Familiengeschichte mit Brüchen

Zu zwei Moltke-Biografien von Olaf Jessen und Jochen Thies

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gleich zwei Publikationen kommen im Todesjahr der Gräfin Freya von Moltke mit einer Gesamtdarstellung der Familie ihres im Januar 1945 ermordeten Ehemannes und Widerstandskämpfers Helmuth James von Moltke auf den Markt. Das ist gleich in doppelter Hinsicht ungewöhnlich, sind doch Familienporträts eher selten, darüber hinaus aber auch Einzelbiogramme der prominentesten Repräsentanten des ursprünglich norddeutsch-dänischen Clans bisher nur sehr beschränkt verfügbar. Immerhin drei gewichtige Lebensbeschreibungen aus der Nachkriegszeit, die letzte von dem Multibiografen Franz Herre, liegen über den älteren Moltke, der militärischen Ikone der Einigungszeit, vor. Dessen heute noch am ehesten bekannten Urgroßneffen Helmuth James widmete erst vor kurzem der Bochumer Historiker und Theologe Günter Brakelmann eine beachtliche Biografie. Der oft gescholtene Generaloberst Helmuth von Moltke, Neffe des Siegers von Königgrätz und Sedan sowie glückloser Generalstabschef in der Eröffnungsphase des Ersten Weltkrieges, hat bisher jedoch noch keinen Biografen gefunden. .

Auf den ersten Blick beschreiten die beiden Verfasser, der eine, Olaf Jessen, freier Historiker aus Freiburg, der andere, Jochen Thies, Journalist und ehemaliger Redenschreiber von Altbundeskanzler Schmidt, denselben historiografischen Weg. Das bestens dokumentierte Leben und Wirken des siegreichen Feldherrn der Einigungskriege nimmt in beiden Bänden fast die Hälfte des Raumes ein. Den übrigen Platz teilen sich vor allem der so genannte jüngere Moltke, mit dessen Namen die Kriegsgeschichte bis heute das Scheitern an der Marne im September 1914 verbindet und der wohl prominenteste Vertreter des „Kreisauer Kreises“, der 1907 als ältester Sohn einer britisch-südafrikanischen Mutter geborene Helmuth James von Moltke. Dazwischen fügen sich quasi als biografischer Kitt einer Familiengeschichte, die immerhin zwei bewegte Jahrhunderte umspannt, kürzere Lebensbeschreibungen von weniger prominenten Vertretern des Moltke-Clans ein, die aber wie etwa der 1871 verstorbene Adolph von Moltke für die Familie gleichfalls ihre besondere Bedeutung haben.

Unverkennbar ist hierbei, dass sich Olaf Jessen, der schon eine lesenswerte Biografie des preußischen Generals Ernst von Rüchel vorgelegt hat, mit großer Virtuosität ein stimmiges Panorama des 19. Jahrhunderts präsentiert, in das er mühelos nicht nur seine beiden wichtigsten Protagonisten einfügen kann, sondern auch weniger bekannte Vertreter der Moltkes, wie etwa den unsteten Friedrich Wilhelm von Moltke, zuletzt General in dänischen Diensten und zugleich Stammvater der Parchimer Linie, von der beide Bücher in der Hauptsache handeln. Auch erweist sich das militärische Umfeld der beiden Generalstabschefs keineswegs als zu hohe Hürde für den Freiburger Autor, der es versteht, die Veränderungen der Kriegsführung im Zeitalter der industriellen Revolution überzeugend und anschaulich darzustellen.

Die zuweilen holzschnittartige Darstellung von Thies weist dagegen gerade für diese erste Phase der Familiengeschichte einige Unschärfen auf, zum Teil auch Fehler in allerdings weniger bedeutsamen Details.So dürften wohl kaum Generalstabschefs der „Rheinbundarmeen“ an den Kaisermanövern von 1913 teilgenommen haben, wie es in einer Bildunterschrift heißt. Auch konnte Moltke nicht erstmalig mit König Friedrich Wilhelm IV. im September 1855 in Balmoral zusammen getroffen sein, da dieser ihn schon drei Monate zuvor in Sanssouci zu einer längeren Audienz empfangen hatte. Zu fragen wäre auch, ob es tatsächlich Dänemark war, das als erste europäische Kolonialmacht die Sklaverei abgeschafft hatte. Das bei Jessen deutlich herausgestellte kritische Urteil des Türkeireisenden und späteren Generalfeldmarschalls über die verhängnisvolle Rolle des Islam im Zusammenhang mit der Apathie und Rückständigkeit des Osmanischen Reiches fiel hingegen bei Thies, offenbar der politischen Korrektheit zum Opfer.

In ihrem Gesamturteil über den siegreichen Feldherrn der Einigungskriege liegen die Autoren jedoch nicht weit auseinander, zumal es bei den geschilderten Episoden und ausgewählten Zitaten eine große Schnittmenge in beiden Darstellungen gibt. Zwar verstand es der ältere Moltke, die Konsequenzen einer sich zunehmend technisierenden Welt in ein stimmiges Konzept der Kriegführung einzufügen, doch tatsächlich taugte sein Kriegsbild nur für eine ganz bestimmte Form militärischer Konflikte, den so genannten Kabinettskriegen. Dem Volkskrieg hingegen, wie er sich schon in der zweiten Hälfte des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 angedeutet hatte, stand der Generalfeldmarschall ebenso hilflos gegenüber, wie dem späteren Problem des Zweifrontenkrieges gegen Frankreich und Russland. Nur einem beherzt dazwischen tretenden Reichskanzler Otto von Bismarck war es zu verdanken, dass der vom älteren Moltke und seinem Adlatus Alfred von Waldersee geforderte Präventivkrieg gegen das Zarenreich nicht schon 1887 zu einer europäischen Katastrophe geführt hat. Das unentbehrliche Gegengewicht einer beherzten und zielstrebigen politischen Führung fehlte jedoch im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, als sein einseitig militärisch geprägter Neffe und Nachfolger im Amt des Generalstabschefs auf ein frühes Losschlagen drängte, um den gordischen Knoten der Einkreisung des Reiches gewaltsam zu zerschlagen. Jessen resümiert hierzu ganz klar: Für das Problem des Zweifrontenkrieges gegen Frankreich und Russland gab es keine militärische Lösung, auch wenn die karmesinrote Garde im Backsteinbau an der Berliner Moltkebrücke noch so detaillierte und komplexe Aufmarschpläne entwickelte und bestrebt war, das letzte aus den Eisenbahnkapazitäten des Reiches heraus zu holen.

Der geistige Bruch, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Familiengeschichte mit dem Auftreten des Völkerrechtlers und späteren Hitlergegners Helmuth James von Moltke abzeichnet, lässt sich trotz formaler Kontinuitäten – so etwa blieb das Gut Kreisau bis in die 1930er-Jahre der Stammsitz der preußisch-deutschen Moltkes – kaum größer vorstellen. Auf der einen Seite die beiden Generalstabchefs, geprägt durch das 19. Jahrhundert und seiner panischen Furcht vor der Revolution, beide konservativ und zutiefst antidemokratisch, zudem der an der Marne gescheiterte Generaloberst noch extreme rassistische Vorstellungen von einem unausweichlichen Kampf der germanischen gegen die slawische Rasse hegte, dagegen gegen ließe sich der junge Kreisauer, geprägt von seiner liberalen britisch-südafrikanischen Mutter, ohne Abstriche bereits als moderner Europäer charakterisieren. Dem nur wenige Wochen vor dem Zusammenbruch des NS-Regimes in Plötzensee ermordeten Moltke gelten dann auch fraglos die Sympathien beider Autoren. Unverkennbar liegt in diesem letzten Abschnitt der Familiengeschichte auch der Schwerpunkt von Thies, der seine Darstellung mit einem Überblick über die Geschichte der Moltkes seit 1945 abschließt. Man liest dies allerdings nur noch mit begrenztem Interesse. Zwar haben ungewöhnlich viele Familienmitglieder auch nach dem verlorenen Krieg noch in aller Welt beachtliche Karrieren gemacht, doch ins gleißende Rampenlicht der Geschichte ist niemand von ihnen mehr getreten.

Hätte der Rezensent nun die Zeit, einen der beiden Titel noch einmal zu lesen, so fiele seine Wahl wohl auf das Buch von Olaf Jessen, das nicht nur durch seine dichte und lebendige Darstellung besticht, sondern auch dem Anliegen einer echten Familiengeschichte durch eine geschickte Verknüpfung der Lebensläufe noch am meisten gerecht wird.

Titelbild

Jochen Thies: Die Moltkes. Von Königgrätz nach Kreisau. Eine deutsche Familiengeschichte.
Piper Verlag, München 2010.
374 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783492053808

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Olaf Jessen: Die Moltkes. Biographie einer Familie.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
477 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406604997

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