Kriegswaffen

Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn unterstützen mit ihrem Buch „Die Hälfte des Himmels“ Frauen, die weltweit für ihre Zukunft kämpfen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zur Durchsetzung der allgemeinen Achtung von Menschenrechten möchte er sich eher auf „Winke des Empfindens“ als auf die „Gebote der Vernunft“ verlassen, erklärte der vor einigen Jahren verstorbene Philosoph Richard Rorty. Denn „das Auftauchen der Menschenrechtskultur“ verdanke man keineswegs einem „Zuwachs an moralischem Wissen“, sondern vielmehr dem „Hören trauriger und rührseliger Geschichten“.

Das wissen auch Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn. Daher setzen sie in ihrem Buch „Die Hälfte des Himmels“ ganz ausdrücklich nicht auf moralphilosophische Überlegungen, auch nicht auf gesellschaftliche Statistiken, sondern richten „den Blick auf Einzelschicksale“ und berichten drastisch, und das heißt hier realistisch, von den grauenhaften Untaten, die unzähligen Frauen rund um den Erdball angetan werden. Dabei führen sie den Lesenden diese Frauen als Individuen und Personen vor Augen, nennen ihre Namen, erzählen ihre Geschichten und geben ihnen mithilfe zahlreicher Abbildungen Gesichter; etwa einer jungen Frau namens Prudence Lemokouno, die durch sexistisch begründete Unterlassung ärztlicher Hilfeleistung getötet wurde, der Immobilienmaklerin Naema Azar, die mit Säure entstellt und geblendet wurde, Long Pross, die mit 13 Jahren entführt, in ein Bordell verkauft und zur Strafe für ihren Fluchtversuch ein Auge ausgestochen bekam, oder der 17-jährigen Du’a Aswad, die im Irak von mehr als tausend Männern entkleidet und gesteinigt wurde, weil sie sich verliebt hatte. Ihre Mörder waren derart stolz auf ihr Verbrechen, dass sie es mit ihren Handys, die sie als moderne Menschen natürlich stets bei sich trugen, filmten und massenhaft ins Internet stellten.

Anliegen des AutorInnen-Duos ist es, mit dem Buch nicht nur zu zeigen, „wie Frauen weltweit für eine bessere Zukunft kämpfen“, sondern sie in diesem Kampf nach Kräften zu unterstützen. Es gilt, die Frauen dieser Welt, gerade diejenigen in den ärmsten Ländern, „stark zu machen durch alles, was das Selbstbewusstsein stärkt und die Ausbildung eigener Fähigkeiten fördert“. Denn der „erste Schritt zu größerer Gerechtigkeit besteht darin, jene Kultur weiblicher Fügsamkeit und Unterwürfigkeit zu transformieren, damit die Frauen selbstbestimmter und anspruchsvoller werden.“

Das Unterfangen von Kristof und WuDunn verdient alle Unterstützung. Auch wenn sie mit ihrer Agenda, die sich gegen „Sexhandel und Zwangsprostitution; Gewalt gegen das weibliche Geschlecht, einschließlich Ehrenmord und Massenvergewaltigung; sowie Müttersterblichkeit“ richtet, offene Türen einrennen dürften – zumindest in den ,westlichen’ Gesellschaften, in denen es publiziert wird. Insofern könnte es scheinen, es handele sich um ein überflüssiges Buch. Doch das ist es keineswegs. Denn all diese Verbrechen werden Frauen weltweit tagtäglich und massenhaft angetan. Es ist also, im Gegenteil, ein höchst notwendiges Buch. Denn es könnte vielleicht doch dazu beitragen, dass weitere Menschen Frauenrechtsverletzungen nicht nur ablehnen, sondern auch etwas gegen sie unternehmen.

Dabei ist das Buch zugleich aber auch nicht immer unproblematisch. Die vorzubringenden Bedenken sind von unterschiedlichem Gewicht. Da wäre zunächst einmal die wiederholte Betonung des wirtschaftlichen Vorteils, den die Frauenemanzipation den armen und ärmsten Ländern bringen könnte, da „Frauen als ökonomische Katalysatoren“ von Nutzen sein könnten. Das mag zwar so sein, ist aber doch ein fragwürdiges Argument. Sollten Frauen vielleicht unterdrückt bleiben, wenn sich ihre Emanzipation und Gleichberechtigung nicht positiv oder vielleicht sogar nachteilig auf die Wirtschaft auswirken würde? Nein, natürlich nicht. Frauenemanzipation ist ein Wert an sich, der nicht darum anzustreben ist, weil emanzipierte Frauen die Wirtschaft voranbringt (und ihre Emanzipation so wiederum den Männern zugute kommt). Im übrigen zögern die AutorInnen nicht, sich für ihr Wirtschaftsargument ausgerechnet auf Lawrence Summers zu berufen, der für seine biologistisch ‚begründetete‘ Annahme der Inferiorität der Frau – etwa bezüglich ihrer mathematischen Befähigung – berüchtigt ist.

Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die Verharmlosung der Misogynität in ,westlichen’ Gesellschaften, die in dem Buch auf eine „Sache ungleicher Löhne, unterfinanzierter Sportvereine oder unerwünschter Tätscheleien eines Chefs“ heruntergespielt wird. Gerade so, als gäbe es die sogenannte – und in allen gesellschaftlichen Milieus zu beklagende – häusliche Gewalt nicht, keine verprügelten und ermordeten Ehefrauen, keine Vergewaltigungen, nicht die zunehmende Pornografisierung und den damit einhergehenden zunehmenden Druck, sich den Körper entsprechender ästhetischer ,Schönheits‘vorstellungen zurichten zu lassen – und als gäbe es auch das weit verbreitete Phänomen der Prostitution nicht.

Doch die frauenverachtende Institution der Prostitution finden Kristof und WuDunn ohnedies nicht sonderlich kritikwürdig. Nachdrücklich wenden sie sich nur gegen Zwangsprostitution und Frauenhandel. Ansonsten sprechen sie verharmlosend davon, dass die von ihnen herablassend als „Bordellmädchen“ bezeichneten Prostituierten „arbeiten“; ein Ausdruck, der Normalität signalisiert. Kritikwürdig finden sie nur, wenn die „Mädchen“ das Bordell nicht verlassen dürfen und „nie bezahlt“ werden, selbst wenn sie „zehn Kunden oder mehr am Tag“ haben.

Immer wieder und gerade in Zusammenhang mit der Prostitution pflegen die AutorInnen einen derart unbedachten Sprachgebrauch: „Diejenigen, die versklavt beginnen, akzeptieren ihr Schicksal oft irgendwann und prostituieren sich freiwillig, weil sie nichts anderes kennen und für andere Arbeiten zu stigmatisiert sind“. Doch wie kann man in solchen Fällen noch davon sprechen, dass sich diese Frauen freiwillig prostituieren? Dabei merken Kristof und WuDunn später selbst an, dass sich „Sexarbeiter“ – sie benutzen den an die Berufswelt erinnernden verharmlosenden Begriff tatsächlich auch noch im Maskulinum – „kaum in klare Kategorien von Freiwilligen und Unfreiwilligen einteilen lassen.“ An dieser Stelle sei auch angemerkt, dass sie von „Feministinnen“ stets in der femininen Form reden. Dabei ist das quantitative Verhältnis von Feministinnen zu Feministen wohl weniger unausgewogen als das zwischen weiblichen und männlichen Prostituierten. Allerdings sei eingeräumt, dass die Verantwortung für die weiblichen Feministinnen und die männlichen Sexarbeiter dem Übersetzer Karl Heinz Siber anzulasten sein dürfte. Denn im englischen Original ist wohl jeweils geschlechtsneutral von sex workers und feminists die Rede. Als letztes Beispiel für die immer wieder unreflektierte Sprache, das nun allerdings AutorInnen wieder selbst zu verantworten haben dürften, sei angeführt, dass Kristof und WuDunn ausführen, Frauen seien „zur Kriegswaffe geworden – dazu bestimmt, verstümmelt oder gefoltert zu werden“. Bekanntlich werden Waffen nicht verstümmelt und gefoltert, sondern dienen vielmehr dazu, Menschen zu verstümmeln und zu foltern.

Doch noch einmal zurück zur Prostitution, denn hier wird auch deutlich, dass das oft unbedacht wirkende Drauflosreden der AutorInnen zwar publikumsgefällig sein mag, aber leicht dazu beitragen kann, ihre wirkliche Kritik zu verschleiern. Denn tatsächlich kritisieren sie sehr wohl auch „legale Bordelle“. Allerdings nicht etwa, weil diese selbst Teil und Ausdruck des hierarchischen Geschlechterverhältnisse sind und somit abgeschafft gehörten, sondern weil sie „die Entstehung einer ganzen Unterwelt illegaler Parallelgeschäfte mit jungen Mädchen und Zwangsprostitution anregen.“ Daher plädieren Kristof und WuDunn völlig zurecht für das schwedische Modell, das Freiertum unter Strafe stellt, die Prostituierten jedoch unbehelligt lässt. Ebenfalls sehr plausibel ist ihre Argumentation, es sei gesetzgeberisch und überhaupt darauf hinzuwirken, den Profit der Zuhälter und Menschenhändler zu verringern und ihr Risiko zu erhöhen, so dass sich ihre Kosten-Nutzen-Kalkulation nicht mehr rechnet.

Weit weniger überzeugend ist hingegen die Beantwortung der von den AutorInnen „ohne Umschweife“ gestellten Frage: „Ist der Islam frauenfeindlich?“ Die Antwort „des Historikers“ lautet ihnen zufolge eindeutig: „Nein“. Ihm schließen sie sich allem Anschein nach an. Jedenfalls ziehen sie mögliche Antworten anderer wissenschaftlicher Disziplinen oder etwa von Menschen- und Frauenrechtsorganisationen nicht weiter in Betracht. Und selbst das klare Nein „des Historikers“ dürfte in seinem Fach kaum ohne Widerspruch bleiben. Überhaupt kann man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, als sei Kristof und WuDunn daran gelegen, den Islam gesundzubeten. So geben sie etwa einige Geschichten zum besten, die den Propheten Mohammed als „in der Geschlechterfrage fortschrittlich gesinnt“ und die mit ihm im Kindesalter verehelichte Aisha als „ersten Feministin der islamischen Welt“ erscheinen lassen. Diese Anekdoten werden von den AutorInnen präsentiert, als handle es sich um nachweisbare historische Fakten. All dies nur, um den Begründer des Islam als wahren Freund der Frauenemanzipation präsentieren zu können. Gerade mal, dass sie einräumen, der Koran bejahe „ein gewisses Maß an Geschlechterdiskriminierung“: „Die Zeugenaussage einer Frau zählt nur halb so viel wie die eines Mannes, eine Tochter erbt nur halb so viel wie ein Sohn.“ Bei Kristof und WuDunn klingt das fast so, als seien diese Diskriminierungen kaum der Rede wert. Auch versäumen sie nicht, den an sich zutreffenden, von ihnen aber mit relativierender Intention vorgebrachten Hinweis zu geben, dass es Ähnliches auch in der Bibel gibt.

Im Interesse der Verteidigung des Islam werfen sie einem offenbar ,westlich’ gemeinten „wir“ pauschal vor, oft „die Religion verantwortlich“ zu machen, „wo Unrecht und Unterdrückung in Wirklichkeit in der Kultur eines Landes wurzeln.“ Gerade so, als hätten Kultur und Religion nichts mit einander zu tun, als handle es sich um eineindeutig voneinander abgegrenzte Bereiche. Wäre dem so, wären beispielsweise die Passionsfestspiele von Oberammergau entweder ein Teil der Kultur, hätten dann aber nichts mit Religion zu tun. Oder aber sie wären religiös, aber kein kulturelles Ereignis. Als Zeugin für ihre Anklage gegen die dem Islam von ,westlicher’ Seite vermeintlich angetane Ungerechtigkeit wird von Kristof und WuDunn die Iranerin Shirin Ebadi aufgerufen, die Friedensnobelpreisträgerin also, die das Nobelpreiskomitee im Herbst 2010 kompromittiert hat, indem sie deutlich machte, dass ihr das isla(mist)ische Hemd näher ist als die Hose der Freiheit. Demonstrativ boykottierte sie die Vergabe des deutschen Medienpreises an Kurt Westergaard, da seine Karikaturen Mohammeds religiöse Gefühle verletzt hätten.

Zu der dem Islam geltenden Religionsapologie der AutorInnen passt, dass Margot Käßmann im „Vorwort zur deutschen Ausgabe“ ein wenig für die evangelische Kirche werben darf, die sich bekanntlich ebenso wie das Christentum insgesamt und auch Religionen ganz allgemein, nicht eben durch Frauenfreundlichkeit auszeichnet.

Titelbild

Nicholas D. Kristof / Sheryl WuDunn: Die Hälfte des Himmels. Wie Frauen weltweit für eine bessere Zukunft kämpfen.
Übersetzt aus dem Englischen von Karl Heinz Siber.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
359 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406606380

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