Das eigene kleine Leben

Jonathan Franzens neuer Roman dekliniert den Begriff der Freiheit augenzwinkernd durch

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer, wie Jonathan Franzen in seinem Essay „Mr. Difficult“ über William Gaddis, eine kleine Poetologie des modernen Romans liefert, in der er zwischen dem ästhetisch anspruchsvollen „Status-Roman“, der den Lesern sehr viel zumutet, und dem „Kontrakt-Roman“ unterscheidet, der seinen Rezipienten in einer direkten persönlichen Verbindung quasi gegen die existentielle Einsamkeit beisteht – wer eine solche Vorlage liefert, wird natürlich daran gemessen. Und entweder für den gelungenen Versuch gelobt, die Literatur gegen die Konkurrenz der modernen Unterhaltungsmedien auf eine brillante, kluge, aber nicht zu anspruchsvolle Weise zu positionieren oder aber fürs vermeintlich prä-moderne realistische und allzu unterhaltende Erzählen gescholten. Er wird als Retter des Romans gefeiert oder ein bisschen bemitleidet, weil er nicht so innovativ sei wie David Foster Wallace.

Dabei verweist schon der Titel „Freiheit“ auf die großen Menschheitsfragen, ein Paradetitel eigentlich für einen „Status-Roman“, wie zum Beispiel „Krieg und Frieden“, den Prototypen eines solchen, zumindest was seine Unlesbarkeit über weite Strecken angeht, jedenfalls fürs Unterhaltungsmedien konsumierende Publikum von heute. Und ja, Patty, eine von Franzens Hauptfiguren, liest gerade „Krieg und Frieden“ und ist genau an der Stelle, „wo sich Natascha Rostowa, die offenbar für den trotteligen und braven Pierre bestimmt war, in dessen großartigen, lässigen Freund Fürst Andrej verliebt“, als sie ihren gutmütigen, braven Ehemann Walter mit dessen überaus lässigem Freund Richard betrügt. Und sich fragt, ob die Dinge sich anders entwickelt hätten, wenn sie nicht gerade an dieser Stelle des Romans gewesen wäre.

Wenn das kein Augenzwinkern ist. Und mit einem Augenzwinkern wird auch das Thema Freiheit in diesem Roman durchdekliniert, ein Begriff, der als Versatzstück willkürlicher Prägung dient – von der „umfassenden“ Freiheit ist die Rede, die krank macht und an der man trotzdem festhält – und die ganz konkret die Freiheit Pattys ist, so oft sie möchte in ihr Häuschen am See zu fahren und in die Depression zu versinken, ihre „Freiheit, immer unglücklicher zu werden“ –, über die „Freiheit, alles andere zu ignorieren“, die „persönlichen Freiheiten“, auf die man in den Staaten, anders als in Europa, so fixiert ist, und den freien Markt, bis hin zur Freiheit, keinen Personalausweis mit sich führen zu müssen. Sogar von der „unschwedischen Freiheit“ ist an einer Stelle die Rede.

Ein zentrales Motiv des Romans ist die Freiheit zu scheitern. Alle Figuren scheitern auf die ein oder andere Weise, bis auf die brave Tochter Jessica, die aber – vielleicht aus diesem Grund – eine Randfigur bleibt: grandios wie Walter, zerquält wie Patty, ein bisschen jämmerlich wie Richard oder reumütig wie Joey. Sie scheitern beim Versuch, ihre Träume zu verwirklichen, sei es der Traum von der Rettung der Welt durch das Stoppen des wahnsinnigen Bevölkerungswachstums – oder zumindest der Rettung einer einzigen kleinen Vogelart (Walter) –, der Traum, die Beste zu sein (Patty, die es in die Liga der zweitbesten Basketballspielerinnen geschafft hat) oder der Traum vom schnellen großen Geld (Joey, dem die eigenen Skrupel dazwischen kommen). Sie scheitern vor allem auch daran, nicht so zu werden wie ihre Eltern, deren Fehler sie auf keinen Fall wiederholen wollen.

In „Freiheit“ geht es um die Familie, der man nicht entkommt, die Liebe, die man nicht oder zu spät erkennt, die Umwelt, die unaufhaltsam zugrunde geht. In diesem Roman gibt es grandiose Passagen sarkastischer Politik-Analysen, brillante Dialog-Monologe, vielfältige Charaktere, die zentrale Themen variieren, und recht bizarre Szenen wie die mit dem verschluckten Ehering. Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven, zeitlich versetzt, mit Vor- und Rückverweisen, manchmal temporeich bis zum Durchgaloppieren und mit viel Witz. Aber es gibt durchaus auch Längen, vor allem im ersten, sehr weit ausholenden und gemütlich erzählten Teil von Patty Berglunds Autobiografie („verfasst auf Vorschlag ihres Therapeuten“!). Und Patty ist auch die Figur, die sich bei aller Differenzierung, aller Selbsterforschung nicht wirklich erschließt. Bei ihr gibt es einen störenden Bruch zwischen Innen- und Außenperspektive, den Ich-Erzählungen und den erzählten Passagen. Oder der es bei aller Dramatik – und im Gegensatz zu Walter, dessen Wahnwitz schon absolute Größe und die entsprechende Fallhöhe hat – ein bisschen an Ambition zur dramatischen Figur fehlt. Aber das gehört vielleicht auch zum Programm des augenzwinkernden Autors.

Ja, dieser Roman ist, jedenfalls größtenteils, sehr unterhaltsam, mit Witz an Stellen, wo es weh tut. Und dem Autor gelingt es, in wie beiläufig erzählten Episoden große Themen – eine ganze politische Epoche, zwischenmenschliche Konflikte, die „Lage der Nation“ – nicht nur anklingen zu lassen, sondern auf den Punkt zu bringen. Eine besonders schöne Episode ist hier der Nachbarschaftsstreit zwischen Walter und Linda am Ende des Buches.

So große Themen, so schwere Konflikte, so viel Scheitern (die Träume, die Ehe, der Versuch, ein Stück Umwelt zu retten) – und am Ende – geht alles gut aus. Ist gerade die Familie der Ort der Versöhnung: Patty und ihre Mutter, Walter und sein Bruder, Walter und Joey, Patty und Connie und womöglich sogar Walter und Richard – deren Beziehung hier als Wahlfamilie gewertet wird – und vor allem Patty und Walter. Das mit der Rettung der Welt hat nicht geklappt, noch nicht einmal die Rettung einer einzigen kleinen Vogelart, das Bevölkerungswachstum konnte nicht gebremst werden, die falschen Leute verdienen einen Haufen Geld, das sie für die falschen Dinge ausgeben, und noch immer fallen in den Vereinigten Staaten täglich mindestens eine Million Singvögel marodierenden Katzen zum Opfer. „Daran will niemand denken“, sagt Walter an einer Stelle, als seine Freundin Lalitha die unweigerlich nahenden Katastrophen aufzählt (die Massenausrottung der Hälfte aller Arten, die totale Zerstörung der Ökosysteme, Massenhungersnöte usw.): „Jeder will einfach ein normales Leben.“

Am Ende wird alles heruntergekocht. Was Walter gelingt, ist nicht die Rettung des Pappelwaldsängers, noch nicht einmal eine erfolgreiche Kampagne gegen das Bevölkerungswachstum, sondern „nur“ die Errichtung eines kleinen Vogelschutzgebiets am See, auf dem Grundstück eben jenes Ferienhauses, das Schauplatz des Seitensprungs von Patty und Richard war, des doppelten Verrats am „guten“ Walter. Wie von magischer Hand löst Patty den wirklich schon verdammt weit fortgeschrittenen Konflikt zwischen Walter und der Nachbarin Linda, hier schließt sich der Bogen zum Anfang des Buches, das die Berglunds als „gute Nachbarn“ zeigt, deren Nachbarn aus allen Wolken fallen, als sich deren „Abgründe“ andeuten. Das kann man als Anklang an das gefällige Ende von Fernsehserien lesen, das erzwungene Happy End nach all den Tragödien, die große Versöhnung nach dem „Hauen und Stechen“. Oder vielleicht als Einlösung eines Versprechens, den Lesern beizustehen, sie nicht zurückzulassen in der „existenziellen Einsamkeit“ und dem drohenden Weltuntergang. Und dann ist da vielleicht auch wieder ein Augenzwinkern, wenn Patty Walter womöglich auch noch rettet vor der Berglund’schen „Raserei und Misanthropie“, die sich im Feldzug gegen die Hauskatzen andeuten. Und neben oder trotz all dem Schlimmen in der Welt führen sie – genau wie wir – „ihr eigenes kleines Leben“.

Titelbild

Jonathan Franzen: Freiheit. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2010.
730 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498021290

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