Amor fati

Das lyrische Gesamtwerk von Gertrud Kantorowicz verweist auf eine universale deutsche Bildungswelt – jetzt liegt es in einer mustergültigen Edition vor

Von Bastian SchlüterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bastian Schlüter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Reihe der Frauen um Stefan George spielte die Dichterin und Kunsthistorikerin Gertrud Kantorowicz ein besondere Rolle: Sie war die einzige Frau, die George für würdig befand, in seinen „Blättern für die Kunst“ eigene Arbeiten zu veröffentlichen. So erschien in der vierten Folge der „Blätter“ im Jahr 1899 eine Auswahl von Gedichten der dreiundzwanzigjährigen „Poetessa“, wie Friedrich Gundolf sie nannte. Dass George die ausgewählten Gedichte gefallen haben, nimmt dabei kaum wunder, denn ihr Tonfall und ihre Bildlichkeit vermitteln leicht den Eindruck, der Meister könne sie selbst geschrieben haben.

Die Lyrikerin, die wie ihr berühmterer Cousin, der Historiker Ernst Kantorowicz, einer wohlhabenden jüdischen Fabrikantenfamilie aus Posen entstammte, beherrschte den Sound des wohlparfümierten Ästhetizismus der Jahrhundertwende zwischen George, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke in der Tat hervorragend. Lichtdurchflutete Frühlingsszenen, Ornamentales und Florales prägen die Jugendlyrik, der Zyklus „Einer Toten“, in den „Blättern“ abgedruckt, vollzieht den Schritt ins georgehaft Morbide und Überfeinerte: „Ich trage schöne tote Schmetterlinge / Die nächtlich nach der heißen Sonne darben“.

Man wird in Gertrud Kantorowicz keine Lyrikerin von exzeptionellem, wohl aber von eigenem Rang finden. So ist es ein großer Gewinn, dass ihr lyrisches Œuvre nun in einer philologisch mustergültigen Edition vorliegt, vom Herausgeber klug kommentiert und mit einer alles Wissenswerte versammelnden Einführung versehen.

Die Entstehungszeit von Kantorowicz’ Gedichten umspannt ein knappes halbes Jahrhundert: von der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts bis ins Jahr 1945, dem Todesjahr der Dichterin, die im April im Konzentrationslager Theresienstadt an den Folgen ihrer Internierung starb, wenige Tage vor der Befreiung des Lagers. Es lassen sich aus den Gedichten des Bandes die Spiegelungen einer Biografie herauslesen, die nicht nur auf das Individuum Gertrud Kantorowicz verweisen, sondern darüber hinaus zu einem Lebens-, Schreib- und vor allen Dingen einem Bildungsentwurf im frühen 20. Jahrhundert hinführen.

Dieser war – es lässt sich kaum besser als an vielen intellektuellen Biografien im Umkreis Stefan Georges studieren – ein spezifischer Entwurf des „assimilierten“ jüdischen Bildungsbürgertums innerhalb der deutschen Kultur, wie es sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts etabliert hatte. Dieses Lebensmodell repräsentierte in sich eine europäische Kultursynthese von der Antike über das Mittelalter, über die Renaissance bis hin zu den Denkern und Dichtern der eigenen Zeit – wobei zu letzteren in der Tat immer wieder und mit besonderer Anhänglichkeit Stefan George gezählt wurde. Die zu Gedichten gewordenen Abbilder einer solchen deutsch-humanistischen, darin aber europäisch-universalen Bildungswelt finden sich wie konzentriert im literarischen Werk Gertrud Kantorowicz’. Dies ist es, was dessen Bedeutung und Größe ausmacht.

Seinen Anfang nimmt dieses Werk in der perfektionierten George-imitatio, die den Meister für sich einnahm. Dann aber folgen gemessen strenge Michelangelo-Übertragungen aus den 1920er-Jahren, die die promovierte Kunsthistorikerin und Renaissance-Expertin anfertigte. Dazu kommen Gedichte, die in antiken Formen und Motiven sprechen, die auf Christliches und Goethe’sches verweisen – und am Ende dieses Bildungsganges in Lyrik stehen die Werke, die die Dichterin im Konzentrationslager Theresienstadt niederschrieb. Dorthin war sie 1942 deportiert worden, nachdem sie zusammen mit ihrer Tante und anderen Frauen beim Versuch verhaftet worden war, aus Deutschland über die Grenze in die Schweiz zu fliehen.

Amor fati – diese durch Nietzsche berühmt gewordene Fügung wählte Gertrud Kantorowicz als Überschrift für einen Zyklus von acht Gedichten aus ihren letzten Lebensjahren im Lager. Der amor fati ist die Liebe zum eigenen Geschick, wie auch immer es sein möge; die Bejahung des Lebens und Weiterlebens unter jeden Umständen. Und auf nietzscheanischen Pfaden wandeln diese Gedichte fort: In dithyrambischen Strophen feiert die Dichterin ein Dionysion, ruft sie Bilder auf, in denen sich Nietzsches griechische Antike in ihrem vitalen Archaismus und ihrer antiklassizistischen Sinnlichkeit spiegelt: „Narrentänze Narrentänze! / Knotet kleine Satyrschwänze / Rücklings fesselnd Paar zu Pärchen / Bockshorn Weinschlauch Mär und Märchen“.

Den Kern dieser Gedichte aber bildet einmal mehr die schon von George in Verse gefasste Vorstellung vom kairos, vom gelingenden Augenblick und seiner umformenden Kraft: „Dem Augenblicke lerne dich versöhnen: / Echo der Frühe trägt sein Tritt ihn krönen / Künftge Gesichte, dunkle und die schönen.“ Eine solche Bilder- und Bildungswelt kann nicht die Erlösung von der Wirklichkeit des eigenen Lebens herbeiführen, die im Falle Kantorowicz’ jene des verbrecherischen Lagers war, wo sich die beinah Siebzigjährige aufopferungsvoll und nicht ermüdend um Kranke kümmerte. Wohl aber kann sie das Wissen darum preisgeben, „daß es ein heroisches Dasein gegeben hat, solchen Mut, nicht zum Sterben, sondern zum Leben, zum schönen Leben“, wie Kantorowicz an anderer Stelle als Quintessenz ihrer Studien zur Antike schrieb.

Zuletzt ist dieser Lyrik so die tiefe Überzeugung eingeschrieben, dass Kunst Leben sein kann. Es ist, in der Diktion des George-Kreises, dieses schöne Leben, die Kalokagathie, um die Gertrud Kantorowicz wie keine andere wusste. „Der griechische Mensch des Kreises“ ist sie genannt worden. Ihr Werk, ihr Leben und ihr Lebensentwurf sind wiederzuentdecken.

Titelbild

Gertrud Kantorowicz: Lyrik. Kritische Ausgabe.
Herausgegeben von Philipp Redl.
Manutius Verlag, Heidelberg 2010.
240 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783934877764

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