Musik als sensualistische Metapher

Zu Lew N. Tolstojs Werk und Wirkung, am Beispiel der „Kreutzersonate“

Von Ulrich SteltnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Steltner

Tolstojs Œuvre und der russische Realismus

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die russische Literatur zu einem Exportartikel, nachdem sich das Zarenreich 1813 beim Sieg über Napoleon militärisch und 1815 beim Wiener Kongress auch politisch in Europa empfohlen hatte und hinfort eine Mischung aus Bewunderung und Schrecken erregte. Man schreibt das Zeitalter des Realismus (1850-1890), und die russischen Schriftsteller haben dazu offenbar etwas Besonderes beizusteuern. Diese Besonderheit hat viele Ursachen, wie etwa das zeitweilige Verbot der akademischen Philosophie oder das strenge Zensurregime über die Publizistik in Russland, so dass der Schönen Literatur und den Autoren eine besondere moralische Autorität, eine Art Predigeramt, zukam, das sich wiederum in die Vorlieben des Realismus zwanglos einfügte.

Auch die soziale Stellung der Autoren spielt wohl eine Rolle. Sie tritt am Beispiel Lew Nikolajewitsch Tolstojs (1828-1910) klar zutage. Es ist der russische Adel, wenn nicht sogar der Hochadel, wie eben der Graf Tolstoj, der sich der Literatur verschrieben hat. Er denkt weniger nationalistisch als das kulturell vergleichbare westeuropäische Bildungsbürgertum und mehr in ,herrschaftlichen‘ Kategorien, das heißt auch durchaus im guten Sinne patriarchalisch, erzieherisch und vielleicht universal. Tolstoj war bekanntlich nicht nur schriftstellerisch tätig, sondern er kümmerte sich auch um die Bauern, gründete eine Schule, schrieb eine Fibel und mähte gar das Korn mit den Bauern um die Wette.

So schreiben Tolstoj wie auch andere russische Vertreter seiner Zunft eine Literatur, die sich jenseits des obligaten Abbildes, wie es der Realismus liebte und forderte, offenbar in hohem Maße ,allgemeinmenschlich‘ verstehen lässt und die sich folglich bis heute gut den ganz unterschiedlichen Kontexten anpassen kann.

Tolstojs Gesamtwerk wurde seit 1928 in 90 Jubiläumsbänden (im Lexikonformat!) kanonisiert. In Parenthese sei vermerkt, dass die sowjetische Kulturpolitik mit ihm sichtbar kein Problem hatte, ganz anders als bei spielsweise mit seinem Konkurrenten Fjodor Dostojewski. Tolstojs Œuvre umfasst alle Gattungen und ihre Varianten, die Lyrik ausgenommen. Von Tolstoj gibt es nur ein paar Scherzgedichte, die immerhin belegen, dass er sich auch mit der Technik des russischen Verses auseinandergesetzt hat. Die Lyrik genoss ja im Realismus überhaupt wenig Ansehen. Umso höher standen Romane und Erzählungen im Kurs, weil sich mit ihrer Hilfe bestimmte Darstellungsprinzipien verwirklichen ließen:

– Die „Abbildhaftigkeit“ in Bezug auf die sichtbare Welt;

– Die Betonung des Nebeneinanders, das heißt der Gesellschaft und des Milieus, in dem die Figuren handeln;

– Die Betonung des Nacheinanders, also die Entwicklung der Figuren in der Zeit;

– Die Prosasprache und die Durchsichtigkeit der gesamten Konstruktion;

– Die implizite, bisweilen auch explizite Klarheit der ausgedrückten „Moral“.

Die vom Realismus bevorzugte Gattung des Romans bedient Tolstoj mit drei dickleibigen Werken: „Krieg und Frieden“ (1865), „Anna Karenina“ (1876/77) und „Die Auferstehung“ (1899). Davon bilden die beiden ersten den Kern seines dauerhaften literarischen Erfolges. Den Romanen fügt sich eine lange Reihe von Erzählungen an, die ihrerseits zumindest in Russland bis heute kanonisch sind, wie zum Beispiel aus dem Frühwerk die eigenartige, dezidiert autobiografische Trilogie „Kindheit“ – „Knabenjahre“ – „Jugend“ (ab 1852), eine reizvolle Lektüre, die in Teilen ausgesprochen modern wirkt, und zwar wegen der Verwendung ,sensualistischer‘ Darstellungsprinzipien in Bezug auf „Wahrnehmung“ und „Erinnerung“, und das lange vor Henri Bergson. Die Trilogie sollte eigentlich Tolstojs erster Roman werden. Ferner sind zu nennen: die skurrile Erzählung aus der Sicht eines Pferdes „Der Leinwandmesser“, die Tolstoj 1863 verfasst hatte, aber offenbar erst 1885, im Abschwung des Realismus, zu veröffentlichen wagte, weil die Stilisierung auf ein Pferd als Erzähler allzu deutlich einer zudem banalisierten „realistischen“ Weltauffassung widersprach. Bedeutsam in Tolstojs Werk ist das Motiv des Todes, das in den Erzählungen „Drei Tode“ (1859) und „Der Tod des Iwan Iljitsch“ (1886) auch thematisch wird. Auch hier löckt Tolstoj wider den realistischen Stachel, wenn man so sagen darf, weil Iwan Iljitschs Tod aus der Sicht des Sterbenden entworfen wird, seinerzeit geradezu ein Skandal und gleichzeitig ein mutiger Schritt in die Moderne. In diesen Rahmen gehört auch die „Kreutzersonate“, um die es im Folgenden gehen soll. Die Erzählung fügt sich in Tolstojs Gesamtwerk ein, sie ist sozusagen ,typisch Tolstoj‘, – sie hatte aber zu ihrer Zeit eine Wirkung, die weit über das für den späten Tolstoj übliche Maß hinausreichte. Sie durfte in Russland zunächst nicht erscheinen, sondern wurde in russischer Sprache 1890 in Berlin und erst ein Jahr später im Lande selbst publiziert.

Tolstoj versucht sich des Weiteren als Dramatiker. In Konkurrenz zu dem auf den russischen Bühnen allmächtigen Realisten Alexander Ostrowski gelingt ihm mit dem Bauerndrama „Die Macht der Finsternis“ (1887) ein großer Erfolg, wenn auch vornehmlich im Ausland, weil das Stück in Russland sofort verboten wurde. So wird „Die Macht der Finsternis“ zum ersten russischen Drama, das im Ausland, in Paris und in Berlin, mit Erfolg aufgeführt worden ist. Alle Versuche vorher, etwa den erwähnten Ostrowski auf den westeuropäischen Bühnen zu etablieren, scheiterten. Tolstojs Stück hatte den Vorteil, in das Magnetfeld des gerade propagierten Naturalismus zu geraten, obwohl es doch aus einer anderen Tradition stammte. Die Pariser Aufführung wurde von Émile Zola persönlich protegiert. Im Jahre 1900 verfasste Tolstoj dann noch das Drama „Der lebende Leichnam“, das erst postum (1911) publiziert werden durfte. Daneben gibt es einige Fragmente sowie Stücke für das russische Volkstheater auf dem Jahrmarkt oder auf ähnlichen Festlichkeiten, so etwa „Der erste Weinbrenner oder Wie sich ein Teufelchen eine Brotzeit verdiente“ (1886). Auch dieses Stück wurde übrigens gerade für Aufführungen zur Volksbelustigung verboten. Die Stücke zeigen, dass Tolstojs Schreibansatz in Bezug auf das Drama wesentlich propagandistischer Natur war, wenn man es pointiert ausdrücken möchte, und dass der Ansatz damit in einer Reihe mit den vielen Traktaten und Erweckungsschriften steht, die ebenfalls aus seiner Feder stammen.

Die Traktate waren es nämlich, die in den 1880er-Jahren Aufmerksamkeit und Verdacht der Zensur weckten, so dass Tolstoj trotz seines privilegierten Standes und trotz seines Weltruhms beträchtliche Schwierigkeiten hatte, seine Werke in Russland zu veröffentlichen. Die Liste der oben genannten Verbote von Erzählungen und Dramen belegt auch das. Die Verbote wiederum indizieren eine gewisse Radikalisierung von Tolstojs Äußerungen und Anschauungen. Das wohl berühmteste Traktat trägt den beziehungsreichen Titel „Die Beichte“. Das Traktat wurde seit 1882 im Ausland gedruckt und per Abschrift in Russland verbreitet. Offiziell blieb es dort bis 1906 verboten. Es folgten unter anderem „Was sollen wir denn tun“ (1885-86), das nur stark verstümmelt veröffentlicht werden durfte, und die literaturgeschichtlich interessanteste dieser Schriften „Was ist Kunst?“ (1897/98), eine Art Manifest gegen die aus Westeuropa, insbesondere aus Frankreich, anbrandende Moderne. Tolstoj weist sich hier als profunder Kenner der modernen Strömungen aus, will aber wie ein Ober-Zensor allen anderen die mögliche Kennerschaft vorsorglich verweigern.

So ergibt sich von Tolstojs Œuvre ein durchaus widersprüchliches Bild, hinter dem der Autor als Mensch und Künstler greifbar wird. Tolstoj folgte einem eigenen künstlerischen Credo, dessen Zuschnitt man ins besondere aus dem historischen Abstand erkennen kann. Ein Merkmal dieses Credos zeigt sich im Widerstand beziehungsweise geradezu im Widersatz gegen den common sense, gegen alles, was nach Mehrheitsmeinung gut und richtig ist, wie sich insbesondere an den Romanen allgemein zeigen lässt: Als die Russen 50 Jahre nach dem Sieg über Napoleon in patriotischen Jubelfeiern schwelgen, veröffentlicht er „Krieg und Frieden“, um gegen den blinden Jubel die historische Wahrheit zu stellen, wie er sie verstand. „Anna Karenina“ war gegen die aufkommende Frauenfrage gerichtet, die Frauenbefreiung, die im adligen Milieu die Freiheit der Frauen bedeutete, sich als sichtbaren Anspruch auf Gleichberechtigung einen Liebhaber zu nehmen, für Tolstoj sozusagen die falsche Freiheit. Auch die „Kreutzersonate“ hat damit zu tun. Der Roman „Auferstehung“ schließlich wandte sich gegen die „heuchlerische“ Moral, auch der orthodoxen Kirche, die sich allein schon durch den blasphemischen Titel provoziert fühlte. Folgerichtig wurde Tolstoj ein Jahr später exkommuniziert. Bei den Erzählungen dominieren die erwähnten kunstspezifischen „Widerhaken“: die Welt aus der Sicht eines Pferdes („Der Leinwandmesser“) oder der Tod aus der Sicht des Sterbenden („Der Tod des Iwan Iljitsch“). Die „Kreutzersonate“ schließlich beträfe – in dieser Reihe – die Liebe aus der Sicht eines gefühlskalten Verrückten.

Aus alledem folgt ein weiterer wichtiger Aspekt von Tolstojs Kunst. Der moralische Impetus des „Predigers“ Tolstoj liegt im fortwährenden Widerstreit mit dem, was der „Künstler“ Tolstoj offenbar spürte und was man der Kürze halber als „künstlerische Wahrheit“ bezeichnen könnte. Beispielsweise sollte die Protagonistin Anna Karenina im gleichnamigen Roman ordentlich abgestraft werden, geriet aber unter der Hand zu einer positiven Figur, so dass ihr Schöpfer, wiederum im Amt des „Predigers“, den Roman nur mit Mühe und letztlich wohl unter dem Zwang einer drohenden Konventionalstrafe zuende schreiben konnte.

Damit ist der Hintergrund entworfen, vor dem nun die „Kreutzersonate“ exemplarisch erläutert werden soll.

Das Fallbeispiel der „Kreutzersonate“

Zunächst sei die Wirkung von Tolstojs „Kreutzersonate“ in ihrer Zeit kurz umrissen, um daraus einen speziellen Fokus auf die Erzählung zu gewinnen. Die „Kreutzersonate“ verursachte Ende des 19. Jahrhunderts nämlich einen literarischen Skandal weit über die Grenzen Russlands hinaus. Mit ihr wurde ein Tabu gebrochen, das in Europa und in der europäisch bestimmten Welt gegolten hatte und das als Erinnerung an die Prüderie des „Viktorianischen Zeitalters“ bis heute fortlebt. Es geht um die Sexualität und ihre gesellschaftliche Normung, es geht um die öffentliche Rede darüber und deren Konventionen, und es geht somit um die Kunst, im engeren um die Literatur – als jenen Teil der öffentlichen Rede, der seine eigene Gesetzlichkeit hat und der gleichzeitig doch unmittelbar in die Diskussion eingreifen kann.

In diesem Beziehungsgeflecht hat Tolstojs Erzählung im Fokus der Motive „Kunst“ und „Sexualität“ ihren Platz. Im Titel „Kreutzersonate“ wird schon Kunst zitiert. So liegt es nahe, den Gesichtspunkt einer Wechselwirkung zwischen Kunstwerken auch unterschiedlicher Medialität besonders zu berücksichtigen.

Tolstoj notierte in seinem Tagebuch (jeweils in seinem Landsitz Jasnaja Poljana):

(11. August 1889) „Ich ging Pilze sammeln und dachte über die ,Kreutzersonate‘ und über die Kunst nach.“

(14. August 1889) „Beim Pilzesammeln kam mir in den Kopf, dass die Kunst eines der Ausdrucksinstrumente [… ] für einen neuen Gehalt ist. Das Leere in der Kunst unserer Zeit ist das Hervorrufen genau der Gefühle, die auch vom Künstler erfahren wurden, nicht um etwas auszudrücken, sondern einfach so: wie der kleine Peter ein Buch für das Lesen liest.“

(16. August 1889) „Den ganzen Tag habe ich nichts gemacht, wenn man die Lektüre von Schopenhauer zur Kunst nicht rechnet. Was für ein Leichtsinn und ein Quatsch. Aber es ist die Wahrheit, was mir jemand gesagt hat, dass die herrschende ästhetische Theorie seine Theorie ist.“

(19. August 1889) „Ich machte mir Gedanken zur ,Kreutzersonate‘. Wüstling ist kein Schimpfwort, sondern ein Zustand […] der Unruhe, der Neugier und des Verlangens nach Neuem, der aus dem Umgang um des Vergnügens willen nicht mit einer, sondern mit vielen entsteht. Wie ein Säufer. Man kann sich enthalten, aber Säufer bleibt Säufer und Wüstling bleibt Wüstling, beim ersten Nachlassen der Aufmerksamkeit wird er fallen. Ich bin ein Wüstling.“

Die Zitate, die sich beträchtlich vermehren ließen, sollen hier zunächst nur der Einstimmung auf die Motive „Kunst“ und „Sexualität“ im Hinblick auf den Text der „Kreutzersonate“ dienen. Sie lassen ahnen, dass für den Autor Tolstoj neben einer kalkulierten Tabuverletzung im gesellschaftlichen Raum der Aspekt der Kunst von gleichermaßen grundlegender Bedeutung ist. Dass sich die anschließende Diskussion der Rezipienten darauf weit weniger bezog als auf das Tabu, steht auf einem anderen Blatt und hat auch mit dem Selbstverständnis der realistischen Epoche zu tun. Schließlich zeigt sich aber auch, dass Tolstoj als Mensch und als „Mann“ involviert war. Für die Erzählung und deren Wirkung wäre das selbstverständlich ohne jeden Belang, wenn es nicht das auktoriale Nachwort zur „Kreutzersonate“ gäbe, das noch vor Abschluss der Arbeit an der Erzählung begonnen worden war und das wohl Tolstoj höchstpersönlich eine Zeitlang zu einem Ratgeber in einschlägigen Lebensfragen werden ließ.

Doch nun zum Text selbst. Er besteht aus 28 relativ kurzen Kapiteln und dem erwähnten langen auktorialen Nachwort: Während einer Eisenbahnfahrt entspinnt sich eine Diskussion über Liebe und Ehe. (Kapitel 1-3) Beteiligt sind ganz unterschiedliche Figuren und ihre Meinungen, ein alter Kaufmann, der noch dem altrussischen Sittengesetz, dem sogenannten Domostroj, anhängt, eine junge Dame, allem „Neuen“ aufgeschlossen, ein Advokat und einige andere. Die Diskussion mündet recht schnell in der langen und detailgenauen Erzählung eines der Reisenden namens Posdnyschew über die Geschichte seiner Ehe. (Kapitel 4-28) Es ist eine Erzählung von Missverständnissen, Streit, gegenseitigem Quälen und nicht zuletzt auch Eifersucht. Posdnyschews Rede durchziehen sarkastische Deutungen und Kommentare zu Gottes Weltordnung, zur sexuellen Enthaltsamkeit, zur Medizin, zum Frauenrecht oder auch zum Verhältnis von Mann und Frau. Er erzählt, wie er schließlich zum Mörder an seiner Ehefrau wird. Ereignishafter Höhepunkt und Anlass der Mordtat ist die Aufführung von Beethovens Sonate Nr. 9 „Kreutzersonate“ (op. 47), ein Stück für Violine und Klavier, durch Posdnyschews Frau und einen Musiker namens Truchatschewski. Deren zeitlich versetzte Wirkung bringt Posdnyschew zum Mord, als er überraschend nach Hause zurückkehrt und die beiden „ertappt“, wie sie einträchtig beim Essen sitzen.

Wie bereits erwähnt, erhebt Tolstoj im angeschlossenen „Nachwort“ selbst die Stimme, die im eigentlichen Text nicht nur kraft Fiktion an andere Instanzen abgegeben werden muss, sondern die im eigentlichen Text auch explizit personalisiert wird, weil ja der Mörder Posdnyschew selbst die Rede führt. Tolstojs Eigenkommentar geht weit über das hinaus, was dem fiktionalen Text, selbst bei identifikatorischer Sympathie mit oder Antipathie gegenüber dem Mörder, als Botschaft entnommen werden kann. Es wirft ein Schlaglicht auf die Rezeptionsbedingungen der Zeit, dass in der Diskussion zwischen beiden Texten oder Text-Teilen nicht recht unterschieden wurde. Tolstoj versteigt sich jedenfalls im Nachwort zu der These, dass es eine „christliche Ehe“ nicht geben könne und nie gegeben habe, genausowenig wie einen „christlichen Gottesdienst“, ein „christliches Heer“ oder einen „christlichen Staat“: „Das Ideal eines Christen ist die Liebe zu Gott und zu seinem Nächsten, ist der Verzicht auf sich selbst zugunsten des Dienstes an Gott und am Nächsten; die fleischliche Liebe aber, die Ehe, ist der Dienst an sich selbst und ist daher auf jeden Fall ein Hindernis für den Dienst an Gott und den Menschen, und ist also vom christlichen Standpunkt aus – Verfall und Sünde.“

Im ersten Teil des Nachwortes wird auch die Kunst gestreift, die die Sinnlichkeit fördere: „[…] die Verliebtheit zwischen jungen Männern und Frauen, die dennoch die fleischliche Liebe zur Grundlage hat, wird zum höchsten poetischen Ziel menschlichen Strebens erhoben, als Zeugnis dessen kann die gesamte Kunst und Dichtung unserer Gesellschaft dienen.“ Ein Ziel, das „des Menschen würdig“ sei, könne aber nicht „mittels Vereinigung mit dem Objekt der Liebe in oder außerhalb der Ehe“ erreicht werden: „[…] umgekehrt, Verliebtheit und Vereinigung mit dem Objekt der Liebe (soviel man auch in Versen und in Prosa das Gegenteil zu beweisen sucht) erleichtern es niemals, ein Ziel zu erreichen, das des Menschen würdig ist, sondern erschweren es.“

Tolstoj äußert hier Gedanken, die er Ende der 1890er-Jahre in dem erwähnten Traktat „Was ist Kunst?“ grundsätzlich und außerhalb des gegebenen Kontextes „Sexualität“ fasst. Seine auktoriale Deutung der Erzählung „Die Kreutzersonate“ suggeriert jedenfalls eine bestimmte Funktion des Motivs „Kunst“ in Gestalt von Beethovens Sonate. In der Verkettung der Ereignisse befördert sie die Sinnlichkeit und damit letzten Endes die Katastrophe. Dennoch lohnt es sich, Tolstoj gerade nicht zu folgen und sich an den fiktionalen Text und seine Struktur zu halten, die etwas anderes vermittelt. Man könnte schließlich Tolstojs auktoriales Nachwort auch als seine Einsicht verstehen, dass er beim Schreiben die beispielsweise im Nachwort kritisierten Regularien der Kunst (selbstverständlich!) beachtet hat und dass deshalb sein publizistisch-moralischer Wirkungsanspruch gar nicht zum Tragen kommen kann, die Erzählung insoweit also „dunkel“ bleiben muss und eben der Erläuterung bedarf. Andernfalls wäre sie ja zur Tendenzkunst geworden. Im Übrigen belegt diese Deutungs-Problematik nur den behandelten inneren Widerstreit zwischen dem „Künstler“ und dem „Prediger“ Tolstoj.

Die Abfolge der Kapitel 4-28 in der „Kreutzersonate“ unterliegt der Logik einer Fabel, die Posdnyschews Weg ins Verderben nachzeichnet. Posdnyschew gerät in Konflikt mit seiner Auffassung von Liebe und Ehe. Einerseits reduziert sich für ihn Liebe und Ehe auf die Sexualität, andererseits gibt es augenscheinlich noch andere Formen der Gemeinsamkeit, die Posdnyschew verschlossen sind und auf die er mit Eifersucht und schließlich Mord reagiert. Die Beschreibung der Fabel wird erschwert, weil Posdnyschew permanent wertet, und zwar idiosynkratisch: Seine erzählerische Wertperspektive ist durchgängig im „Persönlichen“, wie oben gesagt wurde, motiviert, zum Beispiel:

„Ja, bitte, ein natürliches und einfaches Verhältnis zu Frauen wurde dadurch auf ewig verdorben.“ (Über seine Bordellerfahrungen vor der Ehe) (Kapitel 4)

„Die Frauen halten wie Königinnen 90% Prozent des Menschengeschlechts in den Fesseln der Sklaverei und der Schwerarbeit.“ (Kapitel 9)

„Die Worte des Evangeliums, daß einer, der auf ein Weib schaut, ihrer zu begehren, mit ihr schon die Ehe gebrochen hat, beziehen sich nicht allein auf fremde Frauen, sondern gerade und vor allem auf die eigene.“ (Kapitel 11)

„Liebe ist etwas Abscheuliches und Schweinisches.“ (Kapitel 13)

„Die Schurken [Ärzte] ließen sie keine Kinder mehr bekommen und lehrten sie die Mittel dazu. […] Nun gab es überhaupt keine Zügel mehr.“ (Kapitel 18)

„Sie beschäftigte sich wieder angeregt mit dem Klavier, das sie vorher völlig gelassen hatte. Und damit fing alles an.“ (Kapitel 19)

Die Auswahl von Posdnyschews Äußerungen soll nicht nur seine idiosynkratischen Urteile als solche belegen, sondern auch vor Augen führen, dass es Posdnyschew in jeder Hinsicht an Kompetenz mangelt, allgemeingültige Urteile zu fällen, und dass es folglich auch nach der Logik der Darstellung nicht zulässig ist, bestimmte Urteile herauszugreifen, weil sie zufällig plausibel sind und allgemeingültig zu sein scheinen oder aber den publizistischen beziehungsweise privaten Urteilen Tolstojs entsprechen. Posdnyschews Äußerungen wurden darüber hinaus hier so ausgewählt und angeordnet, dass sie die Verknüpfung der beiden Motive „Sexualität“ und „Kunst“ in der Darstellung durch Posdnyschew selbst zeigen.

Das Motiv der „Kunst“, das durch Beethovens „Kreutzersonate“ vertreten wird, erscheint erst im letzten Drittel des Textes. „Und damit fing alles an“, urteilt Posdnyschew über die neuerliche Hinwendung seiner Frau zum Klavierspiel, in deren Folge seine Frau die Bekanntschaft des Geigers Truchatschewski macht. Das in der Literatur häufige einschlägige Dreieck der Personenbeziehungen wird also über das Motiv der „Kunst“ etabliert. Und es gehört zur Eigenart gerade dieser Erzählung, dass in dieser Dreiecksbeziehung etwas inkompatibel bleibt, weil sich Posdnyschews Gefühlsregung („rasende Eifersucht“) nicht innerhalb des Motivs „Sexualität“ entwickelt, sondern innerhalb des Motivs „Kunst“. Die Kunst wird Anlass zur Eifersucht. Vor dem Hintergrund von Posdnyschews Tirade über das Unverständnis zwischen ihm und seiner Frau (Motiv „Sexualität“) bildet das Einverständnis zwischen seiner Frau und Truchatschewski beim Musizieren einen deutlichen Kontrast.

Posdnyschew erklärt seine Eifersuchtshandlungen und damit insbesondere den Mord mit der Wirkung von Beethovens Sonate: „[…] ,Kennen Sie das erste Presto? Kennen Sie es?!‘ schrie er los. ,Huh!.. Ein schreckliches Ding ist diese Sonate. Vor allem dieser Teil. Und überhaupt ist Musik ein schreckliches Ding.‘“ (Kapitel 23)

Es handelt sich um die berühmte und vielzitierte Textstelle, die darin gipfelt, dass in China Musik Staatsangelegenheit sei, und zwar ganz zu Recht, weil man niemand gestatten könne, andere mit Musik zu hypnotisieren und dann nach Belieben mit ihnen umzuspringen, wie es doch „der erste beste hergelaufene sittenlose Mensch“ tun könne. Hier urteilt Posdnyschew über Truchatschewski, und nicht etwa Tolstoj über die Musik. Es gilt die beschriebene eingeschränkte Kompetenz. Posdnyschews Urteil ist daher vieldeutig. Es lässt sich in der Logik der Darstellung beispielsweise als bloße Schutzbehauptung verstehen, die den wahren Sachverhalt verdeckt, oder als Selbsttäuschung über die eigenen wahren Antriebe und anderes mehr. Aber die „Musik“ wird als Gefühlsäquivalent entworfen, während das, was traditionell ein Gefühlsäquivalent bezeichnet, nämlich „Liebe“, in Posdnyschews Rede zum Äquivalent für etwas „Abscheuliches und Schweinisches“ wird: die Sexualität.

Diese semantische Verschiebung entspricht der oben genannten Inkompatibilität in der Dreiecksbeziehung der Personen. Daher darf man aus der Perspektive des fiktionalen Textes wohl schließen, dass die Musik, im engeren Beethovens „Kreutzersonate“, zu einer Metapher wird. Die Metapher steht für ein komplexes Gefühl, das von Posdnyschew gemieden wird oder das ihm sogar fehlt, insbesondere im Umgang mit seiner Frau. Daraus weiter den Schluss zu ziehen, die Sexualität müsse durch Askese abgeschafft und das Übel letztlich durch Beendigung der Fortpflanzung ausgerottet werden, liegt gerade nicht in der zwingenden Konsequenz des fiktionalen Textes, sondern ergibt sich allein aus Tolstojs Nachwort.

Die „Kreutzersonate“ schlug wie eine Bombe ein, sie traf den Nerv der Zeit. Aber ihre komplexe Struktur erwies sich als „unrealistisch“ und sperrte sich gegen eineindeutige Sinnzuweisungen. Ihr mangelte es an der Durchsichtigkeit der gesamten Konstruktion und daher an der klaren „Botschaft“, über deren Gehalt sich das Publikum folglich uneins war. Der „Künstler“ Tolstoj hatte ganze Arbeit geleistet. Wegen der „Botschaft“ meldete sich nun der „Prediger“ Tolstoj in seinem Nachwort: „Ich empfing und empfange noch immer zahlreiche Briefe von Personen, die ich nicht kenne, mit der Bitte, ich möchte in einfachen und klaren Worten erläutern, was ich über den Gegenstand denke, der den Inhalt meiner Erzählung ,Die Kreutzersonate‘ bildet. Ich will versuchen das zu tun, das heißt den Kern dessen, was ich in dieser Erzählung habe sagen wollen, und der Folgerungen, die man nach meiner Meinung daraus ziehen kann, so gut es geht, in kurzen Worten auszudrücken.“

Das Nachwort bestärkte diejenigen Kritiker, die in Posdnyschew ohnehin nur eine Marionette Tolstojs sahen, und zerstörte, so gesehen, den künstlerischen Text. Tolstoj erhebt fünf Forderungen, die allesamt ein Keuschheitsgebot enthalten:

1. Die Auffassung, Geschlechtsverkehr sei wegen der Gesundheit notwendig, sei falsch. „Denn es kann unmöglich wahr sein, dass zugunsten der Gesundheit eines Teils der Menschen Körper und Seelen anderer Menschen zugrunde gehen müssten, wie es nicht wahr sein kann, dass zur Gesundheit eines Teils der Menschen das Blut eines anderen Teils getrunken werden müsste.“ Er empfiehlt ein mönchisches Programm der Enthaltsamkeit, Mäßigung und der körperlichen Arbeit.

2. Das herrschende Bewusstsein, dass „Liebesverkehr“ ein „poetisches, erhabenes Lebensglück“ sei, habe nur Unglück, wie etwa den Ehebruch, gebracht. Dieser müsse so bestraft werden, wie andere Formen des Betruges auch, und dürfe „nicht wie jetzt in Romanen, Gedichten, Liedern, Opern usw. […] besungen werden“.

3. Verhütung folge nur den Machenschaften der „Lügenwissenschaft, die man Medizin nennt“. Kindergebären sei allenfalls als Sühne für die Sünde des Geschlechtsverkehrs akzeptabel.

4. Die sittliche Erziehung der Kinder über die Kunst, über Süßigkeiten und einen verwöhnten Körper sei schädlich, sie fördere nur die Onanie im Knabenalter etc.

5. Die sinnliche Liebe sei nichts Erhabenes, erhaben sei nur „die Arbeit im Dienste der Menschheit, des Vaterlands, der Wissenschaft oder der Kunst (von dem Dienst an Gott ganz zu schweigen)“.

Das Programm als solches ist weder historisch noch aktuell aus der Welt, wie sich an rigoristischen Weltanschauungen und Menschenbildern des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart ablesen lässt. Es korrespondiert insbesondere mit einem christlichen Fundamentalismus aus dem puritanisch-protestantischen Erbe. So nimmt es nicht Wunder, dass die „Kreutzersonate“ mitsamt Nachwort vor allem in den USA ungeheuer wirksam war und dass ein Teil der an Tolstoj gerichteten Anfragen gerade von dort kam. Er wurde zu einer Art „Kummerkasten“ für frustrierte Eheleute, zumeist aber Ehefrauen. Im Übrigen weigerte sich die amerikanische Post, Tolstojs Schrift zu befördern. Handhabe bot ein Gesetz von 1888, das „unsittliche (indecent)“ Schriften vom Postversand ausschloss. In England galt wie in Russland eine direkte Zensur, die die Verbreitung der „Kreutzersonate“ behinderte. Nur Deutschland war in dieser Beziehung liberal, so dass hier Tolstojs Erzählung selbst, und nicht so sehr das Nachwort, die allergrößten Triumphe feierte, und zwar als psychologische Studie.

In Russland provozierte das Werk eine literarisch-publizistische Auseinandersetzung sowie zahlreiche Karikaturen. Es wurde in geheimen Abschriften noch vor der Zensurfreigabe in Soirees gelesen und verbreitete sich wie ein Lauffeuer in dem Riesenreich. Offenbar bediente Tolstoj viele Stichworte der Zeit, wie die „Entartung“ des Menschengeschlechts, die Frauenfrage im Allgemeinen, im Speziellen die Befreiung der Frau vom „Gebärzwang“, die Auflehnung gegen die Rolle als bloßes Sex-Objekt und anderes mehr. Vor allem die sexuellen Konflikte wurden aus Anlass der Erzählung erörtert, wenn auch wegen der Tabuisierung des „Viktorianischen Zeitalters“ nicht direkt benannt, sondern nur assoziativ umschrieben.

Die Unbestimmtheit und künstlerische Offenheit der Erzählung konkretisierten nur wenige, wie etwa der Schriftsteller Anton Tschechow. Er meinte, die Erzählung rege zum Nachdenken an. (Auch das war natürlich ein zweideutiges Lob.) In seinem Nachwort aber behandele Tolstoj „Dinge, von denen er keine Ahnung hat“, wie Kindererziehung, Medizin et cetera „Zum Teufel mit der Philosophie der Großen dieser Welt! Sie ist mitsamt ihren närrischen Nachworten weniger wert als eine x-beliebige junge Stute aus dem ,Leinwandmesser‘“. Tschechow antwortete auf Tolstoj sozusagen mit seinen ,sensualistischen‘ Erzählungen gerade zum Thema „Liebe“: „Das Haus mit dem Zwischengeschoss“ (1896) und „Die Dame mit dem Hündchen“ (1898). Dennoch scheint er in seinem für ihn typischen zweideutigen Lob etwas übersehen zu haben, das Tolstojs Erzählung (ohne das Nachwort) prägt.

Deswegen soll zum Abschluss noch einmal das Motiv „Kunst“ ins Auge gefasst werden, die Musik beziehungsweise Beethovens Sonate und ihre Funktion im Text. Das Motiv ist zudem metaphorisch verankert, und die Metapher bedarf der Erläuterung. Sie wird besonders hervorgehoben, weil sie auch den Titel der Erzählung stellt und somit allein schon in der Benennung Beethovens Sonate doubliert. Es wäre also auch zu fragen, warum denn gerade Beethovens Sonate zur Metapher (gemacht) wird.

Es gibt in der neueren Sekundärliteratur Versuche, Beethovens Sonate mit Merkmalen in der Struktur von Tolstojs Erzählung in Beziehung zu setzen und damit sozusagen eine Isomorphie zwischen den beiden Kunstwerken aus unterschiedlichen Medien zu belegen. Anlass sind neben kunstgeschichtlichen und kunsttheoretischen Vorgaben die auffallende Titelgleichheit und eine Anekdote zu einer Aufführung von Beethovens „Kreutzersonate“ in Tolstojs Moskauer Domizil im Frühjahr 1888. Dort waren unter anderem der bekannte russische Maler Ilja Repin und ein mit Tolstoj befreundeter Schauspieler anwesend. Tolstoj habe unter dem Einfluss der gerade gehörten Sonate angeregt, Repin solle ein von Beethovens Musik inspiriertes Bild malen, vor dessen Hintergrund der Schauspieler Tolstojs (noch zu schreibende) Erzählung vortragen könne.

Die angeblichen Isomorphismen zwischen Tolstojs Erzählung und Beethovens Sonate vermögen insofern allesamt wenig zu überzeugen, als musikalische Formsprachlichkeit, wie „Sätze“, „Tempi“, „Verläufe“, nur metaphorisch auf einen sprachlichen Text angewendet werden können. Aber auch hier reizt die innere Widersprüchlichkeit Tolstojs zu weiterführenden Deutungen: seine besondere Empfindsamkeit für Musik, seine „Hassliebe“ zu Beethoven und die Ablehnung aller zeitgenössischen Musik wie Mussorgski, Rimski-Korsakow, Tschajkowski bis hin zu Prokofjew. Sodann seine rigoristische Kunsttheorie, die die Musik einerseits wegen ihrer unklaren und nicht kalkulierbaren Wirkung („Ansteckung“) unter Verdacht stellt, andererseits aber die Ablehnung der Programmusik, weil sie ein der Musik fremdes Bedeutungselement einführe, und noch rigoroser die Ablehnung der Verbalisierung von Musikstücken und von damit verbundenen Rezeptionserlebnissen. Fast überflüssig zu erwähnen, dass auch Richard Wagner und die Idee des Gesamtkunstwerkes vor dem Moralisten Tolstoj keine Gnade finden, obwohl die oben vermittelte Anekdote von 1888 um die „Performance“ (Bild und Text zur „Kreutzersonate“) auf das Gegenteil verweist.

Schon 1851 schreibt Tolstoj an seine Tante: „Die Malerei wirkt auf die Fähigkeit, die Natur zu vergegenwärtigen, ihr Gebiet ist der Raum. Die Musik wirkt auf die Fähigkeit, Ihre Gefühle zu vergegenwärtigen. Und ihr Gebiet sind daher die Harmonie und die Zeit. Die Dichtung wirkt auf die Fähigkeit, bald das eine, bald das andere zu vergegenwärtigen, d.h. die Wirklichkeit oder die Beziehungen unserer Gefühle zur Natur […]. Warum wirkt die Musik auf uns wie eine Erinnerung?“

In diesem Sinne erscheint Beethovens „Pathétique“ in Tolstojs Erstlingswerk, der Erzählung „Kindheit“ von 1852, in der Erlebten Rede des kindlichen Protagonisten als „Erinnerung“ an etwas Nicht-Erlebtes (von der Position des Autors als Erinnerung an die Mutter!). Aber schon in der Erzählung „Familienglück“ (1859) wird die „Mondscheinsonate“ („Quasi una fantasia“) zum Unruhestifter, zum Symbol für „Leidenschaften und Streit“, Mozart dagegen vertritt „Glück und Verständnis“. Angeblich äußerte Tolstoj später: „Ich meine auch jetzt noch, dass Beethoven in die Musik eine ihr wesensfremde Dramatik gebracht hat. Er mit seinem Riesentalent hat damit umgehen können, aber seine Nachfolger haben dies bis zur abschreckenden Hässlichkeit entwickelt.“

Ein Blick auf die Geschichte der Beethoven-Rezeption lässt erkennen, dass sich Tolstojs Auffassung im Grundsatz mit den Auffassungen der Zeit deckt: Das Innovatorische an Beethoven wird, der inhärenten Tendenz zur Programmusik folgend, als Deutungsnotwendigkeit greifbar. Beethovens Musik wird „als Ausdrucks-, Assoziations- und Erlebenskunst rezipiert“. Kennzeichend für die Beethoven-Rezeption sei, „dass Beethovens Musik ;unmittelbare Spiegelung tiefgreifenden seelischen Erlebens‘ ist, das als Motivation, als ,Idee‘, als Vorstellung, Gedanke, Bewegungskraft, intentionaler Sinn aus ihr ablesbar, als ihr Inhalt verbalisierbar sein müsse“: „Die verbale Rezeption bringt die begriffslose Musik zum Begriff“.

Tolstojs Ablehnung betrifft genau diesen Effekt, der nach seiner Ansicht der Musik nicht angemessen ist. Beethovens besondere Wirkung („Dramatik“) wird dagegen von Tolstoj geradezu unterstellt und von Posdnyschew (!) in der oben zitierten berühmten Äußerung zum Presto des 1. Satzes der „Kreutzersonate“ in Worte gefasst, quasi als Illustration der Festlegung „Beethovens“ im Stichwort eines Musiklexikons: „In ihm war die wildeste Urkraft, die gefährlichste Fülle an Ungebändigtem, Triebmäßigem, Chaotischem lebendig: die Macht, mit der er dieser drängenden und sprengenden Kräfte Herr geworden ist […], begründet eine einsame Stellung als Künstler.“ Beethovens Musik eignete sich also besonders gut, um Posdnyschews Verrücktheit der zeitgenössischen Leserschaft plausibel zu machen.

Auf der Ebene des abstrakten Autors verhält es sich indes gerade andersherum. Die „Kreutzersonate“ erscheint als Metapher für eine gefühlsmäßige Kommunikation, zu der Posdnyschew keinen Zugang hat, deren Kraft aber, auch für jeden Leser, außer Zweifel steht. Die Metapher wird im Musikstück im Zusammenspiel zweier Instrumente motiviert, deren melodische Führung als Dialog zweier (menschlicher!) Stimmen gedeutet werden kann. Die dramatische Prägung des Dialogs hat keine eindeutige verbale Entsprechung. Sie kann etwa im Handlungsgefüge tatsächlich für den Ehebruch stehen. Das Musikstück selbst wird gerade nicht verbalisiert, es sei denn man wollte den genannten Deutungsversuchen folgen, aber selbst dann handelte es sich nur um eine isomorphe Verbalisierung und nicht um eine begriffliche Auslegung. Die Sonate kann auch nicht zitiert werden, weil sie zu einem anderen Medium als der Literatur gehört. Der Leser muss sie also kennen. Sie wird allenfalls in der Vorstellung wachgerufen und wird damit zu einer ;sensualistischen Metapher‘.

So gesehen, sind in Tolstojs „Kreutzersonate“, merkwürdig genug, die Ideen des Umbruchs zur bekämpften Moderne in nuce schon strukturell vorhanden. Die Musik sperrt sich gegen den Realismus, weil ihre Wirkung nicht rational gefasst werden kann. Sie vertritt daher nicht zufällig das Motiv „Kunst“, sofern es in der Erzählung um Askese und Austreibung der Sinnlichkeit geht. Wie gezeigt, ist die Botschaft aber durchaus doppeldeutig. Über allem steht nämlich Beethovens „Kreutzersonate“ als ,sensualistische Metapher‘, die den Gefühlsbereich zum Thema macht, ohne ihn zu verbalisieren, zu erklären und etwa in eine Handlungsanweisung umzumünzen. Das Thema bleibt insofern notwendigerweise dunkel. Tolstoj wird zum Seismografen des nahenden Umbruchs, auch wenn die in seiner Literatur auffindbaren Widersprüche letztlich in seiner Person verankert sind. Er „predigt“ gegen eine „neue Kunst“, nutzt aber als Künstler gleichzeitig deren Strategien und trägt damit zu ihrer Verbreitung bei.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text basiert auf Ulrich Steltner: Tolstojs „Kreutzersonate“. Über Kunst und Sexualität. In: Ulrich Steltner et alii (Hgg.), Europäisches Ereignis Kreutzersonate. Beethoven – Tolstoj – Janacek. Jena 2004. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung

Literatur

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