„Aufstand der Bürger“ oder Demokratie-Verächter?

Ein Plädoyer zur notwendigen Verteidigung der Politischen Klasse

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Manchmal ist Google doch ein Segen! Am 13. Oktober 2010 erschien ein Leserbrief in der „F.A.Z.“ von Herrn K. aus einer Kleinstadt südlich von Hamburg. Unter der – wie immer bei dieser Rubrik – nicht von ihm gewählten Überschrift „In der Defensive“ verteidigt Herr K. den Buchautor Thilo Sarrazin, der „souverän“ die ihm „von Frank Schirrmacher und anderen ‚Gutmenschen’ in boshafter Weise unterstellten ‚biologistischen Thesen’“ zurückgewiesen habe. Der Leserbriefschreiber macht deutlich, dass seiner Meinung nach „das eigentliche Problem“ sei, dass eine „gebührende“ Behandlung der „islamisch geprägten, integrationsresistenten, von Sozialleistungen abhängigen Unterschichtenbevölkerung und ihre wundersame Vermehrung“ von der Feuilletonredaktion der „F.A.Z.“ nicht zu erwarten sei. Endlich jedoch beschäftigen sich „breite Kreise“ mit der Gefahr der Islamisierung – vermutlich gemeint ist eine angebliche Islamisierung Deutschlands – und darum seien „die politische Kaste und ihre Lautsprecher“ nun in die Defensive geraten.

Herr K. ist nur einer von vielen, die derzeit der „politischen Kaste“ auf diese Weise ihre Meinung sagen wollen. Ob Herr K. wohl meine letzte Glosse gelesen hat, als ich meine Befürchtung formulierte, wer sich nun alles aufgefordert fühlen mag, endlich seine Ansichten zu verbreiten, und es mir um die Rekonstruktion der allmählichen Transformation der Bezeichnung „Gutmenschen“ zu einem Schmähwort ging? (literaturkritik.de vom Oktober 2010)

Ich wollte wissen, wer dieser Leserbriefschreiber ist. Und da sind wir bei Google und seiner zuweilen großen Nützlichkeit: Der „Fachgruppenseminarleiter a.D. Herr K.“ erscheint gleich beim ersten Nachweis als einer der Unterzeichner eines „Appells für die Pressefreiheit“ angesichts der Ausladung der Wochenzeitung „Junge Freiheit“ bei der Leipziger Buchmesse im Jahr  2006, einem Presseerzeugnis, von dem zu lesen ist, dass es ein Sprachrohr der „Neuen Rechten“ sei. Google verweist mich auf viele weitere Leserbriefe, die Herr K. in den vergangenen Jahren nicht nur in eben dieser Wochenzeitung publiziert hat. Unschwer hätte ich ihn anrufen können, denn auch seine Kontaktdaten teilten mir die Einträge mit. Ich hätte ihn fragen können, wen er genau meint, wenn er von der „politischen Kaste“ schreibt und wer die „breiten Kreise“ sind, in deren Namen er zu schreiben glaubt.

Derzeit melden sich viele aus den „breiten Kreisen“. Sie schreiben und schreien sich ihre Frustration über die „politische Kaste“ – wahlweise „politische Klasse“ – von der Seele. Nicht nur dem Leserbriefschreiber Herr K., auch Herr B. aus dem Ruhrgebiet wurde am 16. Oktober 2010 ein größeres Plätzchen bei den „Briefen an die Herausgeber“ eingeräumt: Unter der Überschrift „Die Unfähigkeit der Quotenjäger“ prangert er an, dass „die politische Korrektheit zum Beispiel Frau Merkels, des Bundespräsidenten, SPD-Gabriels und der Medien in Wort und Bild – den Zentralrat habe ich fast vergessen – geradezu lächerliche Züge angenommen [hat].“ Doch, für Leserbriefschreiber B. ist Hoffnung in Sicht, endlich verweigere „der Bürger“ den genannten „Quotenjägern“ die Zustimmung, Sarrazin habe einen Schuss abgegeben, der die politische Korrektheit „voll getroffen“ hat, die „Schweigespirale“ sei „ein für allemal gebrochen“, das „Wahlvieh“ zeige Widerstand: „Das ist die politische Klasse im Schulterschluss mit den veröffentlichenden Medien nicht gewohnt.“ Wer diese „Bessermenschen“ in das „Kartell der Oberlehrer“ gebracht habe, entziehe sich dem Wissen der „demokratischen Mehrheit“, aber Herr B. suggeriert, dass es dabei wohl „wie im richtigen Leben um Macht, Geld und Gier“ gehen dürfte.

Auch hier half mir Google, Herrn B. schnell ausfindig zu machen: Er findet sich beispielsweise mit einem Eintrag im „Kondolenzbuch für Jörg Haider“ mit dem anrührenden Text: „Ein Verlust für die Demokratie, die mit Jörg Haider einen Volksvertreter verloren hat, der nicht ersetzt werden kann.“ Die Leserbriefredaktion der „F.A.Z.“ wird ja wohl die Identität der Einsender überprüfen: Mit welchen Absichten will sie solchen Stimmen wie denen der Herren K. und B. ihren wirkungsvollen Resonanzkörper bieten?

Die „Classe politique“

Setzte ich mich zuletzt mit dem bemerkenswerten Missbrauch der Bezeichnung „Gutmensch“ auseinander, möchte ich mich diesmal mit der aktuellen Verwendung des Begriffs der „Politischen Klasse“ beschäftigen, der derzeit große Konjunktur zu haben scheint. Den Sozialwissenschaftler muss interessieren, wieso dieser historisch konnotierte Begriff aus seinem eigenen Feld derzeit so häufig benutzt wird, und immer in anklagend-kritischer Tonlage. Auch hier scheint es darum zu gehen, „rote Linien“ zu überschreiten, zumindest zu testen, wie weit man damit argumentativ kommt.

Soziologiehistorisch muss man mit Gaetano Mosca (1858-1941) anheben, jenem italienischen Rechts- und Politikwissenschaftler, der heute als „Elitetheoretiker“ rubriziert wird und als Schöpfer des Begriffs der „politischen Klasse“ gilt. Seine allein literarischen Studien, ohne empirische Fundierung, zum Phänomen der so genannten „Elitenherrschaft“ weisen große Ähnlichkeiten zu den Arbeiten seines Konkurrenten und Zeitgenossen Vilfredo Pareto (1848-1923) auf. Während Pareto jedoch mit seiner ideologiekritischen These von dem ständigen, notwendigen und zerstörerischen Kreislauf der Eliten sprach und damit vor allem eine demokratiekritische Position einnahm, wollte Mosca eine mit der Demokratie kompatible, funktional notwendige Elitenherrschaft analysieren. Zwar erinnert seine Interpretation des Staates an die marxistische Lesart von der reinen Klassenherrschaft der Bourgeoisie durch den Staat („Staatsmonopolkapitalismus“), Mosca wies jedoch sowohl den „Klassenkampf“ als auch die von ihm als Utopie kritisierte Vision einer „klassenlosen Gesellschaft“ zurück. Ähnlich wie Robert Michels (1876-1936) mit seinem „ehernen Gesetz der Oligarchie“ und Charles Wright Mills (1916-1962) mit seinem Konzept von der „Machtelite“ – die sich beide auf Mosca bezogen, ihre Thesen jedoch überzeugend empirisch belegten – wollte Mosca eine nüchterne soziologische Analyse vorlegen. Banal formuliert: Irgendjemand muss politische Entscheidungen vorbereiten, beschließen und durchsetzen. Und diese Gruppe von Menschen nennt er „Politische Klasse“, wie er das in seinem Buch von 1896 über „Elementi di scienza politica“ formulierte.

Wie so häufig wurde aus der nüchternen soziologischen Bestandsaufnahme ein ideologisch aufgeladener Begriff: Schon bald nach Mosca wurde mit „Politische Klasse“ eine Gruppe von Berufspolitikern bezeichnet, die machtversessen eine eigene Klasse bildet, sich zunehmend von der Bevölkerung abkapselt und sich allein untereinander rekrutiert. Und ihr geht es, nicht nur nach Ansicht von Leserbriefschreiber B., vor allem um Macht, Geld und Gier. Das Bild von der „Kaste“ der Politiker, also einer schon durch Geburt und familiäre Herkunft bestimmte Dazugehörigkeit, verschärft diese Idee: aus der Klasse wird die Kaste.

Problematisiert wird diese „Klasse“ beziehungsweise „Kaste“ der Politiker aus einer naiven demokratietheoretischen Position heraus, nach der ein ständiger Austausch und eine leichte Durchlässigkeit zwischen Wählerschaft und den in ihrem Auftrag handelnden Politikern stattfinden müsse. In der Schweiz begegnet uns aktuell die Propaganda der „Schweizerischen Volkspartei“ (SVP) gegen die „Classe politique“, die auf dieser Klaviatur gegen „die da oben in Bern“ spielt und sich als die „wahren“ Vertreter des Volkes präsentiert. Auch in der deutschen Geschichte kennen wir dieses Motiv zur Genüge, als es gerade in der so genannten „Weimarer Republik“ um die Propagierung einer tiefen Kluft zwischen „dem Volk“ und den Herrschenden im Deutschen Reichstag ging. Das „Volk“ auf der einen Seite, die „Politische Klasse“ auf der anderen Seite!

Ob das die Redakteure der „F.A.Z.“ im Sinn hatten, als sie den derzeitigen FDP-Vorsitzenden und Außenminister Guido Westerwelle – kein Kind von Politikern! – suggestiv fragten: „Die politische Klasse verdammt das Sarrazin-Buch in Bausch und Bogen, und eine Million Deutsche kaufen es“? Diese Frage wiederholt die Melodie: Hier ein oberster Repräsentant der „Politischen Klasse“, dort die Millionen der Wähler. Aber: Westerwelle ließ sich nicht in die populistische Falle locken. Er bekannte sich zu seinen Aufgaben als Bundesminister und Stellvertreter der Bundeskanzlerin: „Wenn man regiert, muss man tun, was richtig ist. Ob man dafür mal mehr, mal weniger Beifall bekommt, ist zweitrangig.“

Deutschland ist nicht Appenzell Innerrhoden

Viele Menschen in Deutschland verfolgen derzeit das Protestgeschehen in Stuttgart. In der baden-württembergischen Landeshauptstadt gibt es seit Monaten Proteste gegen einen neuen Bahnhof. Aber, es brodelt nicht nur im Stuttgarter Kessel zwischen Wald und Reben: In Berlin formiert sich eine „Bürgerbewegung“ gegen den Fluglärm des neuen Großflughafens. Im nördlich von Stuttgart gelegenen Weinstadt haben Bürger gerade mit einem Bürgerentscheid gegen den Neubau eines Mineralwasserfreibades gestimmt. Im niedersächsischen Peine demonstrierten Bürgerinitiativen gegen eine geplante Starkstromtrasse. Im brandenburgischen Eberswalde wehren sich die Menschen gegen eine Starkstromleitung, die Windstrom aus der Uckermark und aus Vorpommern in andere Regionen Deutschlands leiten soll. Und im Wendland formieren sich wieder große Menschenmengen gegen die Castortransporte in das Atommüll-Endlager, für das sich die Ratsherren der Gemeinde Gorleben im Jahr 1981 einstimmig ausgesprochen hatten.

Man mag das alles als heilsame Kraft der Zivilgesellschaft feiern, man kann aber auch zum Urteil gelangen, dass die Kurzsichtigkeit der Protestierer oft noch schlimmer ist als die von Lokalpolitikern, die allein auf ihre Wiederwahl achten. Insgesamt werfen solche aktuellen Entwicklungen zwei grundsätzliche Fragen auf: Wie halten wir es mit unserer Demokratie, so wie sie das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht zu regeln suchen? Wie halten wir es mit jenen Menschen, die sich aktiv und professionell der Politik auf allen ihren Ebenen, von der Gemeinde bis zum Europäischen Parlament, widmen wollen, oft sogar ihr ganzes Berufsleben lang?

Welche Demokratie wollen wir?

„Stuttgart 21“ war keine „Basta-Entscheidung“, wie uns der selbstgerechte Schelm, der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler, in seiner Rolle als „Mediator“ weismachen will. Über ihn wird geschrieben, er solle das Kunststück vollbringen, das aufgebrachte Stuttgarter Bürgertum wieder mit dem Staat zu „versöhnen“. Was ist das für ein Verständnis von Demokratie, von parlamentarischer Demokratie, von repräsentativer Demokratie? Was hat man diesem „Bürgertum“ im Schulunterricht beigebracht, wie Entscheidungsfindungen in komplexen, spätmodernen Gesellschaften gehen sollen?

Vor über 20 Jahren wurde das Vorhaben, das nun „Stuttgart 21“ genannt wird, erstmals erörtert. Die Menschen, die das Projekt öffentlich zu vertreten hatten, hießen Ministerpräsident Erwin Teufel, Oberbürgermeister Manfred Rommel, Bundesverkehrminister Matthias Wissmann, Bahnchef Heinz Otto Dürr. 1997 wurde der Architektenwettbewerb entschieden, 2001 begann das Planungsfeststellungsverfahren, 2005 wurde die Baugenehmigung erteilt, 2009 wurden die Finanzierungsverträge unterschrieben, im Herbst 2010 begannen die Bauarbeiten. Auf diesem langen Weg liegen alle demokratisch und rechtsstaatlich notwendigen und vorgeschriebenen Entscheidungen: vom Stuttgarter Gemeinderat über den Landtag bis zum Bundestag. Im Planfeststellungsverfahren wurden mehr als elftausend Einsprüche behandelt; 2006 wies das oberste Verwaltungsgericht Baden-Württembergs drei Klagen gegen den Umbau des Bahnhofs ab. Alle Regeln des deutschen Rechtsstaats wurden eingehalten, der Verfahrensweg ausgeschöpft. Wer sich informieren wollte, was da geplant ist, hatte zahllose Möglichkeiten.

Es freut den Soziologen, wenn dieser Tage so oft die Formel des verstorbenen Klassikers Niklas Luhmann genannt wird: „Legitimation durch Verfahren“. Legitimität ist bei Luhmann keine normative Angelegenheit, es ist eine empirisch nachweisbare faktische Größe: die Bereitschaft, sich mit korrekt herbeigeführten Entscheidungen abzufinden, gerade mit jenen, die einem persönlich nicht passen. Als Soziologe wollte Luhmann mit dieser einprägsamen Formel den eigentlich unwahrscheinlichen Umstand erklären, dass diese Anerkennung sich einigermaßen regelmäßig einstellt, obwohl Parlamente dauernd Entscheidungen fällen, die in Umfragen nie eine Mehrheit erhielten. Luhmann machte deutlich, dass wir es bei dieser Entwicklung mit einer großartigen zivilisatorischen Errungenschaft zu tun haben. Nicht ohne guten Grund fordert Andreas Vosskuhle, der derzeitige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, in diesen Tagen, dass rechtsstaatliche Verfahren einen „Schlusspunkt“ brauchen.

Wer außer den zahlreichen Mitgliedern der „Politischen Klasse“ hätte denn die komplizierten Entscheidungsprozesse führen sollen? Nur die Stuttgarter oder jeder Deutsche mit Bahncard? Wer wäre in der Lage, einen kompletten Entwurf auszuarbeiten, den „das Volk“ dann genehmigen oder verwerfen könnte? Woher käme die Zuversicht, dass ein „basisdemokratisch“ entstandener Entwurf einige Jahre später, wenn die Ausführungsplanungen fertig sind, nicht wiederum auf den Widerstand des „Volkes“ stieße?

Selbst in der Schweizerischen Eidgenossenschaft werden schon sehr lange nicht alle Entscheidungen vom versammelten Wählervolk auf der Wiese bestimmt. Allein in den beiden Schweizer Kantonen Appenzell Innerrhoden und Glarus versammelt sich noch die „Landsgemeinde“, die wahl- und stimmberechtigten Bürger des Kantons, an einem bestimmten Tag unter freiem Himmel, um die legislativen Arbeiten zu erledigen. Selbst die Kantonsregierung wird in Appenzell Innerrhoden so gewählt. So sympathisch und romantisch das auch erscheinen mag, dieser Kanton zählt derzeit 15.000 Einwohner, die Schweiz aktuell 7,8 Millionen, die Bundesrepublik Deutschland 81,8 Millionen. Schon die Tatsache, dass die „Landsgemeinde“ in den meisten Kantonen  – allerdings aus verschiedenen Gründen und teilweise mit viel Wehmut  – abgeschafft wurde, zeigt, dass es sich nicht um eine unumstrittene Institution handelt. Neben logistischen Problemen – wo sollen sich die Bürgerinnen und Bürger zur Abstimmung treffen? Woran erkennt man die Stimmberechtigten? – bestehen unverändert große Bedenken gegen diese Art der politischen Willensbildung, was dazu führte, dass die Schweiz beispielsweise bei der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Ausnahmeklausel für die Landsgemeinden einfügen musste, da diese verschiedenen demokratischen Erfordernissen, unter anderem der geheimen Stimmabgabe, widersprechen. Was in der Schweiz umstritten ist, ist in Deutschland unmöglich: Der Stuttgarter Schlosspark ist keine Wiese auf dem Rütli.

Unsere politische Willensbildung findet in Parlamenten und Regierungen statt und wird durch die Gerichte kontrolliert, unter wachsamer Beobachtung durch die Medien. Wer nun argumentiert, dass Legitimität durch Verfahren nicht ausreiche, sondern dass auch noch eine „inhaltliche Richtigkeit“ dazukommen müsse, die über die positivistische, reine Legalität hinausgehe, betritt historisch schlüpfrigen Boden. Das „gesunde Volksempfinden“, das in „Volksgerichtshöfen“ die Grundlage für die „Rechts“sprechung liefern sollte, wollte sich schon einmal an die Stelle der reinen Legalität setzen.

Wie halten wir es mit unserer Politischen Klasse?

Wenn sogar ein ehemaliger Leitender Ministerialrat und aktueller Lehrbeauftragter an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, Dr. iur. utr. Frank Hennecke, Mitglied der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz, öffentlich suggeriert, dass es sich in Stuttgart und anderswo um einen „Aufstand der Bürger“ gegen die „Politische Klasse“ handele, „die ihr repräsentativ-demokratisches Mandat mit der Entscheidung für ein größenwahnsinniges Projekt weit überstrapaziert hat, sich nachträglich besserer Einsicht verschließt und diese Entscheidung jetzt mit Wasserwerfern rechthaberisch verteidigt“ (Leserbrief Dr. Frank Hennecke aus Ludwigshafen, „F.A.Z.“ vom 23. Oktober 2010), bereitet auch er den Boden für eine Argumentation vor, die Zweifel an unserer Gesellschaftsordnung wecken will.

Es stellt sich doch die grundsätzliche Frage, wer sie eigentlich lösen soll, zumindest bearbeiten soll, die vielen politischen Probleme der Energiewende, der Wehrpflicht, der Haushaltssanierung, der Gesundheitsreform, der Neuordnung der Hartz-IV-Sätze, der Zulassung von „Gigalinern“ auf deutschen Autobahnen, der Vorschrift von Winterreifen, der Gestaltung der Beziehungen Deutschlands zu allen anderen Ländern dieses Globus? Wer soll sich hauptamtlich um diese und viele andere Probleme mit Sachverstand und Leidenschaft kümmern?

Bezahlt für die Wahrnehmung dieser Aufgaben in der Bundesrepublik Deutschland werden derzeit 288.648 Mandatsträger, dazu kommen 8.550 persönliche Mitarbeiter der Volksvertreter, 2.343 Mitarbeiter der politischen Fraktionen, 1.500 Mitarbeiter der Politischen Parteien. Ich will nicht mit Zahlen langweilen, wie sie zuletzt der österreichische EU-Abgeordnete Hans-Peter Martin in seinem informativen Buch „Die Europafalle“ (2009) sorgfältig zusammengestellt hat. Da er zudem alle möglichen Berater, Diplomaten, Landesregierungen, Beamte, Mitarbeiter in Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbänden, sogar die Politikjournalisten, erfasst hat, gelangt er zur stolzen Zahl von 479.972 Personen, die in Deutschland im „Politikbetrieb“ professionell beschäftigt sind; für die 27 EU-Mitgliedsstaaten kommt er auf die Gesamtzahl von 3.120.972 Personen. Das also ist im weitesten Sinne die „Politische Klasse“.

Im Grunde genommen haben wir, also zumindest diejenigen unter uns, die noch nie ein politisches Mandat übernommen haben, die wir nicht einmal in einer politischen Partei mitarbeiten, die wir allenfalls das politische Geschehen in den Medien beobachten, großen Anlass, diesen Frauen und Männern dankbar zu sein, dass sie diese Aufgaben übernommen haben. Bei jeder diskutierten oder gar beschlossenen Diäten-Erhöhung hebt das Geheul wieder an, über die verwöhnten und privilegierten Mitglieder der politischen Elite – aber den Job selbst zu übernehmen und den mühsamen Weg dahin zu gehen, wollen die empörten Ankläger auch nicht! Meckern geht leichter, als sich mit den vertrackten Details der Steuergesetzgebung und der Berechung von Alg II zu plagen.

Niemand kann behaupten, dass in einer Demokratie Politiker immer recht haben und aufgebrachte „Betroffene“, die „Anlieger“ immer unrecht. In einer hochkomplexen Gesellschaft wie der unseren haben wir jedoch solche Entscheidungen in die Köpfe und Stimmzettel der Mitglieder der „Politischen Klasse“ gelegt. Wenn sie groben Unfug machen, rufen wir die Gerichte an, ansonsten wählen wir andere Mitglieder der „Politischen Klasse“. Wenn dabei dieses insgesamt bewährte Regelwerk durch Elemente von Volksbefragungen und Volkentscheiden ergänzt – und nicht ersetzt – wird, kann das nur von Vorteil sein. Das grandiose Vorbild des soeben abgeschlossenen Gotthard-Tunnels, als dem längsten Eisenbahntunnel der Welt, kann gewiss in der Zukunft als Modell dienen, – vor allem dann, wenn man es mit dem dilettantischen Vorgehen bei „Stuttgart 21“ vergleicht.

Der Rechtsstaat braucht immer die Ergänzung durch bürgerschaftliches Engagement, aber nicht eine Entwicklung, die den Rechtsstaat und die parlamentarische Demokratie grundsätzlich in Frage stellt. Das würde den populistischen Rechtsradikalen, den demokratiefeindlichen Linksradikalen und den fundamentalistischen Verfechtern eines Gottesstaates nur in die Hände spielen. Politikverdrossenheit, besonders der derzeit ausgeprägte Widerwille gegen die Parteiendemokratie, die angeblich durch undurchsichtige Verfahren farblose Parteisoldaten an die Macht bringe, darf nicht zur Anarchisierung demokratischer Errungenschaften und damit einer Beschädigung der Zivilgesellschaft führen. Den Mitgliedern der „Politischen Klasse“ sei derzeit viel Standfestigkeit und Durchhaltevermögen gewünscht, die aktuelle Serie der Rücktritte von ehemaligen Mitgliedern der politischen Elite sollte uns wachsam machen. Die Gefahr einer Entleerung der Demokratie ist nicht mehr zu leugnen.