Wer war Alejandro Bevilacqua?

In Alberto Manguels Roman „Alle Menschen lügen“ verschwimmen Wahrheit, Lüge und Fiktion zu einer dichtgewebten Narration über den Verlust von Identität im Exil

Von Ulrike WeymannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Weymann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bevilacqua wird mit zertrümmertem Schädel und gebrochenen Gliedmaßen auf dem Gehsteig eines Hauses in Madrid gefunden. Offensichtlich ist der argentinische Exilant aus dem Fenster gestürzt. War es Mord? Ein Unfall? Oder Selbstmord? Diesen Fragen und insbesondere die, wer Alejandro Bevilacqua eigentlich war, versucht der Journalist Jean-Luc Terradillos ein gutes Vierteljahrhundert später nachzugehen. Dafür sucht er Zeugen und Wegbegleiter des (fiktiven) Exilanten auf, deren Stimmen im Folgenden den Roman konstituieren. „Alle Menschen lügen“ ist keine lineare Erzählung, sondern setzt mit jedem Kapitel wieder von Neuem an, um die Biographie und die unglückliche Verkettung von Ereignissen, die zu Bevilacquas Tod führten, aus einer anderen Perspektive zu erzählen. Je nach Sichtweise erscheint Bevilacqua dabei als Held, Opfer, Verräter, Don Juan oder glücklos Liebender.

Die Differenzen könnten kaum größer sein als in den vier Berichten, die im Folgenden Alberto Manguel über den Schriftstellerkollegen, Andrea über ihren Geliebten, Marcelina Olivares über seinen ehemaligen Zellengenossen und ein weiterer argentinischer Schriftsteller aus der Madrider Exilantenszene über Alejandro Bevilacqua abgeben. Der Roman besteht aus insgesamt fünf Kapiteln und endet mit dem Eingeständnis des Journalisten, für diese Vielstimmigkeit keine einheitliche Fassung gefunden zu haben. Eine Biografie schreiben zu wollen, sei mit dem Spielen des chinesischen Legespiels Tangram vergleichbar, bei dem man geometrische Teile auf einem karierten Papier anlegt, auf dem Schattenrisse verschiedene Figuren darstellen: „Mit Bevilacqua ging es mir nicht anders. In meinem Geist existierte der vollkommene Schattenriß eines Mannes, aber will ich ihn bedecken, gibt es zu viele oder zu wenige Fakten. Immer wieder kann ich die Zeugnisse neu anordnen, sie zurechtstutzen oder umdrehen, am Ende passt ein Teil nicht zu den anderen, ragt über den Rand hinaus oder bedeckt nicht das, was ich die richtige Darstellung nennen würde“, resümiert Terradillos am Ende. Doch dort sind wir noch nicht angelangt, sondern versuchen zunächst, die wenigen Fakten über den Helden und damit den Romaninhalt zu resümieren.

Unser Romanheld wächst in Buenos Aires bei seiner Großmutter auf und beginnt nach deren Tod Philosophie und Literatur zu studieren. Dort lernt er seine Frau Graciela kennen, die gegen die Militärdiktatur eintritt. Obwohl selbst völlig unpolitisch, wird Alejandro verhaftet und über Monate in einem staatlichen Folterzentrum, wie es in Argentinien während der Zeit der Militärjunta insgesamt 700 gab, inhaftiert und gequält. Er teilt seine Zelle mit Marcelina Olivares, der aufgrund seines unvorteilhaften Aussehens auch Chincho, das Schweinchen, genannt wird: „Kurze Arme, gestutzte Beine, ein Rumpf wie ein Fass und ein Gesicht, das eher für den Ekel als fürs Begehren bestimmt ist: das bin ich“, sagt Olivares nüchtern über sich selbst.

Olivares macht Geschäfte mit den korrupten Machthabern und unterschlägt dabei eine größere Summe. Nun wollen die Folterer die Ziffern und damit den Zugang zu dem Schweizer Nummernkonto erpressen. Die Passagen über die diabolische Logik der Folterer und die Grauen der Haft gehören zu den stärksten Teilen des Romans. Immer wieder werden auch mögliche Funktionen von Literatur dabei reflektiert, etwa wenn die Geliebte Alejandros dem Journalisten von den Umständen der Haft berichtet: „Als sie bei einem für ihn [Alejandro] unsichtbaren Hauseingang eintrafen, griff einer im Wagen zum Funkgerät und sprach etwas hinein, was das Codewort für das Öffnen sein musste: ‚Urani‘’. Das war das erste Wort eines neuen Vokabulars, das Alejandro während seiner Haft erlernen musste, als wäre er plötzlich gezwungen, sein vergangenes Leben auszulöschen und in eine horrende Schule zu gehen, in der Gespensterhände in breiter Schönschrift kryptische Wörter an die Tafel schrieben: der Operationssaal, die Maschine, der Grill, der Eierladen, der Löwenkäfig, die Kapuze, die Augenbinde, der Saustall, das Rohr, die Koje, der Lastwagen, die Flüge, das Fischfutter, das Aquarium. Schreib mir, Terradillos, das ist ein historisches Dokument.“ Auf den folgenden Seiten und in den sich anschließenden Berichten sowohl des Zellengenossen Chincho als auch des Denunzianten Gorostiza, wird dem Leser die Bedeutung dieses grauenvollen Vokabulars klar.

Nach einigen Monaten wird Bevilacqua genauso grundlos wieder entlassen, wie er zuvor inhaftiert wurde und ihm gelingt die Flucht nach Madrid. Dort ist er Teil eines größeren Exil- und Bohèmekreises und lernt neben dem Schriftsteller Alberto Manguel – dieser fungiert namentlich als eine der Romanstimmen – auch seine Geliebte Andrea sowie den Schriftsteller Gorostiza kennen, der – wie sich später herausstellt – als Denunziant die spanische Exilszene infiltriert. Andrea hält Bevilacqua, der stets beteuert, für einen Schriftsteller viel zu fantasielos zu sein, für einen großen Autor. Als sie in seinem Koffer ein verfasserloses Manuskript mit dem Titel „Lob der Lüge“ findet, fühlt sie sich bestätigt. Ohne Rücksprache gibt sie es einem Verleger, der es groß herausbringt. Doch Bevilacquas Reaktion ist erstaunlich. Statt sich ob des Erfolgs zu freuen, flüchtet er bei der Buchpräsentation aus der Buchhandlung in die Wohnung seines Freundes, Alberto Manguel, der sie ihm fürs Wochenende als Zuflucht überlässt. Noch in derselben Nacht allerdings stürzt der gefeierte Debütant vom Balkon und kann nur noch tot geborgen werden.

Mit dieser Wende sind wir wieder beim Beginn der Rezension, nämlich der Frage: Wer hat Alejandro Bevilacqua ermordet? Haben ihn die Gespenster der Vergangenheit in Form des Denunzianten Gorostiza eingeholt? Wurde Bevilacqua verraten, wie damals in Argentinien? Mittlerweile ist außerdem auch Chincho und seine totgelaubte Frau mit dem Spitznamen Pájara Pinta (buntes Vögelchen) in der Madrider Exilantenszene aufgetaucht. Was hat es mit diesem korrupten ehemaligen Komplizen der Militärs auf sich? Oder hat Bevilacquas Tod nichts mit der Politik, sondern mit der Buchveröffentlichung zu tun? Wieso reagiert der mutmaßliche Autor so befremdlich bei dessen feierlicher Präsentation? Ist er vielleicht gar nicht der Urheber? Oder hat sich mit dem Fenstersturz ein gehörnter Ehemann gerächt? Denn während ihn der Schriftstellerkollege Manguel als zwar elegante und hochgewachsene, aber melancholische und in Bezug auf Frauen schüchterne Person schildert, stellt ihn die Ex-Geliebte als wahren Casanova dar, dem zu widerstehen Frauen unmöglich war.

Manguel webt in seinem Roman ein dichtes Netz aus Vermutungen und Lügen, in dem Identitäten verschwimmen und Gewissheiten sich auflösen. Alle fünf zu hörenden Stimmen sind absolut unzuverlässige Erzähler. Aber wer ist unter dem Druck des Staatsterrors und später im Exil, das zudem noch durch argentinische Spitzel infiltriert wird, überhaupt verlässlich? Über die Atmosphäre in Argentinien während der Zeit der Diktatur von 1976 bis 1983 liest man: „Damals ging man mit gesenktem Kopf durch Buenos Aires, versuchte, nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu sagen. Vor allem nichts zu denken, denn man hatte bereits Angst, dass selbst die Gedanken gelesen werden könnten.“

Über den politischen Subtext hinaus bringt der Roman jedoch ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Erscheinungswelt zum Ausdruck: „Wie können wir uns von unserem beschränkten Standpunkt in der Welt aus selbst beobachten, ohne uns falsche Vorstellungen zu machen? Wie unterscheiden wir Wirklichkeit und Verlangen?“ Dem 1948 in Buenos Aires geborenen Romancier, Dramatiker, Übersetzer und Sachbuchautor Alberto Manguel ist mit „Lob der Lüge“ ein klug konstruierter und sprachlich facettenreicher Roman über die argentinische Geschichte, das Leben im Exil und die Macht der literarischen Fantasie gelungen. Literatur hat die Macht, Wirklichkeit zu erschaffen. Aber was ist die Wirklichkeit? Schließlich konstruieren wir immerzu lediglich Modelle der Wahrnehmung.

Titelbild

Alberto Manguel: Alle Menschen lügen. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Susanne Lange.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010.
235 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783100487575

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