Verwandlung

In Mircea Cartarescus Roman „Travestie“ werden die Gespenster der Vergangenheit zu Literatur

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinen 34 Jahren ist Victor ein gestandener Schriftsteller, auch wenn er zu seinem Werk ein gespaltenes Verhältnis hat. Erzählungen, Romane, eine Frau, ein Peugeot und eine Wohnung im Zentrum Bukarests: In Rumänien um 1990 ist das, objektiv gesehen, eine Erfolgsgeschichte.

Doch da gibt es etwas in seiner Vergangenheit, das Victor nicht loslässt, das ihn immer wieder aufs Neue bedrängt. Jahre nach den Geschehnissen selbst versucht Victor, eines scheinbar nebensächlichen Ereignisses Herr zu werden: 1973 war es während eines Klassenlagers in den Bergen zu einer Begegnung gekommen, die den 17-jährigen Victor nachhaltig verstören und ihn später in einer Abwärtsspirale zu Klinikaufenthalten zwingen sollte. Während der Abschlussfeier am Abend vor der Rückfahrt in die Stadt hatte sich ein Mitschüler, Lulu, als Frau verkleidet und Victor ungebührlich berührt. Dieser eine Augenblick barg dermaßen viel Sprengkraft, dass er Victor in die Krise stürzte. Es stellte sich ihm schlagartig die Frage nach seiner sexuellen Identität, wie aber auch nach dem richtigen Leben zwischen Entsagung und Teilhabe. Diese eine Berührung wirft ein Schlaglicht auf ein wichtiges Motiv von Mircea Cartarescus Roman „Travestie“: Victor bereitet sich nämlich zu jener Zeit auf das eigentliche Leben vor, und in seiner Vorstellung wäre das ein Leben ausschließlich mit und für die Literatur. Der junge Mann träumt von einer Existenz, die ihn zum totalen Buch führen würde, und er votiert daher für bewusste Einsamkeit und Askese. Die Verführung durch das Leben, sinnbildlich konzentriert in der Begegnung mit Lulu, droht ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Und doch bleibt Victor eben auf eigenartige Weise vom pulsierenden Leben fasziniert. Abseits stehend beobachtet er das langsame Erwachen der Sexualität bei seinen Klassenkameraden. Der Kampf zwischen Literatur und Leben gipfelt in Victors Überzeugung, dass man wählen müsse zwischen „dem Großen Durchbruch“ und der „Vulva“.

Wie Zaubersprüche rezitiert Victor ständig Gedichte, um seine Welt und seinen Traum vom wahren Leben zu beschützen und zu erhalten, um einer Existenz willen, die ganz in Literatur verwandelt werden soll und von den anderen nicht mehr infiziert werden kann: „Allein die Verse, die ich mir in Gedanken vorsagte, retteten mich, sie machten mir Mut und ließen mich von den Stunden träumen, da ich in anderer Einsamkeit unter der schwarzen Sonne der Inspiration die Rechnung begleichen und mein Leben zurückerwerben würde, indem ich es in das eine Buch verwandelte“. Cartarescus Roman wird hier zum Plädoyer für die Literatur, die als die Anverwandlung der Vergangenheit zu verstehen wäre. Denn in Victors bestürzender Begegnung mit Lulu deutet sich an, dass die Literatur vielleicht nicht gegen das Leben ausgespielt werden kann und darf. Doch liegt gerade darin wiederum auch die Macht der Literatur verborgen: Sie kann immerhin den Versuch unternehmen, die Chimären der Vergangenheit zu bannen.

Erst nach vielen Jahren begreift auch Victor allmählich, dass ihn jene Geschehnisse nicht in Ruhe lassen werden, bis er sie schreibend in sein Leben eingefügt hat. Die Anverwandlung jenes schicksalhaften Moments, die Verwandlung von Leben in Text ist denn auch ein großes Thema dieses Romans. Ganz zu Beginn steht Victor vor dem Spiegel und spricht sich selbst wie einen Fremden an. Später aber erkennt er, dass er sein früheres Ich mit seinem heutigen zusammenführen muss. Dafür muss er die Ereignisse aus dem Schullager noch einmal Revue passieren lassen, muss die Geister der Vergangenheit wieder heraufbeschwören, um sie schließlich endgültig bändigen zu können. So kreist der Roman um die Frage, was damals wirklich geschehen ist. Victor versucht zu ergründen, wieso er der geworden ist, der er heute ist. Die tastende Suche nach der Vergangenheit erweist sich als komplex und schmerzhaft, und Victor wird von ihr zugleich angezogen und abgestoßen.

Die Travestie steht im Roman also nicht nur für den als Frau verkleideten Lulu, sondern auch für Victors Reifeprozess. Die Vergangenheitsbewältigung, die dieser Roman leistet, ist allerdings eine rein individuelle. Victor allein wird sich – seinem Namen gemäß – am Schluss als Sieger ausrufen können. Die große Leerstelle des Romans ist hingegen die politische Wende von 1989. Aber auch schon die jungen Bukarester Gymnasiasten des Jahres 1973 haben wenig mit der Politik am Hut, den Jugendlichen merkt man den kommunistischen Bauern- und Arbeiterstaat nicht an. Natürlich sind dies künftige Intellektuelle, aber auch hier wachsen sie heran: Man singt englische Songs und rezipiert westliche Philosophie. „Travestie“ ist auch in dieser Hinsicht ein Buch über das Reifen. Aber vielleicht ist der überindividuelle, der politische Wandel gerade in seiner Abwesenheit gleichwohl präsent. Zumindest bleibt im Hinterkopf stets das Wissen um jene andere, umfassende Verwandlung, welche um 1990 die rumänische Politik und Gesellschaft ergreifen sollte.

Cartarescus „Travestie“ erinnert in vielerlei Hinsicht an „Die Wissenden“, den ersten Teil seiner Orbitor-Trilogie, der international auf große Beachtung gestoßen ist. Dabei ist „Travestie“ im Original bereits 1994 erschienen. Schon in diesem Buch ist Cartarescus Sprache verspielt und farbig. Fantastisches, Surreales, mitunter auch Szenen wie aus einem Horrorfilm vermischen sich mit Träumen und Kreaturen aus dem Unterbewussten. Eine postmoderne Schreibweise, die aber nicht in Beliebigkeit übergeht. Cartarescu wird nicht zum Gefangenen des sprachlichen Spieltriebs, sondern führt den Stil immer eng an der Entwicklung der Handlung entlang.

Er scheint eine Vorliebe für den Raum zu haben, was sich besonders in einem insistierenden Benennen und Beschreiben von Ortschaften, Gebäuden und Innenräumen äußert. Während in „Die Wissenden“ die wahre Hauptgestalt vielleicht die Stadt Bukarest mit ihren Straßenschluchten und zerfallenden Häusern ist, so spielt die Handlung in „Travestie“ nun zwar vorwiegend auf dem Land, wiederum aber bestimmt der Raum Geschehen und Figuren entscheidend mit. Im Kurort Budila des Jahres 1973 ist es die Villa, worin die Schüler untergebracht sind, mit ihren entlegenen Zimmerfluchten und dem gespenstischen Estrich, aber auch das reine, idyllische „Tal des Paradieses“. In Cumpatru, wo Victor um 1990 den Geistern der Vergangenheit schreibend beikommen will, ist es eine Villa, die von Victor als „Zauberberg“ charakterisiert wird. Hier kuriert er sich von seiner Vergangenheit. Gleichzeitig schwingt im Roman immer auch eine Spannung zwischen Provinz und Stadt, zwischen Natur und Zivilisation mit.

Zu Cartarescus Markenzeichen gehört auch die Intertextualität. Victor liest im Lager sinnigerweise Franz Kafkas „Verwandlung“. Doch nicht nur Gregor Samsa wird aufgerufen – auch andere literarische Figuren wie Adrian Leverkühn aus Thomas Manns „Doktor Faustus“, Swidrigailow aus Fjodor Dostojewskis „Schuld und Sühne“ und Roderich Usher aus Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ haben in „Travestie“ ihren Auftritt. Wie Chimären geistern auch sie durch die Räume der Villen und scheinen dabei jeweils eine Facette von Victors Person zu beleuchten. Allerdings hat Kafkas „Verwandlung“ (im Rumänischen: „Metamorfoza“) dem Übersetzer auch einen kleinen Streich gespielt. Als nämlich die Klassenfahrt im Jahr 1973 zu Ende geht, merkt Victor im letzten Moment, dass er seine „Metamorfoza“ in der Villa liegen gelassen hat. Ernest Wichner übersetzt hier überraschenderweise mit „Metamorphosen“. Das aber lässt an Ovid denken, obwohl der hier gar nicht gemeint ist. Und doch: Ovid, der seinerzeit ans Schwarze Meer verbannt worden war und damit auch ein wenig als Ahne der rumänischen Schriftsteller gelten kann, könnte mit seinen Büchern von den Verwandlungen sehr wohl für „Travestie“ Pate gestanden haben.

Titelbild

Mircea Cartarescu: Travestie. Roman.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Ernest Wichner.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
171 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421796

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