Von Eisenbahnen und Schachautomaten

Walter Benjamins umkämpfte Thesen zum Begriff der Geschichte erfahren in der Werkausgabe ihre anschauliche Präsentation

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie sind in den Smalltalk der weltweiten akademischen und publizistischen Szene auf Kongressen und Empfängen eingegangen, in studentische Seminararbeiten, in den Feuilletonjargon, ja sie finden sich sogar in den diffusen Weltanschauungen terroristischer Gruppen nach 1968. Walter Benjamins brillante Sprachschöpfungen und labyrinthische Denkmuster im Zeichen einer melancholischen Kritik des Fortschrittsdenkens gewannen postum eine exemplarische, globale Verbreitung: Der Sturm, der vom Paradiese weht, der Engel der Geschichte, das Schießen auf die Uhren während der Revolution, der Automat im Schachspiel, der für die Theologie steht, „Es besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesnen Geschlechtern und unserem. Wir sind auf der Erde erwartet worden.“

Sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt, der Ausnahmestand, der die Regel unseres Lebens ist, messianische Stillstellung des Geschehens, kein Gegenstand der Kultur ohne einer der Barbarei zu sein, die Revolution als Notbremse in der auf den Abgrund zurasenden Lokomotive der Weltgeschichte – dies sind nur einige der Formulierungen und Gedanken aus den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ oder, wie sie auch genannt werden, den „Geschichtsphilosophischen Thesen“, die zum Vorstellungsfundus ganzer Generationen von Lesenden wurden. Kein schlagenderer Beweis ihrer Klassizität als diese Überführung in eine in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen sich entwickelnde Redeweise und in den letzten Jahrzehnten symptomatisch gewordene Rezeption Benjamins. Kaum ein ,Text‘ des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache hat das Denken der Generationen nach 1968 so eindringlich geprägt wie dieser – der aber bezeichnenderweise keinen autorisierten Abschluss durch den Autor je erfahren hat.

Die oft ins Poetische reichenden Formulierungen entstammen einem von Benjamin nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Konvolut von Thesen, an denen er auf der Flucht in Südfrankreich nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs arbeitete und die 1942 in einer spezifischen Version in einem Heft des „Instituts für Sozialforschung“ in Chicago erstmals gedruckt wurden. Die mit Benjamin befreundete Philosophin Hannah Arendt hatte sie Theodor W. Adorno zur Verfügung gestellt. „Das Unfertige, Entwurfhafte des Ganzen liegt auf der Hand. Eine gewisse Naivetät in den Partien, in denen von Marxismus und Politik die Rede ist, läßt sich auch diesmal nicht verkennen.“ Dies schrieb Adorno, als er Max Horkheimer den Text 1941 zukommen ließ, um doch auch Argumente für die Publikation zu finden: „Es handelt sich um Benjamins letzte Konzeption. Sein Tod macht die Bedenken wegen der Vorläufigkeit hinfällig. An dem großen Zug des Ganzen kann kein Zweifel sein. Dazu kommt: daß keine von Benjamins Arbeiten ihn näher bei unseren eigenen Intentionen zeigt.“ Die eigentliche Erstveröffentlichung fand sich dann in einem Heft der Zeitschrift „Die Neue Rundschau“ von 1950.

Jahre später konnte sich Adorno auf Nachfrage Arendts nicht mehr erinnern, welches die Druckvorlage dieser Veröffentlichungen war, weitere Varianten und Bruchstücke tauchten auf, darunter das noch in Frankreich getippte „Handexemplar“ und eine handschriftliche französische Fassung durch Benjamin. Dass diese unabgeschlossene Arbeit Benjamins den Herausgeber Gérard Raulet bei der Neuedition im Rahmen der Ausgabe „Walter Benjamin: Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe“ vor besondere Probleme stellen würde, ergibt sich aus der Überlieferung unterschiedlicher Stufen der Textarbeit Benjamins. Raulet amalgamiert nicht die verschiedenen Stufen zu „dem“ endgültigen Text der „Thesen“, sondern stellt die sieben verschiedenen Textstufen und einige dazugehörige Konvolute vor. Diese Konvolute stammen zum Teil aus der Beschäftigung Benjamins mit dem Projekt der „Passagen“ und dem dazugehörigen geplanten Baudelaire-Buch. In diesem Arbeitsumfeld entstanden auch die „Thesen“, wobei Raulet ihre Entstehungsgeschichte als Überlegungen zur Idee des Fortschritts und der Geschichtsschreibung bis vor das Exil zurückverlegt. Als Niederschrift einzelner Gedankensplitter beginnen sie seit 1937 Gestalt anzunehmen und verdichten sich 1939 mit dem drohenden Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und dem Abschluss des fatalen Hitler-Stalin-Pakts. Den Titel der Neuausgabe, „Über den Begriff der Geschichte“, entnimmt Raulet dem Typoskript T3, das als einziges „einen auf Benjamin zurückgehenden Titel trägt“: „es wurde wahrscheinlich von Dora Benjamin abgeschrieben und ist wohl die späteste Abschrift zu Benjamins Lebzeiten“. Auch Benjamins französische Niederschrift trägt diesen Titel.

Angesichts dieser Komplexität ist es nicht verwunderlich, dass bei Gelegenheit dieser Ausgabe der „Thesen“ Faksimilies ihren Einzug halten: Das Hannah-Arendt-Manuskript und die Niederschrift der Französischen Fassung werden in 90% der Originalgröße wiedergegeben. Während letztere auf extra dafür reserviertem Papier einseitig von Benjamin geschrieben worden war, besteht das Arendt-Manuskript aus von ihm zurechtgeschnittenen Papierstreifen, in denen er die „Schweizer Zeitung am Sonntag“ und die „Cahiers du Sud“ geliefert bekam. Zahlreiche der zu dem Bereich der „Thesen“ gehörigen Gedanken wurden hingegen auf der Rückseite zerschnittener Briefe (!) niedergeschrieben.

In der übersichtlichen Anordnung der Materialien aus den Konvoluten entfällt die Einteilung nach Paralipomena, Vorstufen, et cetera und deren Verbannung ins Kleingedruckte der früheren Ausgabe der „Gesammelten Schriften“, vielmehr kann nun in einer mit aktueller Digitaltechnik leicht realisierbaren Darstellung der Streichungen und Überschreibungen die Vorläufigkeit der Formulierungen und Änderungen lesbar gemacht werden. Die Faksimiles, Textstufen und Materialien konservieren bereits in der optischen Darstellung diesen Eindruck des Vorläufigen, manchmal auch Widersprüchlichen, der die Gedanken- und Spracharbeit Benjamins offenlegt.

Darüber hinaus werden auch Eingriffe (auto)zensierender Art thematisiert, wie etwa die Auslassung eines Nebensatzes im „Rundschau“-Druck, aber auch eine Version Benjamins, die wegen der Postzensur im besetzten Frankreich auf bestimmte Formulierungen, die in der spezifischen politischen Situation zu Sanktionen hätten führen können, verzichtete.

Nach knappen Sacherläuterungen geben diverse Briefe Einblick in die Auseinandersetzungen um die Publikation, die insbesondere Hannah Arendt zu drastischen Formulierungen gegenüber Adorno und Horkheimer veranlasste, da sie befürchtete, die beiden würden entgegen allen Versprechungen, sich nicht für eine Edition der Schriften Benjamins engagieren und ihr eigener Plan einer Ausgabe im Verlag Schocken, wo sie als Lektorin arbeitete, scheiterte. Im Nachhinein überrascht die eher laxe Haltung Adornos gegenüber dem Verbleib der Konvolute und ihrer Umsetzung in Gedrucktes: Eine der Varianten, die als Vorlage für den ersten Abdruck gedient haben könnte, ist heute nicht mehr aufzufinden.

Titelbild

Walter Benjamin: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Band 19: Über den Begriff der Geschichte.
Herausgegeben von Gérard Raulet.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
380 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783518585498

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