Wo ist der Himmel?

„Die Morgenröthe der Aufklärung, die Milderung der Sitten“: Johann Peter Hebel als Prediger

Von Alexander WeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Weil

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Predigten werden nicht gehalten, um nach literarischen Gesichtspunkten beurteilt zu werden, sondern, um erhört zu werden. Ob Johann Peter Hebel in diesem Sinne ein begabter Prediger war, ein Prediger, der das Wort Gottes als Mittel des Heils so zu verkünden vermochte, dass es die nötige Aufmerksamkeit erhielt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ein Zeitgenosse und sein erster Biograf, Gustav Friedrich Sonntag (1788-1858), berichtet vom „ausgezeichneten Beifall“, der Hebel zuteil wurde.

„Er sprach mit Ruhe und mit tiefem Gefühle. Er verschmähte alle künstliche Declamation, aber der Ton war der treue Ausdruck seines fühlenden Herzens. Er bewegte nur selten seine Hände, aber um so bedeutungsvoller war der Ausdruck seiner Augen und seiner Gesichtszüge.“ Dagegen äußert sich der Philologe, Hebelpreisträger und Herausgeber seiner Werke, Wilhelm Altwegg, kritisch. „Hebel wusste, dass die Predigt nicht seine Stärke war. Es erlebt eine Enttäuschung, wer bei ihm auch hier Frische und Volkstümlichkeit zu finden vermeint.“ Doch stützt Altwegg sich bereits auf die gedruckten und noch von Hebel selbst überarbeiteten Predigten, wie sie 1838 erstmals publiziert worden waren.

Anlässlich des 250. Geburtstages des Dichters ist jetzt nach 172 Jahren diese Sammlung von 38 Predigten, in chronologischer Reihenfolge geordnet, neu erschienen: Johann Peter Hebel – Predigten – Die Morgenröthe der Aufklärung, die Milderung der Sitten, herausgegeben von Thomas K. Kuhn, Professor für Kirchen- und Theologiegeschichte in Basel, und Hans Jürgen Schmidt, evangelischer Pfarrer, Pädagoge und Präsident des Hebelbundes Lörrach.

Der Untertitel ist einer Predigt zum zweiten Weihnachtstag des Jahres 1799 entnommen, in der es heißt: „Manches edle menschenfreundliche Herz faßt und hält in seinen Gefühlen Wünsche und Hoffnungen für die ganze Menschheit fest. Es muß zum Bessern gehen, so sagt es sich. Die Morgenröthe der Aufklärung, die Milderung der Sitten, diese weisere Erziehungslehre muß Segen bringen, und es muß in den Jahren eines Menschenlebens bemerkbar werden.“

Obwohl Hebel den Begriff der Aufklärung in seinen Predigten nur ein Mal – und an anderer Stelle – explizit als Epochenbezeichnung verwendet, ist ihr aufklärerischer Charakter in Sprache und Theologie allgegenwärtig.

Als Student der evangelischen Theologie in Erlangen war Georg Friedrich Seiler (1733-1807) einer von Hebels Lehrern. Seiler gilt als bedeutender evangelischer Theologe der Spätaufklärung. Das Bemühen, Vernunft und Glaubenswahrheit in Einklang zu bringen, ist für Hebels Theologie kennzeichnend. In den Wundern des Alten und Neuen Testaments sieht er göttliche Kräfte am Werk, die sich ihm in der Natur offenbaren.

„Kein sterblicher Mensch ist imstande, das göttliche Geheimnis und das Wunder zu ergründen, daß aus einem Weizenkorn in der fruchtbaren Erde ein schöner, hoher Halm und eine Ähre voll neuer Körner herauswachsen und sich noch einmal und immer fort bis ins Unendliche vervielfältigen kann, daß der Segen, der in einem einzigen Saatkorn verborgen liegt, zur Ernährung vieler Tausend Menschen genügt.“

So legt er in seinen „Biblischen Geschichten“ das Wunder der Speisung der Fünftausend durch Jesus aus. Und im Kapitel „Die Auferstehung des Herrn“ schreibt er: „Der Mensch kann eine große Freude nicht schnell fassen. Ja, die größte Freude selber ist ein Schrecken.“

In den Predigten unternimmt er, dreißig Jahre zuvor, die ersten literarischen Schritte in diese Richtung eines aufgeklärten Verständnisses religiöser Offenbarung und greift, bis in die Wortwahl hinein, in seinen „Biblischen Geschichten“ darauf zurück.

Wer jedoch hofft, er würde in den Predigten Hebels auf Schritt und Tritt dem Dichter begegnen, wird enttäuscht sein. Man muss ihn suchen. Er ist versteckt. In keinem Fall drängt er sich auf. Hebel ist in seinen Predigten als Dichter so unscheinbar, wie er es als Prediger in seiner Dichtung ist.

Heide Helwig spricht in ihrer Hebelbiografie vom „Prokrustesbett, in das sich der Autor hineinzwingt“, und vieles spricht dafür, dass er seine Predigttätigkeit selbst so empfand – zumindest während seiner Zeit in Karlsruhe als Hofdiakon mit monatlicher Predigtverpflichtung. Er griff auf Predigten zurück, die er bereits Jahre zuvor in Lörrach und Umgebung gehalten hatte. In einem Brief aus dem Jahre 1803 an seinen Kollegen Sebastian Engler in Schopfheim klagt er über die immer selben Texte, die es zu erläutern gelte. „Ich habe seit 11 Jahren den armen Pilatus schon so scalpiert und geschunden, daß kein Schakal aus der Wüste mehr eine genießbare Faser an ihm herunter nagen könnte, und die paar Schulterbeine und Hüftknochen, die ich noch von ihm übrig habe, kann ich in Gottes Namen nicht weich kochen. Ich muß sie nun den Zuhörern, so hart sie sind, an den Kopf werfen und sagen: Da! Das ist das letzte, und übers Jahr kommt mir nimmer.“

Was den Aufbau seiner Predigten betrifft, hält Hebel sich an die homiletische Praxis seiner Zeit: Er stellt einen Abschnitt aus den Evangelien voran, arbeitet ihn mittels Erklärungen und Beispielen aus und fasst ihn abschließend kurz zusammen.

Hebel legt sich die „Predigtkravatte“ um, aber er bindet sie lose; etwa in der Predigt vom 21. April 1793: „Sehr natürlich, wir sind Menschen und keine Engel. Wir können und sollen jetzt noch nichts anderes als Menschen seyn. Die Wahrheit ist nicht ferne von uns; sie liegt aufgedeckt in unsrer Mitte, der Engel schaut sie da mit leichtem Blick, wo wir sie mühsam suchen und finden. Aber uns mangelt als Menschen die Fähigkeit sie zu bemerken und zu unserem Eigenthum zu machen. Das irdische Auge sieht sie nicht, denn der unvollkommene Verstand würde sie doch nicht fassen; der Verstand faßt sie nicht, denn das sinnliche Herz würde ihren hohen Werth doch nicht fühlen; das Herz fühlt sie nicht, denn unsere schwache Kraft würde sie doch nicht zur Weisheit und Glückseligkeit benutzen dürfen.“

Hebel moralisiert nicht und spricht nicht mit verstellter Stimme, dennoch ist die Sprache seiner Predigten über weite Strecken Sonntagssprache. Sie lässt sich nicht unbedingt an den Erfahrungen messen, die man die Woche über macht. Er predigt, wie er es 1796 in einem Brief an den Arzt und Botaniker Karl Christian Gmelin ( 1762-1837 ) formuliert „kraft seines Amts“, tritt aber nicht im engeren Sinne als Verwalter des Glaubens auf, als einer, der zu Unmündigen spricht, denen es für das rechte Verständnis der christlichen Lehre an Intellekt fehlt, oder an der Gnade, daran teilhaben zu dürfen. Etwas unentschlossen im Tonfall, wechseln die Predigten zwischen Belehrung und Erbauung hin und her, und oft genug gewinnt trockene Belehrung die Oberhand, während seine poetische Ader vor allem dann hervortritt, wenn er erbauen will und emphatisch wird.

Thematisch kreisen sie immer wieder um die Theodizee: „Was ist Gott? Wo ist er? Wo ist der Himmel?“ Die Antwort darauf findet er in den Evangelien („Es kommt ein Tag, an demselbigen werdet ihr nicht mehr fragen.“), deren Offenbarungen er mittels Vernunftsgründen abzusichern versucht.

„Wir dürften nur unsere künftigen Schicksale vorher wissen, ach wie würde dann der Aengstliche zittern und der Sichere pochen! Wie würden Weisheit und Tugend in allen Ständen und Altern scheitern, und Glückseligkeit ein fermder Name seyn! Die besten Freuden der glücklichen Stunden wären verloren, wenn wir sie so ferne und langsam herannähern sähen; und das Unglück würde uns erdrücken, ehe es käme. Wir würden darben, ehe wir arm wären, kraftlos da liegen, eh wir krank würden, und todt seyn für uns und die Welt, ehe wir stürben“, heißt es in der bereits erwähnten Predigt vom 21. April 1793. Über weite Strecken findet der Dreiunddreißigjährige hier zu einer außergewöhnlich persönlichen und volksnahen Sprache. Unter dem Titel „Weisheit und Güte ist auch das, daß uns der Schöpfer über manches, was uns wichtig scheint, nicht so deutlich belehrt hat, als wir wünschen“, meditiert er – gewissermassen „auf Messers Schneide“ zwischen Offenbarung und menschlicher Vernunft – über die Rechtfertigung Gottes. „Auf Messers Schneide“, das heißt bei Hebel, wir sollen „aus dem was wir wissen, über das, was wir nicht wissen, uns beruhigen“ und „mit Demuth nach Wahrheit forschen“.

Wo den Menschen seiner Kalendergeschichten wahlweise Wahrheit und Gerechtigkeit winken, wie dem Esel Rüben vor der Nase, tröstet er in den Predigten sich und die Gemeinde damit, dass sie in diesem Leben unerreichbar sind.

Es war wohl Walter Benjamin, der als erster auf den „haggadischen“ Ton in Hebels Kalendergeschichten hinwies, auf ihre undogmatische, an die freie Einsicht des Einzelnen gerichtete, lehrhafte Erzählweise. Bereits in seinen Predigten finden sich erste Ansätze dazu – jedoch bei weitem nicht so deutlich, wie in seinen Kalendergeschichten und biblischen Geschichten für Kinder.

Dass der Dichter in seinen Kalendergeschichten „den Scheck der Ironie nicht anerkennt“ (Walter Benjamin), dürfte in erheblichem Maße mit dem christlichen Menschenbild zu tun haben, wie er es in seinen Predigten zeichnet, aber auch mit dem ländlichen Publikum, dem er in seinen frühen Jahren predigte und dem er selbst entstammt. Dienstboten und Bauern, deren Leben über Generationen hinweg so eng mit den Unwägbarkeiten ihrer Knechtschaft und der Natur verbunden ist, halten bekanntlich nicht viel von der überlegenen Zweideutigkeit ironischer Rede. Sie haben ohnehin Grund genug zum Kopfzerbrechen.

„Du lieber Gott, erhalte uns eine dichterische Religion.“, zitiert er 1800 in einem Brief an den Heidelberger Kirchenrat Christian Theodor Wolff (1765-1848) den zeitgenössischen Dichter Johann Jakob Mnioch und arbeitet in seinen Predigten daran. Es klingt nach einem Stoßseufzer, und es dürfte kein Zufall sein, dass seine ersten „Allemannischen Gedichte“ in diese Zeit fallen. Erst in seinen Gedichten hat er die seltenen „poetischen Blumen“ seiner Predigten „durch Poesie ersetzt“.

Im selben Brief schreibt er über sein Predigtverständnis: “Die Sinnlichkeit – sie will nicht besiegt, sondern gewonnen seyn, nicht als Sklavin der Vernunft, einem ihr fremden, sondern als befreundete Bundesgenossin einem gemeinschaftlichen Zwecke dienen“. Nicht immer gelingt es Hebel in seinen Predigten den hohen Erwartungen gerecht zu werden, die er hier schürt.

Ist dieses vorzüglich edierte Buch mit seiner aufschlussreichen Einführung von Thomas K. Kuhn zu empfehlen? In jedem Fall! Wo sonst, wenn nicht in seinen Predigten, erlebt man die ersten Schritte des Dichters auf seinem Weg in den Weinberg des Herrn.

Titelbild

Johann P. Hebel: Predigten. Die Morgenröthe der Aufklärung, die Milderung der Sitten.
Herausgegeben von Thomas K. Kuhn und Hans-Jürgen Schmidt.
Schwabe Verlag, Basel 2010.
282 Seiten, 39,50 EUR.
ISBN-13: 9783796526664

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