Ursprung des Romantischen

Ralf Georg Czapla rezensiert Edith Höltenschmidts " Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel"

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Romantik gilt gemeinhin nicht nur als eine der produktivsten und wirkungsmächtigsten literarischen Epochen, sie markiert auch die Geburtsstunde einer Fachdisziplin, die sich um 1800 unter dem Namen 'Germanistik' den bis dahin unerforscht gebliebenen Denkmälern des deutschen Altertums zuzuwenden begann. Die zeitgenössische Literatur geriet zunächst kaum oder überhaupt nicht in den Blick dieser jungen Wissenschaft. Was in alt- und mittelhochdeutscher, in altsächsischer, altnordischer oder gotischer Sprache verfaßt war, wurde von den deutschen Philologen als das ursprünglichere, reinere und infolgedessen als das qualitativ hochwertigere bevorzugt.

Edith Höltenschmidt hat sich in ihrer von dem Kölner Mediävisten Joachim Bumke betreuten Dissertation, die für den Druck auf 900 Seiten gekürzt (!) wurde, die anspruchsvolle Aufgabe gestellt, die Mittelalter-Rezeption der Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel auf der Grundlage eines intensiven Studiums veröffentlichter wie unveröffentlichter Quellen nachzuzeichnen. Indem sie nicht nur der Frage nachgeht, mit welchen Schwerpunkten das Brüderpaar Mittelalterforschung betrieben hat, sondern inwieweit Mittelalterliches als Substrat in ihre literarischen Texte eingegangen ist, leistet sie - dies sei bereits an dieser Stelle gesagt - einen außerordentlichen Beitrag sowohl für die ältere als auch für die neuere deutsche Literaturwissenschaft.

Höltenschmidts Arbeitsstudie gliedert sich in drei Teile. Der erste behandelt die Mittelalter-Rezeption der Schlegels in ihrer Zeit und spannt den Bogen von der Kindheit der Brüder bis zu den letzten Lebensjahren, wobei zugleich die Mittelalter-Begeisterung der Zeitgenossen in den Blick genommen wird. Ungeachtet der frühen Sozialisierung durch das Elternhaus und ersten Plänen August Wilhelm Schlegels zu einer Nachdichtung des Tristan-Stoffes während seiner Tätigkeit als Professor in Jena, sieht Höltenschmidt die Hauptphase der Mittelalterstudien in A.W. Schlegels Berliner und in F. Schlegels Pariser und Kölner Zeit. Während August Wilhelm Studien zur Artusepik betrieb und eine kritische Ausgabe des Nibelungenliedes ins Werk setzte, besorgte sein jüngerer Bruder verschiedene Editionen altfranzösischer und altdeutscher Memoirenliteratur, Tätigkeiten, die beide Forscher durch literarhistorische, geschichtswissenschaftliche und philosophische Studien flankierten. Die gemeinsame Herausgabe einer Zeitschrift für die Erforschung des Mittelalters, an der sich der Verleger J. F. Cotta zunächst interessiert gezeigt hatte, zerschlug sich indes.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Rolle des Mittelalters sowie mit der ästhetischen Betrachtung mittelalterlicher Literatur im Horizont romantischer Literaturgeschichte und Literaturtheorie. Anhand von A.W. Schlegels Berliner Vorlesungen zur Literatur und Enzyklopädie sowie Friedrichs Vorlesungen über Universalgeschichte (1805/06) und neuere Geschichte (1810/11), die in den Vorlesungen über die Geschichte der alten und neuen Literatur (1812) und den geschichtsphilosophischen Vorlesungen des Jahres 1828 ihre kulturhistorische Ergänzung und Präzisierung fanden, zeichnet die Verfasserin die Genese des Mittelalter-Bildes der beiden Brüder Schlegel, das sie mit dem Mittelalter-Verständnis anderer Frühromantiker kontrastiert. Dabei zeigt sie, dass die historische Mittelalter-Forschung der Schlegels stets mit dem - vor allem politisch motivierten - Versuch einer Rehabilitation dieser Epoche einhergeht. Eine wichtige Gelenkstelle zwischen der historischen Mittelalter-Betrachtung und der literarhistorischen Verankerung mittelalterlicher Literatur sieht die Verfasserin in der spezifischen Behandlung des Rittertums. Rittertum und Ritterpoesie werden von in den Mittelalter-Studien der Brüder Schlegel stets wechselseitig aufeinander bezogen, gelten sie ihnen doch als Ausdruck poetischen Rittergeistes. Die ästhetische Betrachtung mittelalterlicher Poesie orientiert sich vor allem an den für die romantische Literaturgeschichte und Literaturtheorie konstitutiven Schlüsselbegriffen wie "das Romantische", "Mythologie" oder "Natur- und Kunstpoesie". Mittelalterliche Poesie erscheint in der Perspektive der Schlegels als Ursprung des Romantischen, was A.W. Schlegel gestattet, das Nibelungenlied als Meisterwerk sowohl der Weltliteratur als auch der romantischen Literatur zu würdigen.

Der dritte Teil der Arbeit ist A.W. Schlegels textphilologischen Studien zur altdeutschen Literatur gewidmet. Obgleich sie sich methodisch eng am Vorbild der klassischen Philologie orientieren, folgen sie letztlich einem neuen philologischen Konzept, in dessen Mittelpunkt Grammatik, Kritik und Hermeneutik stehen. Anhand von Schlegels Rezensionen zu den "Altdeutschen Wälder" und zum "Titurel-Sendschreiben" lässt die Verfasserin deutlich werden, dass sich A. W. Schlegel mit diesem Philologie-Konzept durchaus im Widerspruch zu den Gelehrten seiner Zeit befand, namentlich zu Jacob Grimm. Untersuchungen zum Nibelungen-Projekt, dem bedeutendsten, umfangreichsten und populärsten Vorhaben A.W. Schlegels zur philologischen Erschließung der Literaturdenkmäler des deutschen Altertums, beschließen Höltenschmidts Studie.

Der Wert der Untersuchung geht weit über den einer Studie zum Mittelalter-Bild der Frühromantik hinaus. Sie ist ein beeindruckendes Plädoyer für die Quellenforschung, zeigt sie doch, welche erstaunlichen Ergebnisse sich auch mehr als 150 Jahre nach dem Ableben der Schlegels noch zu Tage fördern lassen, wenn man auf das Quellenmaterial zurückgreift, anstatt dasjenige ab- oder umzuschreiben, was in Vorarbeiten zu finden ist. Blickt man auf das 50-seitige Literatur- und Quellenverzeichnis am Ende der Arbeit, von dem allein die Hälfte handschriftliche und gedruckte deutsche und lateinische Zeugnisse nachweist, so wird, von der Fähigkeit der Verfasserin zu einer angemessenen sprachlichen Darstellung einmal abgesehen, rasch deutlich, warum diese Arbeit eine derart beeindruckende Güte besitzt. Es bleibt der Verfasserin zu wünschen, dass die Fachwelt ihre enorme Arbeitsleistung honoriert und ihr Buch alsbald zu den Grundlagenwerken der Rezeptionsforschung zum Mittelalter gehört.

Titelbild

Edith Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel.
Schöningh Verlag, Paderborn 2000.
900 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3506739522

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