Anderschs Leben und Werk als Gegenstand der Philologie

Ein Bericht über die Frankfurter Tagung „Alfred Andersch ‚revisited‘. Die Sebald-Debatte und ihre Folgen“

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Der Anlass für die am 19. November 2010 im Frankfurter Literaturhaus zum Gegenstand einer eintägigen Veranstaltung erhobene Debatte um das Werk von Alfred Andersch geht zurück auf das Jahr 1993. Damals hatte der Literaturwissenschaftler W. G. Sebald in Lettre International einen Aufsatz publiziert, in dem er schwere Vorwürfe gegen Andersch erhob. Diskursgeschichtlich gehört die Kontroverse damit in den Zusammenhang der Auseinandersetzung um Christa Wolf und andere DDR-Autor(inn)en, einer vor allem im Feuilleton ausgetragenen Debatte um den moralischen Stellenwert von Literatur unter den Bedingungen eines totalitären Staates. Sebald griff vor allem zwei biografische Details auf, die durch die Andersch-Biografie von Stephan Reinhardt 1990 bekannt geworden waren. Dabei handelt es sich zum einen um Anderschs Mitgliedsantrag bei der Reichsschrifttumskammer im Februar 1943, für den er einen „Ariernachweis“ erbringen musste und sich – zumindest auch – deshalb von seiner nach Nazi-Kategorien „halb-jüdischen“ Frau Angelika Albert scheiden ließ. Dass sie mit ihrer Tochter die Verfolgungen überleben würde, konnte zu diesem Zeitpunkt für Andersch keine Gewissheit darstellen. Zum anderen hatte Reinhardt ebenfalls recherchiert, dass Andersch 1944 in US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft angegeben hatte, noch immer mit Angelika verheiratet zu sein. Sebald ließ es nicht dabei bewenden, gegenüber Andersch den Vorwurf zu erheben, zum eigenen Vorteil seine Biografie verfälscht zu haben. Der eigentlich heikle Punkt lag darin, dass Sebald auf Grund der nun öffentlichen Manipulationen von Anderschs Lebensgeschichte dessen Gesamtwerk als moralisch kompromittiert ansah. So deutete er Anderschs Erfolgsroman „Sansibar oder der letzte Grund“ (1957) als „ein Stück umgeschriebener Lebensgeschichte“. Hinzu kam ein deutlicher Vorwurf gegen die Fachdisziplin Germanistik, der er im Hinblick auf Andersch einen „für ihre Branche charakteristischen Eiertanz“ attestierte.

Für seine Position habe Sebald laut Jörg Döring von der Universität Siegen, der die Frankfurter Tagung konzipierte, nur ganz vereinzelt Zustimmung erhalten, überwiegend aber eine Zurückweisung erfahren. Weder die textanalytischen Befunde noch die werkbiografischen Thesen Sebalds wurden seither nennenswert aufgegriffen und weiterverfolgt. Im Kommentar zur Andersch-Werkausgabe wurden schließlich auch die von Sebald erhobenen moralischen Vorwürfe zurückgewiesen. Neuerlich entzündete sich die Kontroverse aus dem Jahre 1993 dann noch einmal vor zwei Jahren, dieses Mal ausgelöst durch einen weiteren Aktenfund, über den Jörg Döring und Rolf Seubert am 19. August 2008 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ berichteten – sowie durch eine Veröffentlichung von Anderschs Tochter, die einen Band bei Edition text + kritik herausbrachte. Darin enthalten ist auch eine Recherche des Historikers Johannes Tuchel, der Anderschs Verhalten während des Nationalsozialismus anhand von historischen Quellen untersucht. Auch wenn er in der moralischen Bewertung zu anderen Schlussfolgerungen gelangt als Sebald, wird der freie Umgang mit biografischen Daten und darunter insbesondere auch die Literarisierung von Anderschs Haft in Dachau kritisch beleuchtet. Die ganze Publikation versteht sich offensichtlich als Hinweis an die Germanistik, dass von Seiten der Familie alles unternommen wurde, die historischen Umstände von Anderschs Biografie während des Nationalsozialismus offen zu legen. Beiden Veröffentlichungen folgte erneut eine lebhafte Kontroverse.

Die Tagung in Frankfurt stellte nach Wunsch ihrer Veranstalter den Versuch dar, diese zum Teil sehr polemisch geführte Debatte endlich wieder philologisch zu führen. Auf dem Hintergrund auch neuerlicher Fakten sollte überprüft werden, inwiefern Anderschs Werk auch wunschbiografische Züge trage, wie sich darin Selbstaufklärung und Selbststilisierung zueinander verhielten. Während Sebald offensichtlich alles in Zweifel zu ziehen versucht hatte, ohne aber selbst ein eigenes Quellenstudium betrieben zu haben, hätte sich die Situation nicht zuletzt auch auf dem Hintergrund der Recherchen von Johannes Tuchel inzwischen noch einmal gründlich geändert.

In seinem eigenen Beitrag präsentierte Jörg Döring eine textgenetische Untersuchung des handschriftlichen Manuskripts von „Die Kirschen der Freiheit“ (1952), jenem kurzen autobiografischen Bericht, mit dem Andersch nicht nur eine breitere Öffentlichkeit erreichte, sondern dem der Autor auch viel von seinem Renommee eines glaubwürdigen Intellektuellen in der Adenauerzeit verdankte. Andersch hat immer darauf insistiert, dass dieser Text als Autobiografie zu gelten habe. Döring konzentrierte sich in seiner „Autopsie des handschriftlichen Befundes“ vor allem auf die Dachau-Passage, die spätestens seit Sebalds Invektive einen neuralgischen Punkt der Auseinandersetzung um Anderschs Selbststilisierung bildet. An den Rand notierte Marginalien sind bei textgenetischen Untersuchungen ebenso von Interesse wie Streichungen oder Einschübe.

Tatsächlich hat Andersch sein Manuskript auffällig wenig korrigiert; das erhöhe jedoch das Gewicht der vorhandenen Änderungen. Döring zeigte unter anderem, dass Andersch eine zunächst vorgesehene Widmung an die Soldaten „des in zwei Lager geteilten deutschen Heeres“ – wobei ursprünglich von der „aufgeteilten deutschen Armee“ die Rede war – wieder gestrichen hat. Die entfernte Widmung deutete Döring als eine Art nachgeholter Verbeugung vor den ehemaligen Kriegskameraden und bewertete die Verabschiedung einer solchen „Demutsgeste“ als mutige Entscheidung. Dass sich Andersch insgesamt im Kontext der von seinem Freund Wolfgang Weyrauch auf das Stichwort gebrachten „Kahlschlags“-Diskussionen verortete, mag ebenfalls daran abgelesen werden. Im Zusammenhang mit der Episode um seine Mitgliedschaft im kommunistischen Jugendverband Bayerns hatte sich Andersch an den Rand notiert: „stiller – genauer der Wahrheit entsprechend“.

Im Blick auf Anderschs Darstellung seiner KZ-Haft in Dachau 1933 unterstrich Döring, es sei noch immer wenig darüber bekannt. Das Familiengedächtnis der Anderschs bezöge sich hinsichtlich der Haft auf Erinnerungen ex post und insgesamt müsse die Quellenlage als dürftig angesehen werden. Für umso wichtiger hält es Döring daher, das verfügbare Material heranzuziehen. Sebald hatte sich in seinem Essay verwundert darüber gezeigt, dass diese zentrale Passage so „eigenartig leer und kursorisch“ erscheine.

Mit anderen Worten steht die Frage im Raum, warum der Autor, der an anderer Stelle kaum vor Selbststilisierung zurückschreckte, so wenig ästhetisches und moralisches Kapital aus seiner Haftzeit in Dachau geschlagen habe. Die Passage „Ich will nicht beschreiben, was dann kam“, die in rhetorischer Hinsicht eine captatio benevolentiae darstellt und auch als Ausdruck einer Überlebensscham hätte verstanden werden können, hat Andersch interessanterweise gestrichen. Gleichzeitig bediente er sich einer Untertreibungsrhetorik, wie Döring es nennt, wenn er seine Inhaftierung sein „lumpiges Vierteljahr Haft“ nennt. Angesichts der von Johannes Tuchel ermittelten Haftzeit von etwa sechs Wochen bleibt freilich eine gewisse Irritation im Hinblick auf diese Darstellung nicht aus. Heftigen Widerspruch erfuhr im Anschluss an den Vortrag Dörings Bemerkung, dass sich Andersch im Zusammenhang mit einem Transport kommunistischer Häftlinge, den er entgegen der historischen Fakten ausschließlich als jüdisch wahrnahm, eines antijüdischen Stereotyps bedient hätte. In der Passage heißt es: „Die Juden würden nicht lange bleiben, dachten wir. Es waren lauter Kaufleute und Ärzte und Rechtsanwälte, Bourgeoisie. […] Sie waren still und hatten gute Anzüge an.“ Für die von Stephan Reinhardt vorgeschlagene Lesart, Andersch habe bewusst eine damals eingenommene und inzwischen überwundene Wahrnehmung ausgestellt, spricht allerdings wenig; insbesondere fehlt jeder Hinweis auf eine spätere Distanzierung.

Der Siegener Berufs- und Wirtschaftspädagoge Rolf Seubert schloss in seinem Vortrag unmittelbar daran an und präsentierte Ergebnisse einer Recherche nach historischen Quellen, die für eine Einschätzung der „Kirschen der Freiheit“ im Hinblick auf die darin dargestellten historischen Ereignisse von Interesse sind. Während sich etwa ein Eintrag von Andersch im Haftbuch Stadelheim findet, gibt es keinen entsprechenden Eintrag im „Schutzhäftlinge Grundbuch Landsberg“. In Reinhardts Biografie wird eine Überstellung Anderschs von Stadelheim nach Landsberg angenommen; dagegen vertritt Seubert die Ansicht, dass sich auf Grund des fehlenden Vermerks im Landsberger Grundbuch für Schutzhäftlinge über die 14 Tage zwischen Anderschs Inhaftierung in Stadelheim und seiner Haft in Dachau nichts sagen ließe.

Weiterhin rekonstruierte Seubert unter anderem die Ereignisse am 12. April 1933, zu der eine Vielzahl von Quellen existiert. An diesem Tag wurden vier jüdische Häftlinge, die mit dem von Andersch erwähnten Transport am Vortag angekommen waren, Rudolf Benario, Ernst Goldmann sowie die Brüder Arthur und Erwin Kahn von der SS ermordet beziehungsweise im Falle von Erwin Kahn, so schwer verletzt, dass er wenig später verstarb. Bei Andersch werden aus den vier Ermordeten zwei, die er mit den Fantasienamen Goldstein und Binswanger belegt. Auch wenn sich Andersch acht Jahre nach seiner Haft nicht mehr unbedingt an Einzelheiten erinnert haben mag, so verwundert Seubert doch, dass Andersch die im Zusammenhang mit dem im März 1952 gegen den an der Ermordung beteiligten SS-Mann Steinbrenner eröffneten Prozess bekannt gewordenen Fakten offenkundig nicht zur Kenntnis nahm. Auch hinsichtlich von Anderschs offenbar falscher Selbststilisierung zum kommunistischen Jugendführer kommt Seubert zu dem Schluss, dass in „Kirschen der Freiheit“ kaum ein Detail mit den Quellen und Berichten übereinstimme.

Auch der Historiker Felix Roemer hat eine neue Quelle ermittelt, die sich auf Anderschs Kriegsgefangenschaft in den Vereinigten Staaten bezieht und die er bereits in einer Ausgabe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte publizierte (Heft 4/2010). Ab dem 7. Juni 1944 wurde Andersch in dem POW Camp Fort Hunt in Virginia eine Woche lang befragt und abgehört. Weil Andersch selbst nicht wusste, wohin er verbracht worden war, blieb diese Episode seiner Kriegsgefangenschaft bislang unbekannt. Im Rahmen eines größeren Projekts zur Mentalitätsgeschichte der Wehrmacht hat Roemer die Verhör- und Abhörprotokolle von Andersch ausgewertet. Auch wenn er einräumt, dass die Akten sicherlich keine sensationellen neuen Erkenntnisse enthielten – es findet sich etwa eine uneindeutige Aussage über Anderschs geschiedene Ehe („he’s married to a half-jewess“) sowie die Behauptung, statt einer kommunistischen Jugendorganisation einer sozialdemokratischen angehört zu haben –, so lasse sich Andersch mentalitätshistorisch dennoch auf Grund dieser Funde besser einordnen. Er habe einem bestimmten Segment innerhalb der Wehrmacht angehört, das einen „moderaten Nationalismus“ vertrat; innerhalb dieser Gruppe sei er einer der ganz wenigen gewesen, die desertiert hätten. In einer ebenfalls in den Archivbeständen aus Fort Hunt aufgefundenen Denkschrift „Deutscher Unterground“ habe Andersch ein elitäres Modell von Widerstand entworfen und sich mit der deutschen Literaturszene im Nationalsozialismus auseinandergesetzt.

Der Vortrag des Hamburger Germanisten Alexander Ritter bezog sich auf Anderschs Erfolgsroman „Sansibar oder der letzte Grund“ (1957), dem zweifellos bekanntesten Text des Autors. Ritter deutete an, dass es vermutlich zwei verschwiegene Vorbilder zum Roman gebe, von denen er einen vorstellte. Auf die Enthüllung des zweiten Vorbilds müssen Interessenten noch bis zur Veröffentlichung von Ritters Aufsatz warten. Schon Horst Bienek hatte Andersch 1961 nach dem auffälligen Titel befragt, worauf Andersch dilatorisch reagiert hätte.

Bücherverzeichnisse zur nationalsozialistischen Literatur offenbaren genau einen Titel, in dem „Sansibar“ auftaucht: Kuni Treml-Eggerts (1889-1957) antisemitischen Roman „Freund Sansibar – Ein Roman aus unseren Tagen“ (1938/1939). Ritter geht davon aus, dass Andersch der Roman bekannt gewesen sein müsse, zumal Tremel-Eggerts Bücher in dem selben Verlag erschienen, für den Andersch zeitweilig in den 1930er-Jahren arbeitete. Allerdings sei die paratextuelle Funktion des Titels umgedeutet und primär auf den Inselmythos und den Exotikeffekt reduziert. Auch wenn die auffällige Wiederholung eines topografischen Begriffs keinen zwingenden Beweis für Anderschs Kenntnis von Tremel-Eggerts Roman darstellt, gibt es Hinweise für eine intensive Beschäftigung mit völkischer Literatur wie etwa Anderschs programmatischen Text „Deutsche Literatur in der Entscheidung“ (1948). Analog zu Tremel-Eggert wählte Andersch vergleichbare Stellvertreterfiguren, die Varianten individueller Reaktionen auf den Nationalsozialismus verkörpern.

Es sind vor allem fünf erste Schlussfolgerungen, die Ritter zur Diskussion stellte: 1. Anderschs negatives Verdikt über die völkische Literatur, das unter anderem aus der erwähnten Programmschrift von 1948 spricht, impliziere eine Kenntnis dieser Literatur. 2. Das dezidierte Verschweigen von Quelle und Anlass – Tremel-Eggerts Roman – könne als Eskapismus gedeutet werden. 3. Hinsichtlich des Schlüsseljahrs 1938, in dem nicht nur Tremel-Eggerts Buch erschien, mit den reichsweiten Pogromen im November die nationalsozialistische Verfolgung der Juden eine weitere Verschärfung erfuhr und das ehemalige Ostseedorf Alt Gaarz in Rerik umbenannt wurde, muss verwundern, dass Andersch die Handlung seines Romans zwar in einem Ort „Rerik“ ansiedelt, die Zeit aber auf das Jahr 1937 vordatiert. Der historische Ort werde so von Andersch entideologisiert und enthistorisiert. 4. Eine Konfrontation mit der NS-Zeit werde dadurch zu Gunsten einer Universalisierung zurückgewiesen. 5. Anderschs Selbstinszenierung als redlicher Intellektueller veranlasse, sich diesen Fragen zu stellen.

Die letzten drei Vorträge schlugen dann den Bogen zu Sebald. Markus Joch von der Universität Frankfurt bekräftigte, dass Sebalds Philippika einen richtigen Kern enthalte, der sich im Hinblick auf Anderschs Techniken der Selbstheroisierung bestätige. Der gegen Sebald erhobene Vorwurf des Biografismus sei zudem vor dem Hintergrund wenig plausibel, dass Andersch selbst wie kein anderer seine Vita zur Selbstdurchsetzung im literarischen Feld genutzt habe. Dennoch spreche wiederum für Andersch, dass er mit wachsendem Abstand seine Selbstinszenierung verändert habe.

Die „Aura des Widerständlers“ sei einer „Ästhetik der Scham“ gewichen. Strategisch hätte Andersch sich und seiner Generation erfolgreich das nötige „symbolische Kapital“ (Pierre Bourdieu) zur Positionierung auf dem Literaturmarkt verschafft. Damit ist die zeitweilig nahezu hegemoniale Rolle der „Gruppe 47“ auf dem bundesdeutschen Literaturmarkt gemeint. Joch kommt zu klaren Aussagen: Während Andersch zur Auslassung in der Darstellung genötigt gewesen sei, könne dies jedoch nicht für seine Selbststilisierung behauptet werden. Sebalds Vorwurf der Schuld – wegen der Scheidung von seiner „halb-jüdischen“ Frau Angelika Albert – sei allerdings zu hoch gegriffen; richtiger wäre es gewesen von „Verfehlung“ zu sprechen. Joch geht davon aus, dass sich Andersch dieser Verfehlung nach 1945 bewusst gewesen sei, wofür unter anderem die „umgeschriebene Lebensgeschichte“ in „Sansibar“ spreche. Die heroische Hauptfigur Gregor sei durch eine ganze Merkmalskette mit dem Autor verbunden. In der heiklen Mischung aus Ähnlichkeit und Differenz müsse allerdings keine bewusste Irreführung gesehen werden. Nachdem der Andersch-Biograf Stephan Reinhardt, der schon 1993 unmittelbar auf W. G. Sebald geantwortet hatte, jetzt von einem Satz des letzteren ausgehend erneut eine Kritik an dessen moralischen Vorwürfen vortrug, konzentrierte sich auch Rhys Williams von der Universität Swansea in seinem Abschlussvortrag auf eine Thematisierung von Sebalds Andersch-Polemik in Verbindung mit dessen eigener Ästhetik. Damit hatte sich der Tagungsfokus und mit ihm die Debatte von Andersch zu Sebald verschoben, dessen literarisches Werk nun ebenso wie seine moralische Rigorosität einer Überprüfung unterzogen wurde.

Problematisch an Sebalds forcierter „Suche nach Authentizität“ sei unter anderem, dass er nicht davor zurückgeschreckt habe, eine Art „Identitätsraub“ zu begehen. Williams erinnerte damit unter anderem an den Fall des Londoner Künstlers Frank Auerbach, dessen Lebensgeschichte Sebald für seine Figur Max Aurach in „Die Ausgewanderten“ (1992) genutzt hatte. Ohne dessen Einverständnis nahm Sebald auch Reproduktionen einzelner Bilder des Künstlers in sein Buch auf. Als moralisch fragwürdig stellte Williams auch Sebalds Einarbeitung von Susi Bechhöfers Lebenserinnerungen in seinen Roman „Austerlitz“ (2001) hin. Die „Vehemenz und Einseitigkeit“ von Sebalds Andersch-Invektive erklärte er schließlich mit der überraschenden These einer Art nachgetragener Konkurrenz um die Darstellung jüdischen Exils in England. So entwarf Williams ein Bild des Autors Sebald, das diesen als ebenfalls moralisch kompromittiert erscheinen lässt. In Anspielung auf die Kontroverse um Sebalds jüngst aus dem Nachlass veröffentlichte Polemik gegen Jurek Becker, fragte er abschließend zugespitzt, ob erst weitere Enthüllungen über Sebald nötig seien, um zu einem gerechteren Urteil über Andersch zu gelangen.

Trotz der kontroversen Grundstimmung auf der Tagung, die deutlich einen Nachhall der vorausgegangenen Debatten bildete und auf Grund der zum Teil identischen Protagonisten auch nicht zu verwundern braucht, dürfte es dennoch gelungen sein, den von Jörg Döring formulierten Anspruch einer Rückkehr zur Philologie weitgehend einzulösen. Markus Jochs These einer Wandlung Anderschs von der Selbstheroisierung hin zu einer Ästhetik der Scham könnte neuerliche Andersch-Lektüren anregen. Damit wäre positiv erwiesen, dass die kritische Analyse eines Werkkomplexes ohne Tribunalisierung durchaus dem Interesse an einem Autor zu gute kommen kann. Untermauert wurde andererseits die Faktenbasis zur Differenz zwischen Anderschs Biografie im Nationalsozialismus und ihrer literarischen Stilisierung. Über den Befund der verschiedenen Auslassungen und Umschreibungen in seinem zentralen, biografischen Werk „Kirschen der Freiheit“ dürfte – und sollte – weiter gestritten werden. In jedem Fall hat die Tagung gezeigt, dass eine Beschäftigung mit historischen und biografischen Kontexten von literarischen Texten ebenso wenig einfach abzuweisen ist wie mit Blick auf Positionierungen im literarischen Feld die Frage von Urteilen und Bewertungen ausbleibt.