Die verlorene Unschuld

Richard Powers lässt sein Genom entschlüsseln und berichtet in „Das Buch Ich #9“ über diese Erfahrung

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die eine Frage ist, wieviel wir von uns selbst wissen können – die andere aber, wie weit wir solches Wissen überhaupt aushalten. Der amerikanische Autor Richard Powers – dessen letzter Roman „Das größere Glück“ (2009) Auswirkungen der Gentechnologie thematisierte – hat für sich die Probe aufs Exempel gemacht. Auf Anfrage der Zeitschrift Gentleman’s Quarterly, „einen Artikel über die Entschlüsselung (oder Sequenzierung, wie die Fachleute sagen) des individuellen Genoms zu schreiben“, hat er sich zu diesem Experiment hinreißen lassen. Im Unwissen darüber, welche Folgen dies haben könnte.

In seiner Reportage „Das Buch Ich # 9“ dokumentiert Powers im Schema des klassischen Fünfakters, wie ihm das Genom entschlüsselt worden ist. Er war erst (wie der Titel signalisiert) der neunte Mensch, der sich dieser Prozedur unterzog.

Powers hat sich darauf überhaupt nur eingelassen, weil er sich zum einen für gentechnische Fragen interessiert – im Zusammenhang mit dem erwähnten Roman; zum anderen lockte ihn die nicht ungefährliche Aussicht, den realen Gefahren ins Auge schauen zu können: damit er „nicht später von alldem überrumpelt werden wollte, zusammen mit dem Rest der ahnungslosen Menschheit“. Doch bleibt er dabei nicht einfach ein naives Versuchskaninchen? Richard Powers ist sich selbst nicht wirklich sicher – sein Experiment ist somit begleitet von einem Prozess der Bewusstwerdung über die Grenzen der Menschen, inklusive seiner selbst.

Das Verfahren der DNA-Sequenzierung ist interessant. Powers beschreibt es anschaulich. Es ist faszinierend und zugleich höchst ambivalent: Am Ende resultiert daraus ein Wust von 6 Milliarden DNA-Fragmenten aus lauter A, C, G und Ts. Die Betriebs- und Leseanleitung dazu umfasst allerdings erst ein paar wenige Seiten, weshalb die Spezialisten das Genom erst rudimentär zu entziffern und interpretieren vermögen. Es gibt immerhin einige Krankheiten, die aus der DNA herauszulesen sind – freilich bleibt unsicher, wie zwingend diese Erbbelastung tatsächlich zum Ausbruch kommen muss. Für den Probanden birgt eine derart unsichere Diagnose nicht unerhebliche Risiken. Wie lässt sich weiterleben mit der Gewissheit, dass ein Alzheimer-Gen in einem schlummert? Und was hilft es dabei zu wissen, dass dieses nicht ausbrechen muss, sondern nur eine erhöhte Gefahr darstellt?

Richard Powers führt uns mit diesem Selbstexperiment in einen höchst umstrittenen Graubereich zwischen Wissenschaft, Ethik und Gesellschaft. Die Aussagen, die die Genforschung machen kann, sind momentan von sehr beschränkter Haftung. Vieles bleibt im Bereich der Disposition zu etwas stecken. Aufgebläht durch Hoffnungen auf potente Medikamente bleibt dabei in mehrerer Hinsicht unterbelichtet, wie das individuelle Genom mit der individuellen Lebensführung exakt korreliert. Was ist im Effekt stärker: die Erbanlage, die Umweltbedingungen oder der Lebensstil? Diesbezüglich hält sich auch Powers in seiner Reportage eher reserviert zurück. Er ist mit seinem Experiment bereits stärker eingebunden in die angstvoll erwartete Aussicht darauf, eine verhängnisvolle Erbanlage mitgeteilt zu bekommen.

Das Resultat fällt glücklich aus: keine gravierende Prophezeiung, immerhin. Ein erhöhtes Risiko zu Fettleibigkeit beängstigt den notorisch mageren Powers nicht sonderlich. So ist er glücklich über den guten Befund, was ihm auch sehr zu gönnen ist.

Doch was ist von der Entschlüsselung des Genoms grundsätzlich zu halten? Diesbezüglich wirkt Powers recht unschlüssig. „Das individuelle Genom ist ein weiterer zaghafter Schritt vom Schicksal zur Selbstbestimmtheit, vom Fatalismus zum Risikomanagement. Wir legen uns fest darauf, dass wir nicht festgelegt sind. Der Code ist veränderlich und ist es von jeher gewesen.“ Schön und gut. Tatsache bleibt, dass die Gentechnologie a) medizinischen Fortschritt, b) ökonomische Potenz, c) Gefahren der Diskriminierung und d) individuelle Unfreiheit verspricht. Diese Effekte ziehen in unterschiedliche Richtungen.

Der Mensch ist ein sterbliches Wesen, er ist es auch in seiner Belastbarkeit. Bis wohin reicht diese? Wie leicht könnten wir uns selbst beschwichtigen, wenn die Gene ein Unheil voraussagen würden? Richard Powers gibt darauf keine schlüssigen Antworten. Kann und soll er auch nicht. Seine Reportage ist dennoch eine profunde, gute Einstiegshilfe in Fragen, die wir in erster Linie uns selbst stellen müssen.

Titelbild

Richard Powers: Das Buch Ich # 9. Eine Reportage.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010.
79 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783100590275

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