Ungeheuerliche Schönheit und lasterhafte Süße

Sabine Coelsch-Foisners und Michaela Schwarzbauers Tagungsband zum Thema „Leidenschaft und Laster“

Von Irina HronRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irina Hron

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die enorme Bandbreite des Motivkomplexes von Tugend und Sünde, Schönheit und Monstrosität bildet den Angelpunkt, um den die sechzehn Beiträge des Tagungsbandes „Leidenschaft und Laster“ kreisen. In drei übergeordneten Abschnitten wird die Themenstellung in ihrem Facettenreichtum ausgeleuchtet und auf die Aspekte von Tugend und Sünde (I), der verhängnisvollen Schönheit (II) sowie auf das ungleiche Paar der Schönen und des Ungeheuers (III) zugespitzt. Hervorgegangen aus den Akten zweier Tagungen an der Universität Salzburg, entpuppt sich der Band als überaus interdisziplinäres Konglomerat von Gedankensplittern aus der Kunst-, Literatur- und Theaterwissenschaft sowie der Theologie; mythische und medizinische Ästhetisierungsdiskurse finden hier ebenso ihren Platz wie musikästhetische Lesarten des Ungeheuerlichen.

Die ersten sechs Beiträge stehen unter dem Signum von Tugend und Sünde (I). Den Anfang macht Rudolf Pacik, der die Begrifflichkeit der Sünde auf ihre kategorischen Grenzen hin abtastet. Als Theologe bietet er einen konzisen Abriss möglicher Kategorisierungsvarianten von Hauptsünden oder Hauptlastern und präzisiert auf diese Weise das landläufige Verständnis der Todsünde. Pacik charakterisiert die Sünde als Figur der Grenzüberschreitung hin zum Bösen. Ausgehend von Papst Gregors Laster-Stammbaum beziehungsweise der ersten wissenschaftlich-systematischen Darstellung der Moraltheologie durch Thomas von Aquin werden diverse Laster- und Tugendkataloge entrollt und fachkundig kommentiert.

Am Beispiel von William Shakespeares „Othello“ entfaltet Sabine Coelsch-Foisner das Szenario von Männern, die „zu sehr lieben“. Gekonnt werden die kriminologischen Konsequenzen mit den gattungsästhetischen konfrontiert und der Schulddiskurs ins Spannungsfeld von antiker Gattungstradition und christlichem Deutungshorizont eingebettet. Bewusst modelliert die Autorin den umstrittenen Titelhelden als „Produkt [einer] kulturgeschichtlichen und gattungspoetischen Konstellation“. Diese Konstellationen scheiden sich an der Wiederherstellung der gestörten Weltordnung: während der christliche Held auf Gottes Gnaden vertrauend gerettet werden kann, bleibt dem tragischen Held einzig seine Befähigung zur Einsicht und seine eigene menschliche Größe. Überzeugend führt Coelsch-Foisner am Beispiel lexikalischer Mehrfachzuweisungen vor, wie unverrückbar Othello zwischen zwei Systemen, zwei Rollen und auch zwei emotionalen Welten (Liebe/Hass) eingespannt ist, was schlussendlich in die Monstrosität führt: „a monster / Begot upon itself, born in itself“.

In seinem sorgfältig gearbeiteten Aufsatz zu Dantes „Göttlicher Komödie“ führt Peter Kuon die Verbindung von Leidenschaft und Laster über das Motiv der Identifikation des unvorsichtigen Lesers mit seinem Helden ein. Er ruft damit den Roman, der von der Liebe handelt, zum Vehikel für den ehebrecherischen Fehltritt aus. Allerdings bleibt die Lektüre nicht bei diesem, aus anderen Romanzusammenhängen wohlbekannten Diktum, stehen: Tugend und Sünde sind aufs Engste miteinander verstrickt, was Kuon anhand dreier Dante’scher Liebespaare exemplifiziert, die trotz ihres Ehebruchs im Paradiso landen. Er unterscheidet dezidiert unterschiedliche Liebessemantiken (die neuzeitliche von der komödiantischen) sowie Liebeskonzepte (Liebe zwischen edlen Herzen, „folle amor“, himmlische Liebe), und exerziert diese am Beispiel der drei Liebespaare aus der „Göttlichen Komödie“ exemplarisch durch.

Auch Peter Becker widmet seinen Beitrag Dantes fulminantem Hauptwerk. Aus musikwissenschaftlicher Perspektive beleuchtet er eine epochal ebenso interessante wie interdisziplinär herausfordernde Dreierkonstellation: Er zieht eine Verbindungslinie von Dantes „Göttlicher Komödie“ zu George Orwells Roman „1984“, was ihn schließlich zu Mauricio Kagels Hörspiel „…nach einer Lektüre von Orwell“ führt. Becker dirigiert den Schwerpunkt seiner Dante-Lektüre fort vom Bereich des Sichtbaren, hin zum Hör- und Vernehmbaren und legt die Komödie als „Augen- und Ohrenreise“ an. Unheimliche Naturgeräusche und die Reduktion der menschlichen Stimme auf das Heulen, Brüllen, Seufzen und Zähneklappern im Inferno werden kontrastiert durch Naturklangbilder und aus der Ferne vernehmbare liturgische Gesänge im Purgatorio, welche bereits das himmlische Paradiso einläuten. Ähnlich zeichenhaft ist die Geräuschkulisse von „1984“: Hubschraubergedröhn, Marschtritte, Maschinengewehrsalven und tierisches Gebrüll von Mensch und Maschine bilden die akustische Hass-Szenerie von Orwells Roman. Gewandt führt Becker vor, wie Kagel diese Klangwelt aufgreift, weiter auskomponiert und sie schließlich in ein Hörspiel für drei Sprecher, Sprechchor, Instrumente, Synthesizer und Tonband übersetzt.

Mediale sowie künstlerische Metamorphosen stehen am Beginn von Julia Hinterbergers Lektüre von Ingeborg Bachmanns „Der gute Gott von Manhattan“. Ein erster am Inhalt des Hörspiels orientierter Teil analysiert die Hauptfigur des Werkes, den guten Gott selbst, und platziert diesen in einem zweiwertigen System von Tugend und Sünde, von gut und böse. Erst im zweiten Teil des Beitrags erarbeitet die Verfasserin ein Konzept, das sie „mediale Metamorphose“ nennt. Angespielt wird damit auf die vielfältige und facettenreiche Rezeptions- und Adaptionsgeschichte des Hörspiels, das sich vom autorisierten Manuskript zur Buchversion, vom Sprechtheater zum Musiktheater und schließlich in einen TV-Film (ver)wandelt. In einem dritten Abschnitt beleuchtet Hinterberger die (akkustische) Ausgestaltung der vielschichtig lesbaren Titelfigur, die in den unterschiedlichen Inszenierungen zwischen „konturlos-irr[]“, „freundlich-reflektiert“ und „großväterlich-besonnen[]“ changiert und auf diese Weise etwas forciert in das Raster von Tugend und Sünde eingetragen wird.

Der letzte Beitrag in der Rubrik Tugend und Sünde stammt von Gerlinde Haid und widmet sich der kleinen Form der (erotischen) „Gstanzln“. Charakterisiert werden diese als mündlich überlieferte, gesungene Epigramme, meist zwei oder vierzeilig und in der Regel dem süddeutsch-alpenländischen Raum zuzuordnen. In ihrem äußerst beispielreichen und dichten Aufsatz fragt Haid ausdrücklich nach dem komischen Mehrwert der Gstanzln, der neben der Möglichkeit zur sozialen Auseinandersetzung vor allem in einem sprühenden Witz zum Ausdruck kommt. Die Palette reicht von Balz-Figuren der jungen Männer bis hin zu „Trutzgsangln“ zwischen konkurrierenden Rivalen. Es gelingt der Autorin, gekonnt den Bogen zwischen den theoretischen Erläuterungen und den zum Teil sehr deftigen Beispieltexten zu schlagen. Der Beitrag schließt mit sechs Seiten Anhang und erlaubt einen tiefen Einblick in die stellenweise sehr derbe Ausdrucksweise der Welt der Gstanzl-Dichter.

Der zweite Teil des Tagungsbandes gilt der „verhängnisvollen Schönheit“ (II) und setzt ein mit Dorothea Flothows Lektüre von Samuel Richardsons „Pamela“. Textnah widmet sich die Verfasserin der Konstruktion verschiedener sozial konstruierter Moralvorstellungen, die im Zuge der Rezeption und seiner parodistischen Fortschreibung an den Roman herangetragen worden waren. Von Richardson als Wegweiser zu tugendhaftem Verhalten konzipiert, wurde der Roman vielfach gegen den Strich gelesen. Auch Flothows Ansatz bricht die Dichotomie von tugendhaftem Dienstmädchen (Pamela) und lüsternem Dienstherren (Mr. B.) auf und relativiert beide Positionen, indem sie diese im Kontext des 18. Jahrhunderts und den dazugehörenden Moralvorstellungen liest.

Geschickt eröffnet Sabine Coelsch-Foisner ihren ausführlichen Beitrag zu Geschlechterkonstruktionen im 19. Jahrhundert mit einer Überlegung zu den impliziten sprachlichen Konnotationen von beauty/beast und seiner deutschen Entsprechung Schöne/Biest. Trotz aller Zweideutigkeiten handelt es sich immer um ein gegengeschlechtliches Paar, auf das diverse Opfer- und Tätervorstellungen projiziert werden, so Coelsch-Foisner. Gleichzeit jedoch sind diese Opfer- und Täterrollen niemals festgeschrieben und changieren unaufhörlich, was an einer Reihe von englischen Texten der Spätromantik aufgezeigt wird. Indem diese die Schöne mal als Ungeheuer, mal als Kunstobjekt auftreten lassen, wird pointiert, worin die eigentliche Konstante dieses Paares besteht – in der Dialektik von Dominanz und Unterlegenheit.

Nach den zerstörerischen Tendenzen, die weiblicher Schönheit bisweilen zugeschrieben werden, fragt der Beitrag von Manfred Kern. In einem weit ausgreifenden Einleitungsteil erläutert er die Formel von Kontinuität und Diskontinuität, die er auf den Luxoria-Komplex und weibliche Allegorisierungen von Fleischeslust, Vergänglichkeit und Tod anwendet. Kern arbeitet unterschiedliche sprachliche, ikonografische und kommunikative Bedeutungen des erotisierten weiblichen Körpers heraus und beschreibt diese als „Phänomene der Schichtung, der Varianz und der Inversion“. Indem er eine Reihe von Text-Bild-Sujets im Detail interpretiert – so etwa den „Berner Totentanz“ bis hin zu Richard Avedons Fotostrecke mit Nadja Auermann als Mädchen – dokumentiert Kern verschiedenste Darstellungsstrategien, mit denen das Vergänglichkeitsmotiv abgebildet wird. Auf diese Weise gelingt es ihm, eine durchgehende Zitationstradition aufzudecken, die mit der Dämonisierung des schönen weiblichen Körpers einhergeht.

In Sergius Koderas Ausführungen zeigt sich das „schöne Biest“ in Gestalt der Vampirfrau, wie sie in der medizinischen Literatur der Renaissance gezeichnet wird. Das Vampirmotiv mündet dabei in die Vorstellung einer Metamorphose, einer Verjüngung des Leibes durch die Aufnahme von fremdem Blut in den eigenen Körper. Mittels einer „Inversion weiblicher Zeugungsfähigkeit“ wird eine Umkehrung der klassischen Mutterrolle vollzogen und die Frau schlüpft aus der Rolle der Gebenden (Milch) in die Rolle der Nehmenden (Blut). In Marsilio Ficinos „De vita libri tres“ („Drei Bücher vom Leben“) setzt sich der Autor aus medizinischer Perspektive mit dem Phänomen von Vampirfrauen auseinander und adaptiert den Vampirismus für seine klinische Praxis der Menschenverjüngung. Der Lebenssaft Blut wird dabei zu einer zwischen den Organismen übertragbaren Ware – zur Substanz, um die gekämpft werden muss. Indem das Blut mit dem Sperma verglichen wird, öffnet sich ein Verweiszusammenhang von Blut, Geld und Leben, der abermals auf die Dämonisierung des weiblichen Körpers ausgerichtet ist.

Mit ihrem Beitrag zum Sirenengesang, dem „Inbegriff sündiger weiblicher Verführung“, setzt Michaela Schwarzbauer den Schlussstrich unter den zweiten Themenblock des Bandes. Anhand der Klangszenenimprovisation von Wolfgang Roscher über die Irrfahrten des Odysseus legt sie unterschiedliche Lesarten des Gegensatzpaares zu den Musen vor und verfolgt die „Klangspur des Sirenengesangs“. Diese Spur zieht sich von Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Lektüre der Sirenen in der „Dialektik der Aufklärung“ hin zu Ingeborg Bachmanns kontemplativem Lauschen und weiter zu den Kompositionen von Elia Marios Joannou, der sich wiederum an Roscher orientiert und somit den argumentativen Kreis des knappen Beitrags schließt.

Die dritte und letzte Sektion des Bandes widmet sich dem ungleichen bis monströsen Paar der Schönen und des Ungeheuers (III). Gerhard Petersmann eröffnet die Diskussion mit einer Perspektivisierung der antiken Literatur und kommentiert die Werke in der gleichnamigen Ausstellung in der Residenzgalerie Salzburg. Die meisten der vorgeführten Gemälde schöpfen ihre Sujets aus den Quellen der abendländischen Mythologie, vor allem aus den „Metamorphosen“-Büchern des Ovid (Publius Ovidius Naso), wo das Spiel der Kontraste mit ungleichen Paaren über seine Grenzen hinaus ausgereizt wird. Petersmann zählt die zentralen Verwandlungserzählungen auf, die auf dem Gegensatz von schön und ungeheuer aufbauen, ohne sie allerdings ausführlicher zu kommentieren. Er nennt Boreas und Pan, Minotaurus und Polyphem, aber auch namenlose Mischwesen wir etwa die Kentauren und schließt mit einer Überlegung zum Wandel des Entwicklungsgedankens von der Antike bis in die Moderne.

Auch in Ute Jung-Kaisers Beitrag begegnen sich Schöne und Monster, hier nun in Maurice Ravels Komposition für Klavier „Ma Mère l’Oye: Cinq pièces enfantines“ („Meine Mutter die Gans: Fünf Kinderstücke“). In einem ersten stark biografisch konzipierten Abschnitt ordnet die Verfasserin die Komposition in Ravels biografischen und sozialen Kontext ein, bevor sie sich näher mit dem eigentlichen Werk auseinandersetzt. Auf die Betrachtung der Fassung für Marionettentheater des Reinhild von Capitaine folgt eine inhaltliche Beschreibung der einzelnen Stücke in Stichworten. Nach einem kurzen Seitenblick auf anderen Bearbeitungen des Madame Leprince’schen Feenmärchen, das auch Ravels Komposition zu Grunde liegt, konzentriert sich Jung-Kaiser auf den Dialog zwischen dem Mädchen und dem Tier und analysiert die musikalische Realisierung von „Entretiens de la belle et de la bête“. Der Text schließt mit einer Reihe von Zitaten aus der Rezeptionsgeschichte der Ravel’schen Klavierkomposition.

Facettenreich und umfassend angelegt widmet sich auch Thomas Hochradner dem Märchen von „La belle et la bête“ in der Fassung von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont. Der Schwerpunkt liegt auf der Verfilmung durch Jean Cocteau und über die relevanten biografischen und historischen Hintergründen hinausgehend, überzeugt vor allem die Analyse der „orphischen“ Ästhetik des Films und ihre Einordnung in das Werk des französischen Regisseurs. Auch der Bedeutung der Filmmusik von Georges Auric wird in dem dicht argumentierten Beitrag sinnreich Rechnung getragen.

Eine stark handlungsfokussierte Analyse liefert Michaela Schwarzbauer in ihrer Untersuchung von Alexander Zemlinskys Oper „Der Zwerg“. In kleinerem Rahmen konzentriert sich Schwarzbauer vorwiegend auf die psychologischen Facetten im Widerspiel von Schönem und Hässlichem. Trotz der Einführung des Metamorphosen-Begriffs bleibt der Beitrag über große Strecken an biografischen Details haften.

Der Tagungsband schließt mit einem Beitrag von Helga Buchschartner, die sich unter dem Blickwinkel der Metamorphose aktueller Gegenwartskunst zu nähern sucht. Ausgehend von der Überlegung, dass gegensätzliche Empfindungen entweder wechselweise oder auch gleichzeitig an ein und demselben Objekt erfahrbar sein können, analysiert sie eine Reihe von Kunstwerken aus den beiden Ausstellungen der Salzburger Residenzgalerie, aus denen vorliegender Band hervorgegangen ist. Künstlerinnen und Künstler wie Jan Fabre, Ana Rito oder René Lalique werden vorgestellt und – ein letztes Mal das Thema der Tagung aufnehmend – schließt der Beitrag mit einer Analyse von Bernardi Roigs Bild „La belle et la bête“.

Titelbild

Sabine Coelsch-Foisner / Michaela Schwarzbauer (Hg.): Leidenschaft und Laster. Akten der Tagungen des IRCM an der Universität Salzburg 'Die Schöne und das Ungeheuer aus dem Blickwinkel der Metamorphose' (2006) und 'Die Kunst zwischen Tugend und Sünde' (2007) in Kooperation mit der Universität Mozarteum und der Residenzgalerie.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2010.
223 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783825357412

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