was Groddeck betreibt, ist eine Transformation, eine großangelegte Uminterpretation und Umgestaltung des Dramas. Im Mittelpunkt dieser Uminterpretation steht Nora. Seiner Konzeption von echter Dichtung entsprechend, präsentiert Groddeck mit seiner Interpretation ein Gegenbeispiel zur „bloße[n] Charakterstudie“.

Groddeck bietet eine neue Deutung der weiblichen Hauptfigur. Für ihn ist das Wesen dieser Figur „Dichtung“. Zu diesem Wesen, das im Kontext der bereits skizzierten Vorstellung Groddecks von Dichtung als ein Werk der Natur liegt, gehören die „Leichtigkeit“ und „Natürlichkeit“, mit denen Nora lügt, ihr freies Schweben zwischen Fantasie und Wirklichkeit, ihr „Doppelleben“ und ihre Fähigkeit, das Leben um sie herum zu „gestalten“. Groddecks Besprechung Noras ist selbst sehr poetisch – er vergleicht die Protagonistin mit „Sonnenschein“ und betont unentwegt ihren Zauber. Sie gibt auch die Gefühle des Kritikers wieder, wobei er sich aber vor einer zu starken Subjektivität hütet. Er verwirft mit seiner Interpretation die gängige Deutung dieser Figur als Puppe und lässt sie als „Natur“ erstrahlen. Sie ist die wirkliche Herrscherin und besitzt „Herrschergewalt“, sie vereinigt Liebreiz mit Leben und Kraft. Nora wird von Groddeck zum weiblichen Heros erhoben, während Helmer und sämtliche männlichen Figuren versagen. Nora erfüllt Groddecks Ideal von „Jenseits von Gut und Böse“ – sie begeht ein Verbrechen, das jedoch eine edle, „mutige Tat“ ist.

Mit der Bewunderung, die Groddeck Nora spendet, kontrastiert sein Spott Frau Linde gegenüber, die von Menschenliebe und Opferbereitschaft erfüllt ist. Groddeck fordert Heroismus und Poesie, die er im gewöhnlichen Menschen der bürgerlichen Welt vermisst. Voller Geringschätzung betrachtet er alle Figuren außer Nora, welche die konventionelle Moral vertreten, und definiert den Konflikt dieses Stückes als „den Zusammenstoß der menschlichen Moral mit der Gesellschaftsmoral“.

In seinem Kommentar fordert er eine neue Moral, die sich gegen Kategorien wie Wahrheitsliebe, Menschenliebe und Sühne für begangene Verbrechen wendet. Bezeichnenderweise ergibt sich diese Uminterpretation aber auch wieder aus dem Bewusstsein einer Schwäche und infolge einer Erschöpfungsdiagnose – zum einen ist es die Schwäche des Mannes, zum anderen die Schwäche der Literatur, die Erkenntnis (wieder in Anlehnung an Goethe), dass „die Alten […] im Achill und Odysseus die großen Motive des männlichen Wesens erschöpft [haben]“.

Groddecks Text bietet also wieder keine manifeste und konsequente Literaturkritik, aber er unterzieht Ibsens Text einer Korrektur von enormer Tragweite und injiziert dabei die bei Ibsen fehlenden Lösungen. Die formalästhetischen Mittel in Ibsens Drama beachtet er dagegen kaum. Das Literarisch-Ästhetische ist sekundär. Auch die antianalytische Ausrichtung dieser Interpretation wird wieder deutlich, da er Nora fast jegliche inneren Konflikte abspricht und keine Begründungen und Motive für ihre Taten sucht. Sie ist aus Groddecks Sicht kein Individuum, sondern ein Typus und ein Naturphänomen. Nora ist eine Illustration von Groddecks Ideal.

Groddeck wertet im Rahmen seiner „Nora“-Interpretation auch den Zusammenbruch und den Untergang um. Er möchte den Untergang mit Kraft und Stärke verbinden. Bereits im Jahre 1905 hat der Autor im Roman „Ein Kind der Erde“ das Werden eines männlichen Heros dargestellt, der auch als ein Naturphänomen betrachtet wird, weshalb er in aufsteigender Linie mit einem Bach, einem Strom und am Schluss mit dem Meer verglichen wird. Die Deutung des Dramas „Nora“ setzt diese Linie fort, aber überraschenderweise und angesichts der konstatierten Schwäche des Mannes wird diese Idee mit einer weiblichen Figur fortgeführt. Groddeck wendet sich gegen das von der Frauenbewegung hineininterpretierte Bild Noras als Märtyrerin und macht sie zur Heldin. Verblüffend bei diesem neuen Versuch der Reheroisierung ist allerdings, dass Groddeck hier nicht mehr auf der Tragik des Geschehens besteht, sondern das Stück provokant in eine Komödie umdeutet: „Es ist eine Komödie, in der die Götter lachen über die Menschen, die da im Puppenheim zusammensitzen“. Besonders Frau Lindes Strickstrumpf wird von Groddeck zum komischen Requisit par excellence erklärt. „Nora“ ist für ihn ein Stück über „des Menschen Schwäche“. Ausgenommen wird nur Nora. Trotz ihrer vermeintlichen Kraft und Stärke wird sie von Groddeck verschont. Sie ist keine tragische Figur, die einen „furchtbare[n] Kampf mit dem Leben“ führt, sie ist ganz Rausch und Spiel wie das Leben. Indem er das Stück als Komödie auffasst, erspart er der Protagonistin den Untergang und versieht das Stück mit einem glücklichen und trotz der Betonung des „Wunderbaren“ in Noras Charakter banalen Ausgang: Nora wird wieder zurückkommen, hat sie doch nur „ganz einfach im Puppenheim einmal Durchgehen der Puppe gespielt“.

Samuel Lublinski, einer der führenden Literatur- und Kulturkritiker der Zeit, kritisiert in „Die Bilanz der Moderne“ Ibsens Neigung zur Grübelsucht und die von ihm entworfenen apokalyptischen Szenarien: „Henrik Ibsen […] war ein Meister in der suggestiven Kunst, seinen Hörern und Lesern gleichsam den Zusammenbruch der Welt aufzuzwingen, während sie eigentlich nur den Einsturz eines kleinbürgerlichen Kartenhauses erlebten.“ Laut Lublinski hält Ibsen „Gericht“ über „die kleinen Spießbürger, die aber durch die Ehre, die ihnen der Ingrimm des Gewaltigen [Ibsens] zuteil werden ließ, ins Riesenhafte und Symbolische emporwuchsen“.

Groddeck auf der anderen Seite entzieht den bürgerlichen Figuren in Ibsens Drama das „Riesenhafte und Symbolische“ wieder und lässt sie kleiner, lächerlicher und „armseliger“, aber zugleich auch so unbedeutend erscheinen, dass sie des Aufwands, über sie Gericht zu halten, nicht mehr wert sind (Deshalb weigert sich Groddeck entschieden, z.B. Helmer als eine Karikatur aufzufassen). Die „Arche der bürgerlichen Welt“, die Lublinski zufolge von Ibsen dauernd torpediert wird, wird von Groddeck gerettet. Zwar hebt Groddeck die Protagonistin von ihrer Umwelt ab und idealisiert sie, dennoch wird ihre Verbindung mit der Welt anders als bei Ibsen von Groddeck nicht abgebrochen: Als Naturphänomen darf sie mit der Welt „von oben herab“ spielen. Der „schöne Schein“, der von Ibsen aus dem Drama verbannt wurde, wird von Groddeck wieder eingeführt. Ibsens Wahrheitssuche wird relativiert, die Kritik wird ins Spielerische gewendet. Der von Groddeck ursprünglich intendierte Heroismus wird in ein „ironisches Pathos“ verwandelt, das sich durch Distanz und zum Teil auch durch Indifferenz auszeichnet. (Dieses „ironische Pathos“ betont Groddeck auch in einem Brief an Freud vom November 1917). Ibsens Revolte wird entschärft, ihr wird der Stachel gezogen.

5.2 „Peer Gynt“ – Ibsen contra Freud?

Egenolf Roeder von Diersburg zählt Groddecks Vortrag über „Peer Gynt“ zum „Fesselndsten, was Groddeck gesagt und geschrieben hat“, er ist ein „Höhepunkt des Groddeckschen Wirkens auf breiter öffentlicher Basis“. Dennoch stellt für ihn dieser Vortrag (neben weiteren drei Essays über den „Ring der Nibelungen“, „Faust“ und den „Struwwelpeter“) etwas völlig Neues im Vergleich zu den frühen Vorträgen dar. Während der frühe Groddeck sein ärztliches Wissen „in den Dienst des Verständnisses der Dichtung“ gestellt habe und somit dort eine „Ästhetik“ formuliert habe, habe er in seinen Vorträgen „Vier analytische Lehrbücher“ von 1927 an der Berliner Lessing-Hochschule „das Verständnis der Dichtung in den Dienst der analytischen Theorie gestellt“.

In den vorangegangenen Betrachtungen wurde allerdings gezeigt, dass in Groddecks frühen Vorträgen die Literatur sogar innerhalb der Literaturbesprechungen eine sekundäre Rolle spielt und dass die Besprechungen von Literatur „in den Dienst“ einer weltanschaulichen, metaphysischen, um Gottnatur zentrierten Konstruktion gestellt werden, deren Ziel die Überwindung der Krise der Kultur und die Revitalisierung ist. Diese Linie wird von Groddeck nahezu bruchlos fortgesetzt – während sich hier der Status und die Funktion der Literatur kaum verändern, kommt mit der Psychoanalyse Freuds ein neues Element hinzu, dessen Rolle im Konglomerat von Bildern und Ideen der Groddeckschen Literaturbesprechungen eine genauere Betrachtung verdient.

Nach außen hin etikettiert Groddeck die von ihm vermittelten Einsichten tatsächlich als „psychoanalytisch“. Der Vortrag stellt auch eine weitere Aufwertung Ibsens im Vergleich zu „Nora“ dar – eine Aufwertung, die nach der ursprünglichen Verwerfung Ibsens wegen seiner „Ziselierarbeit“ zunächst verblüffend ist. Der Redner tritt mit dem Anspruch auf, seinem Publikum Wissen zu vermitteln und spricht sogar vom „Ertrag für das Erlernen psychoanalytischen Forschens“. Außerdem stellt er „Peer Gynt“ als ein „Lehrbuch“ vor. Nach wiederholten Beteuerungen und der tiefen und für seine Zeit allzu typischen Überzeugung, dass alles Wissen nur „Stückwerk“ sei, überrascht das Insistieren auf dem lehrbuchartigen Charakter von Ibsens Drama. Groddeck verbindet hier Wissensvermittlung (über Literatur, das heißt über Ibsen und sein Drama, sowie über die Psychoanalyse) mit Literatur-, Theater- und Übersetzungskritik. Er schafft sich dem Publikum gegenüber eine privilegierte Position in doppelter Hinsicht:zum einen als Psychoanalytiker, zum anderen als Literatur- und Theaterkenner, der zudem auch noch Zugang zum Originaltext Ibsens hat (er zitiert Norwegisch) und somit „die Feinheiten des Unbewußten“, die bei jeder Übersetzung verloren gehen, überblicken kann. Diese Position legitimiert auch seine Kritik.

Wie in den frühen Vorträgen geht es wieder um den Dichter, der jetzt zusätzlich zu den damals genannten Fähigkeiten auch als Kenner des Unbewussten erscheint. Die Differenzen zwischen dem Dichter und dem Nicht-Dichter werden erneut und nun auch auf der Ebene des Unbewussten hervorgehoben. So wird mit Hilfe des psychoanalytischen Begriffs des Unbewussten die frühere Schwierigkeit aus dem Weg geräumt, wie man den Dichter über den Nicht-Dichter erheben kann. Der Dichter wird jetzt ganz im Reich des Unbewussten angesiedelt – er dichtet unbewusst, er erkennt „Unwägbares“ und vor allem „genießt“ er das alles, „ohne nachzudenken“. Nach der Menschenliebe ist Nachdenken ein weiteres Schibboleth, das von Groddeck eingeführt wird. Ibsen wird gelobt, da er „wissend“ ohne Nachdenken ist.

Was die Stellung des Dichters und der Dichtung anbetrifft, liest sich der Text wie eine Replik auf Freuds Aufsatz „Der Dichter und das Phantasieren“ (1908). Wie Freud betont auch Groddeck den unbewussten Charakter der literarischen Produktion. Wie Freud stellt Groddeck seine Zuhörer als „Laien“ dem Dichter gegenüber. Anders als Freud, der eine analytische Studie in Angriff nimmt, um über das Wesen des Dichters nachzudenken und „Aufklärung“ zu betreiben, wobei er viel mit Begriffen arbeitet und literarische Texte nur stellenweise und fragmentarisch, aber in einer größeren Spannbreite zur Illustration heranzieht, entfaltet Groddeck eine längere Besprechung eines einzelnen Werkes, „Peer Gynt“, die vom Anfang die Absicht bekundet, ohne Nachdenken auszukommen. Für Freud bleibt der Dichter eine „merkwürdige Persönlichkeit“, die er entschlüsseln will. Groddeck dagegen schützt den Dichter und hüllt ihn in den Mantel des Mysteriums. Nicht nur ist der Dichter in der Lage „allerlei in seine Dramen hineinzugeheimnissen“ und alles mit „göttlicher Ironie“ zu gestalten, sondern er ist selber – wie auch sein Dichten – ein Werk des Unbewussten und ihm dienstbar.

Groddecks Abweichungen von der Psychoanalyse bei der Konzeptualisierung des Unbewussten, bei denen er 1927 nicht nur auf „Der Dichter und das Phantasieren“, sondern auch auf weitere Texte Freuds zurückgreifen kann, werden erkennbar, etwa wenn er vom „unbewußten Leben“ spricht und betont, dass das eigentliche „Leben“ „undarstellbar“ sowie vor allem „dem Verstande kaum faßbar“ sei und sich dem Leser nur dank dem Dichter – allerdings wieder in geheimnisvoller Form – ein Stück weit offenbare.

Eine weitere wichtige Abweichung, zu der ihm Ibsens Stück ausreichend Stoff liefert, ist die Zentralstellung der Mutter, mit der er Freuds väterliche Psychoanalyse korrigiert und die präödipale Perspektive durchsetzen möchte: „daß der Mensch durch das Unbewußte gezwungen wird, immer und unter allen Umständen an seiner Mutter festzuhalten.“ Groddecks einfühlsame, poetische und enthusiastische Besprechung von „Peer Gynt“ bildet eine beeindruckende Folie, vor der diese Korrekturen fast unmerklich ausgeführt werden. Zentrale Elemente der Groddeck’schen Ästhetik wie Ironie und Spiel erscheinen auch hier. Trotz der leichtfüßigen, verspielten Diktion werden die Deutungen mit einem hohen Grad an Gewissheit vorgetragen: „Es ist kein Zweifel […], „nichts andres als […]“, „nur so.“

Ein besonders wichtiger Unterschied zu Freud ist die Eliminierung der Außenwelt, die Groddeck in seiner Umdichtung Ibsens vornimmt: „für beide [Aase und Peer] existiert im Grunde die übrige Welt nicht, sie haben eine eigne Welt“. Mutter und Sohn sind „eine Welt für sich“. Diese Innigkeit ist Resultat von Peers Flucht „zur Mutter“. Groddeck nutzt den psychoanalytischen Begriff „Mutterimago“, um die Differenzen zwischen Mutter und Geliebte ganz zu verwischen und die „ewige Mutter“ zu etablieren. Diese Gleichsetzung schreibt er vor und kritisiert Theateraufführungen, die dies vernachlässigen. An dieser Stelle wird seine Kritik besonders scharf. Ein weiterer Mechanismus, auf den er sich beruft und mit dem das ,Ewig Kindliche‘ zementiert wird, ist die (scheinbare) Umkehrung: man wird „Kind seines Kindes“.

Anders als bei Freud ist Groddecks Besprechung von „Peer Gynt“ eine Verherrlichung und Glorifizierung des Träumens und des Träumers. Peer Gynt träumt „unablässig“. Wie das Kind bei Freud „sondert“ Peer Gynt sehr wohl die Ebene der Träume von der Wirklichkeit. Während aber der erwachsene Tagträumer bei Freud „seine Phantasien vor anderen sorgfältig verbirgt“ und diese Tagträume Freud zufolge auf andere Menschen abstoßend wirken, demonstriert Groddeck am Beispiel Peer Gynts den sublimen Charakter der Tagträume und erhebt die Sphäre des Traums und der Phantasie zur einzig relevanten Sphäre.

Bei Freud wird im dichterischen Werk der an sich „egoistische“ Tagtraum „gemildert“ und „verhüllt“, für Groddeck ist der Tagtraum nicht nur der Wirklichkeit überlegen, sondern es kommt auch zu einer Aufwertung, Ästhetisierung und Sublimierung des Egoismus.

Freud versucht zwar, den Tagtraum und die Fantasie gehörig zu würdigen, für ihn haben Tagträume letztendlich aber den Charakter des Mangelhaften, und das Ziel der Psychoanalyse ist die Überführung der Fantasie in die Wirklichkeit, die Unterordnung unter das „Realitätsprinzip“. Groddecks Besprechung von Peer Gynt hingegen ist nicht nur eine Apotheose des Kindes, das er als „Kaiser“ bezeichnet, sondern auch die völlige Verwerfung des Realitätsprinzips und die Apotheose des Lustprinzips. Freud verweist auch auf mögliche Kompromisslösungen zwischen Realität und Fantasie – die Verhüllung der Fantasien in der Kunst oder die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Spiel und Wirklichkeit im Humor, Groddeck hingegen eliminiert die Ebene der Realität fast vollständig. Bei Freud regiert die „strenge Göttin“ der „Notwendigkeit“, er betrachtet Phantasien als Ausdruck „unbefriedigter Wünsche“ und kommt zur Diagnose: „Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte“. Er rückt das Phantasieren in die Nähe der Neurose und stellt „das Überwuchern und das Übermächtigwerden der Phantasien“ – also genau das, was Groddeck an Peer Gynt so fasziniert – als Bedingung für den „Verfall in Neurose und Psychose“ hin. Wo bei Freud von „Traumentstellung“ die Rede ist, feiert Groddeck die Allmacht des Traumes und der Fantasie. Für Groddeck sind dem Menschen „die Kraft und der Zwang des wachen Träumens, des Phantasierens gegeben“, sie sind also göttlich, unausrottbar und ewig. Für Versuche eines Kompromisses zwischen Wirklichkeit und Traumleben hat Groddeck nur Verachtung übrig: „Niemals verliert er [Peer Gynt] sich in seine Träume, niemals macht er den schwächlichen Kompromiß, der sonst üblich ist, ein Stückchen von dem Traumleben in Wirklichkeit umzusetzen.“ Groddeck schafft Sympathien für diese Sichtweise durch den Hinweis auf „unser Entzücken“ über Peer Gynt. In diesem Text liegt eine noch deutlichere, stärkere Emotionalisierung der Literaturkritik als bei der Besprechung von „Nora“ vor. Charakteristisch sind Ausrufe wie „Ach“ (es geht um die Sinnlichkeit der Frau, die bekanntlich von Freud unterschätzt wurde) oder „Pfui Teufel!“ (in Bezug auf die Nicht-Gleichsetzung zwischen Aase und Solvejg. Diese Nicht-Gleichsetzung berührt in letzter Konsequenz die von Freud für das erwachsene Individuum empfohlene Loslösung von der Mutter und die notwendige Bindung an fremde Liebesobjekte).

Groddeck stellt die Kompetenz des Dichters über die Kompetenz des Psychoanalytikers: „Es ist immer noch der einfachste Weg, bei den großen Dichtern anzufragen, wie Weibesart ist.“ Er führt Beweise an, „dichterische“ Beweise. Trotz der Korrektur und der impliziten Verwerfung Freud’scher Auffassungen beruft sich Groddeck bereitwillig auf die Psychoanalyse, erklärt aber nicht Freuds Bücher und die psychoanalytischen Publikationen und Lehrbücher, sondern Ibsens Drama für den wahren Weg zum Unbewussten – und sogar zur besseren Vermittlung der Psychoanalyse: „Ist es nicht ein gewaltig lebendiges Verkünden psychoanalytischer Lehre?“ Eine weitere Aussage aus Groddecks Zeitschrift „Die Arche“ geht in dieselbe Richtung: „Man braucht nicht Psychoanalytiker zu sein, um Psychoanalyse zu treiben. Das Leben des Menschen verläuft in dauernder analytischer Tätigkeit, das Leben jedes Menschen.“

Groddeck hält sich äußerlich an das psychoanalytische Verdrängungskonzept, das er am Inzestwunsch veranschaulicht, da aber das Unbewusste bei ihm „das lebende, unheimlich mächtige Unbewußte“ ist, steigen aus diesem Unbewussten nicht nur „Krankheit, Verbrechen und Torheit“, sondern auch Kunstwerke und die „Größe des Menschen“ auf. Groddeck befreit das Fantasieren aus dem Griff des Freud’schen Verdrängungskonzepts: „denn Fantasieren ist ja eben nicht Verdrängen. Verdrängung entsteht erst aus dem jämmerlichen Kompromiß, der die Phantasie in die Wirklichkeit umsetzen will und zu diesem Zweck den Herzschlag der Phantasie real regelt. Realitätsprinzip nennt man´s.“ Dies sind Seitenhiebe in Richtung Freud. Genauso wie die Verwerfung des „psychischen Traumas“ der Kindheit, eines fundamentalen psychoanalytischen Konzepts, und die Erhebung des Kindes zum „Prinzen“.

Die Sozialkritik, die Freud mit seinen Vorstellungen vom Fantasieren und vom kindlichen Trauma betreibt, fehlt bei Groddeck. Dafür betreibt hier Groddeck mit Hilfe des umgearbeiteten Ibsen Psychoanalysekritik.

Eins der stärksten Momente und das Herzstück des Textes ist die gegen Freud und dessen Orientierung am Ich gerichtete und an Peer Gynt bestens exemplifizierte Aufforderung: „Mensch, sei ein Du, ein Du für dich selbst, oder meinetwegen: sei dir ein Selbst! Höre auf, ein ‚Ich‘ zu sein. Versuche deinem Selbst gegenüberzutreten wie ein Kind. Mache dein Selbst zu einem Teil des Ganzen, des Alls.“ Groddecks Menschenbild, das hier zum Ausdruck kommt und das sich vor allem gegen Freuds Konzeption des Ichs aus der Schrift „Das Ich und das Es“ wendet, steht dem Freud’schen Menschenbild diametral entgegen. Freud versucht, den geschwächten Kern der Persönlichkeit – dieser Kern ist für ihn das Ich – zu stärken. Groddeck hingegen proklamiert mit Hilfe von Peer Gynt die Kernlosigkeit des Menschen, den „Zwiebelmenschen“, der aus vielen Schalen bestehe. Anhand des Scheiterns von Peer Gynts Bemühungen um einen solchen Kern versucht Groddeck auch dem Leser den Wunsch nach einem solchen Kern auszutreiben und ihm die Kernlosigkeit als Ziel schmackhaft zu machen.

Groddeck entdeckt im Ibsen’schen Stück auch die Gegenfigur zur Göttin Ananke, die bei Freud mit der Realität und dem Ich vergesellschaftet ist und die gegen das „Machtstreben des Es“ gerichtet ist: Nachdem er die deutsche Übersetzung einer der Figuren, des Krummen, kritisiert und verworfen hat, ersetzt der Redner das norwegische „stone Bojgen“ durch den „große[n] Beuger“. Der Beuger ist für Groddeck das Selbst, das „sich und alle beugt“. Er findet also in Ibsens Drama eine Personifikation seiner Idee vom Selbst sowie der Instanz des Selbst und setzt sie dem Ich und der Freud’schen Ananke entgegen. Das Selbst, „der große Beuger“ – eine Verbindung aus Demut und Selbstbewusstsein, ist „überall“, „ist nicht zu überwinden“ und „nicht totzuschlagen“.

Diese Konzeption des Selbst erinnert an das Selbst bei Nietzsche, welches ebenfalls Selbst- und Schicksalsliebe verbindet. Die schützende Nähe zu Nietzsche und der konkrete Wortlaut des norwegischen Originaltextes („mig selv“) sind wohl die Gründe für die Ersetzung des Groddeck’schen Es durch das Selbst an dieser Stelle. Neu ist aber, dass bei Groddeck auch die Angst vor dem Selbst ins Spiel gebracht wird, die bei Nietzsche fehlt. Aber auch hier findet Groddeck einen Erlösungsweg in Ibsens Stück: Die Angst vor dem „große[n] Beuger“ überwindet Peer Gynt „an Mutters Brust“. Die Mutter, die uns vor dem „großen Beuger“ beschützt und in den Schlaf wiegt, ist die Geburt und das Grab zugleich: „Aus dem Dunkel der Mutter kommen wir, ins Dunkel der Mutter gehen wir“.

6. Schlussbemerkungen

Die vorangegangenen Überlegungen zeigen die große Bedeutung der Literatur für Georg Groddeck. Literarische Werke genießen ein hohes Ansehen und werden neben Bergen, Flüssen, Tälern und Bäumen als Offenbarung von Gottnatur betrachtet, sodass der Dichter einen gottähnlichen Status erhält. Es wurde aber auch gezeigt, dass dieser erste Eindruck einer Präzisierung und Differenzierung bedarf. Groddeck geht sehr selektiv vor und stellt Kriterien für die Idealdichtung auf, die nur wenige Autoren und Texte erfüllen. Mittelmäßige Autoren und Texte bestraft er mit Verachtung. Die Texte großer Autoren wie Ibsen, die mit ihrem Psychologismus, ihrem analytischen Charakter, ihrem Hang zur Menschenliebe und ihrem sozialkritischen Radikalismus gegen die Groddeck’schen Kriterien verstoßen, werden umgestaltet und mit neuem weltanschaulichen Gehalt imprägniert. Die recht originellen, poetisch brillanten und von bewegender Emotionalität durchtränkten Buchbesprechungen Groddecks täuschen den Leser leicht über den Stellenwert der Literatur in seinen Werken hinweg.

Die genaue Untersuchung dieser Texte ergibt dagegen, dass genuin literarische und ästhetische Gesichtspunkte hier nur eine sekundäre Rolle spielen und dass sie zur Illustration, Nachweis und Plausibilisierung weltanschaulicher Wahrheiten herangezogen werden. Am Beispiel der Besprechung von Ibsens „Peer Gynt“ konnte demonstriert werden, dass Groddeck bei der Durchsetzung seiner Perspektive auf literarische Texte zurückgreift und mit Hilfe der Autorität der Dichtung, die er vorher einer Uminterpretation unterzogen hat, seine von Freud und der Psychoanalyse abweichenden psychosomatischen Ansichten forciert. Groddecks Strategie ist gut durchdacht: er greift tief ins Gewebe der literarischen Werke und verändert sie, um dann mit ihnen zentrale Aspekte der Psychoanalyse abzutragen. Dabei geht es jetzt, Ende der 1920er-Jahre, nicht mehr nur um die schon längst erfolgte und von Freud lizenzierte Ausdehnung der Psychoanalyse ins Organische, sondern um weltanschauliche Positionen, in deren Mitte der Gedanke von der „geheimnisvollen Kraft“ des Es steht.

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