Eine Ordnung des Denkens für die Klassische Moderne

Mauro Ponzis Sammelband zeigt neue Forschungswege für ein Phänomen der Literatur und Kunst auf

Von Gabriele GuerraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Guerra

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was haben Robert Musil und Hugo Ball, Franz Kafka und Alfred Döblin, die Futuristen und die Zwölftonkünstler, Hermann Bahr und Theodor Däubler gemeinsam? Die Etikette der „Klassischen Moderne“, ursprünglich für die Kunst- und die Stilgeschichte erdacht, dient hier dazu, gemeinsame Züge innerhalb dieser verschiedenen Richtungen von Literatur und Kultur heraus zu finden. Das Hauptziel dieses Forschungsbereichs besteht darin, eine epochengeschichtliche Stimmung – etwa zwischen Zweitem Kaiserreich und nationalsozialistischer „Machtergreifung“ – in ihren begrifflichen und kategorialen Implikationen zu rekonstruieren, auch jenseits der selbstverständlichen Ausdifferenzierungen. Krisenwahrnehmung und Appell zur Einheit der Kulturformen, neue Bestimmung des avantgardistischen Diskurses und kulturkonservativer rappel à l’ordre kommen zusammen und provozieren Diskussionen.

Nun hat der literaturgeschichtliche Terminus der Klassischen Moderne, im deutschsprachigen Bereich längst etabliert, auch in Italien Interesse gefunden, das sich in Mauro Ponzis Sammelband „Klassische Moderne“ manifestiert. Er umfasst die Beiträge des gleichnamigen internationalen Kolloquiums, das 2007 in Rom stattfand. Nach den ersten Akten in italienischer Sprache ist er nun auch in deutscher Übersetzung erschienen und wurde vom spiritus rector der Tagung, Mauro Ponzi, Professor für Germanistik an der Universität Rom „La Sapienza“, herausgegeben und eingeleitet. Die Tagung zielte auf eine begriffliche und literaturgeschichtliche Erweiterung der Klassischen Moderne, die in ihrem Schwellencharakter untersucht wird, als Phase „der interkulturellen Kommunikation und der interdisziplinären Kunstproduktion“, wie Mauro Ponzi es einführend beschreibt. Damit liest sich der Tagungsband nicht nur als ein Raum für eine literaturgeschichtliche Erörterung des klassisch-modernen Schrifttums, sondern auch wie ein kulturwissenschaftlicher Versuch, eine neue „Ordnung des Denkens“ im Sinne Michel Foucaults zu bestimmen, nämlich eine Ordnung innerhalb eines als Heterotopie konzipierten Literaturbegriffs. Das Neue macht sich dabei an den vielen Kunstbewegungen und -avantgarden dieser Zeit fest, so auch der Aufbau der Beiträge: Zunächst wird mit drei theoretischen Aufsätzen der Rahmen gesetzt: Aldo Venturelli („Robert Musil und die Idee einer ‚klassischen Moderne‘“) und Fabrizio Cambi („Der Briefwechsel Robert Musils als Werkkommentar und Kritik der Moderne“) erinnern auf verschiedenen Weise daran, dass die Bezeichnung der Klassischen Moderne eine präzise Anwendung in der Musil-Forschung ursprünglich gefunden hat. Und Helmut Kiesel („Klassische Moderne? Überlegungen zur Problematik einer Epochenbezeichnung“) rekonstruiert die Debatte um die Etikettierung, indem er die zwei Pole der Moderne – den so genannten reflektierten und den synthetischen – als zwei Momente einer Klassischen Moderne betrachtet.

Darauf folgt eine Sektion, die sich unter dem Titel „Die Revolution der Formen“ der Aufgabe widmet, den Terminus für die Künste nutzbar zu machen: Mauro Ponzi („Die ‚marginale‘ Avantgarde. Die dispositio der Revolution der Formen“) konzentriert sich auf die deutsche Rezeption des italienischen Futurismus und somit auf seinen transnationalen, programmatischen Charakter. Silvio Vietta („Moderne Erzähltheorie: Narratologie der Romanliteratur der klassischen Moderne“) spürt der Klassischen Moderne in gegenwärtigen Erzähltheorien nach. Hans Dieter Zimmermann („Von Dada zu Dionysios Areopagita: Hugo Balls Gegenstudien“) und Elio Matassi („Ernst Kurth als moderner Klassiker: die Philosophie des Zuhörens“) stellen zwei Fallstudien vor, in denen die klassisch-moderne Situation des Künstlers und Kulturagitators Hugo Ball einerseits und das Zusammenspiel von Philosophie und Musiktheorie bei Ernst Kurth andererseits untersucht wird. Sabine Meine schließt diese Sektion mit einem Beitrag ab („Die Puppe. Ein Körperbild der musikalischen Moderne“), der sich der kulturwissenschaftlichen und körpertheoretischen Rekonstruktion der Puppe in der Musikgeschichte des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts widmet.

Die dritte Sektion („Die Werkstatt der Moderne“) eröffnet ein facettenreiches Panorama auf einzelne Aspekte und Figuren der Klassischen Moderne: von Hermann Bahr (Giovanni Tateo, „In der Werkstatt der Wiener Moderne. Der Beitrag Hermann Bahrs“) zu Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal (Sabine Schneider, „Klaffende Augen, starre Blicke: Krisen und Epiphanien des Sehens als Medium der Sprachreflexion bei Hofmannsthal und Rilke“), von Arthur Schnitzler (Gabriella Rovagnati, „‚Ich habe gesehen, wie Männer zittern, spielen, höhnen und töten’: Militärs im Theater von Arthur Schnitzler“) zu Frank Wedekind (Alessandro Fambrini, „‚Der Kamtschadale, der Ehe und die Familie in den Schmutz zieht’. Ibsen, Wedekind und das Epische Theater“) und zu Harry Graf Kessler (Luca Renzi, „Harry Graf Kessler als Beobachter der Moderne“).

Hier werden die vielfältigen Forschungsperspektiven zur Klassischen Moderne deutlich, mit Ansätzen zur Selbstwahrnehmung des Intellektuellen und zur Darstellung des Körperlichen im Literarischen. Alain Montandon („Lichter und Schatten der Gasbeleuchtung“, ebenso in dieser Sektion, obwohl er offensichtlich zur zweiten Sektion gehören sollte) versteht die Moderne als technische Modernisierung und konsequenterweise als romantisierte Produktion eines Denkbilds und zeigt dies am Beispiel der Stadt Paris. Rosmarie Zeller schließlich („Journalismus, Zeitungen und die Poetik des Romans der Moderne“) beleuchtet die kulturellen Aspekte der Moderne am Beispiel des damaligen Zeitungswesens.

Der Tagungsband dokumentiert damit neue und viel versprechende Perspektiven für die Erforschung der Klassischen Moderne, vor allem hinsichtlich der Verflechtungen von literarischen und künstlerischen Avantgarden.

Titelbild

Mauro Ponzi (Hg.): Klassische Moderne. Ein Paradigma des 20. Jahrhunderts.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010.
241 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826042331

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