Die Vermessung der menschlichen Abgründe

Der im Nachlass entdeckte „Lumpenroman“ von Roberto Bolaño vermisst die Ausläufer der Hölle

Von Thomas HummitzschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hummitzsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Durch das Werk des 2003 verstorbenen chilenischen Autors Roberto Bolaño zieht sich ein narratives Muster wie ein roter Faden. Auch der soeben erschienene „Lumpenroman“ – eher eine Novelle – reiht sich problemlos in Bolaños Werk ein, auch wenn der Autor in diesem Text den Boden seines Heimatkontinents erstmals komplett meidet. Er verstärkt den Eindruck, dass der 2003 verstorbene Chilene scheinbar zu keinem Zeitpunkt an einem Roman, sondern immer nur an einem Werk geschrieben hat.

Der rote Faden seines Schreibens besteht in der Vermessung des Bösen, in der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wo dieses Böse anfängt und wo es seine Grenzen findet. Diese Frage ist es, der Roberto Bolaño in all seinen Romanen auf den Grund zu gehen versucht. In seinen beiden umfangreichsten Romanen, dem Jahrhundertepos „2666“ und der preisgekrönten, gewaltigen und gewaltvollen weltumspannenden Odyssee „Die wilden Detektive“, hat er dies exzessiv und mit nicht zu ignorierender Brutalität demonstriert.

In dem nun veröffentlichten „Lumpenroman“ beweist Bolaño, dass er nicht die spektakulären Morde benötigt, um die Grenzen der Hölle auszumessen. Der Chilene erzählt darin von Bianca und ihrem Bruder, die ihre Eltern bei einem Autounfall verloren haben und sich nun als Waisen durchschlagen. Bianca versucht es zunächst mit allerlei zwielichtigen Jobs und bricht die Schule ab. „Ich ahnte damals, dass ich mich unaufhaltsam der kriminelle Sphäre näherte“, gesteht sie sich ein. Ihr Bruder träumt davon, eines Tages als Mister Universum zu reüssieren und beginnt seinerseits, in einem Fitness-Studio zu jobben. So richten sie sich ein in einem Leben der Banalität und Tristesse, in dem das gemeinsame Konsumieren billiger Pornofilme die Höhepunkte darstellen.

Eines Tages bringt der Bruder zwei namenlose Bekannte mit in die elterliche Wohnung, die dort das bislang unveränderte Elternschlafzimmer ziehen. Gleichmütig leben die vier Personen ohne Erwartungen mit- und nebeneinander. Man lässt sich gemeinsam medial berieseln und bleibt sich egal. Es ist nur konsequent, dass die beiden zwielichtigen Gäste anonym blieben und im Roman nur als „der Libyer“ und „der Bologneser“ bezeichnet werden. Nachts wird Bianca abwechselnd von beiden beschlafen, ohne dass sie dabei Nähe zulässt. Bereits bei der nüchternen Beschreibung dieses Daseins eröffnet sich der Abgrund der kalten Moderne. Ist dieses Leben, welches sich für Bianca und ihren Bruder nach dem Tod der Eltern eröffnet hat, nicht ein Höllenleben, welches die verwaisten Kinder – insbesondere Bianca – ein zweites Mal unter sein Joch zwingt?

Doch das Böse ist längst noch nicht vermessen, zu einfach wäre es, wenn bei Bolaño ein Opfer auch einfach nur ein Opfer und ein Täter schlichtweg nur ein Täter wäre. Schon in seinem Roman „Chilenisches Nachtstück“, dem gequälten Vermächtnis des während der Pinochet-Diktatur schuldig gewordenen Literaturkritikers und Priesters Sebástian Urrutia Lacroix, der den chilenischen Diktator und dessen Entourage mit dem theoretischen Handwerkszeug ihrer Gewaltherrschaft ausgestattet hat, spielt Bolaño mit den Themen Gut und Böse, Schuld und Unschuld. Wie viel Schuld hat er, dem keine andere Wahl blieb, um am Leben zu bleiben, sich aufgeladen? Diese Frage zieht sich durch die gesamte Rückschau des Priesters an seinem Lebensende. „Weiß der Mensch immer und zu jeder Zeit, was gut und was böse ist?“ lässt Bolaño seinen Protagonisten darin stellvertretend fragen und formuliert damit unmissverständlich die Grundfrage seines narrativen Gesamtwerkes.

Wie sich die Suche nach einer Antwort durch die Romane des Chilenen zieht und wie er sie immer wieder auch mit der eigenen Biografie verwickelt, wird in der Lektüre der überaus empfehlenswerten Essaysammlung „Exil im Niemandsland. Fragmente einer Biografie“ deutlich, herausgegeben von Bolaños deutschem Entdecker Heinrich von Berenberg. 1995 Jahre hielt Übersetzer und Verleger von Berenberg erstmals einen Roman von Bolaño in der Hand, wenig begeistert lehnte er die Übersetzung ab. Anders ein Jahr später. Kaum hatte er „Die Naziliteratur in Amerika“ gelesen, rief er Antje Kunstmann (die Erstverlegerin von Bolaños Romanen) mit der Bitte an, „alles von diesem Autor zu kaufen, was es gab“. (Heinrich von Berenberg im Börsenblatt zur Frankfurter Buchmesse 2010).

Von Berenberg entdeckte Bolaño nicht nur für Deutschland, sondern wirkte auch als sein erster deutscher Übersetzer (jetzt abgelöst von dem grandiosen Christian Hansen). Inzwischen hat er als Herausgeber für „Exil im Niemandsland“ Artikel und Essays gesammelt, die nach Bolaños Tod in Zeitungen und Zeitschriften aufgetaucht sind. Darin schreibt der chilenische Autor unter anderem über seine Identität hinter den Protagonisten seiner Erzählungen und spricht über die persönlichen Erlebnisse, die er in seinen Romanen verarbeitet hat. Er gibt in kurzen, aber prägnanten Porträts ebenso Auskunft über seine literarischen Vorbilder wie über die seiner Meinung nach zu hoch gehandelten Autoren Lateinamerikas. Und auch das legendäre Playboy-Interview, drei Tage vor seinem Tod in der mexikanischen Ausgabe des Magazins erschienen, ist in die Sammlung mit aufgenommen.

Die in dem schmalen Band versammelten 25 Texte ergeben in ihrer Gesamtheit ein formvollendetes Porträt des Schreibers Roberto Bolaños. Wer „Exil im Niemandsland“ liest, weiß um Bolaños Motive des Schreibens und seine manische Suche nach einer Erklärung, wie der gesamte lateinamerikanische Kontinent in den Abgrund der Militärdiktaturen stürzen konnte: „Alles, was ich geschrieben habe, ist ein Liebes-, ja ein Abschiedsbrief an meine Generation, an alle in den 50er Jahren Geborenen, die wir in einem bestimmten Moment den Ruf zum Soldaten erhörten, zum Kämpfen besser gesagt, und die wir das bisschen, das viele, das wir unser eigenen nennen konnten, unsere Jugend nämlich, für eine Sache gaben, die wir für das großartigste der Welt hielten, was sie auch in gewisser Weise war. Ich konnte noch sagen, dass wir Mann gegen Mann kämpften, aber unter korrupten, feigen Anführern und getrieben von Parteien, die uns, wenn wir gesiegt hätten, auf der Stelle ins Arbeitslager geschickt hätten.“

Die Folgen dieses gesellschaftlichen Absturzes verarbeitete er auch in seinem Roman „Stern in der Ferne“. Er ist das Produkt eines literarischen Experiments, der Intensivierung einer Szenerie, die Bolaño im letzten Kapitel von „Die Naziliteratur in Amerika“ angerissen hatte. „Das letzte Kapitel ist – damit kein Zweifel aufkommt – ein antiklimatisches Kapitel, um klar zu machen: hier spreche ich vom wirklichen Horror, der keinen Scherz mehr zulässt, vom absolut Bösen. Als ich Die Naziliteratur beendet hatte, stellte ich fest, dass dieses Kapitel einer weiteren Ausarbeitung bedurfte. Ich wollte also einerseits die ganze Geschichte erzählen und andererseits – als eine Art meta-literarisches Spiel – feststellen, wie man ein Stück von 15 Seiten zu einem Roman erweitern konnte.“

Dieser Roman erzählt die Geschichte von Carlos Wieder, einem Flugkünstler und perversen Gewalttäter. Am Tag macht sich Wieder einen Namen, indem er mit seinem Flugzeug seltsame Verse an den Himmel schreibt. Nachts aber verdingt er sich in den dunklen Verließen der faschistoiden chilenischen Diktatur als Folterer und Mörder. Wieder aber wird angehimmelt ob seiner intellektuellen Flugkünste, sein zweites Gesicht will niemand sehen. Erst als er seinen Freundeskreis zu einer abartigen Vernissage einlädt, bei der immer nur eine Person den abgeschlossenen Ausstellungsraum betreten darf, lässt er selbst den Vorhang fallen. Zu sehen sind die von ihm gemachten Fotografien getöteter Frauen, angeordnet wie „Schaufensterpuppen“ mit abgetrennten Gliedmaßen. Wieders „Epiphanie des Grauens“ ist eine Allegorie auf den Zustand des Landes, den seine Gäste entweder unterstützten oder nicht wahrhaben wollten. Von den Gräuelbildern schaut sie nun ihr persönlicher Anteil an dieser suizidären Gesellschaft an. Der Täter wird zum Aufklärer, so dass auch hier Gut und Böse in einen schier unauflösbaren Konflikt geraten.

In Caracas sagte Bolaño 1999 anlässlich der Auszeichnung mit dem wichtigsten Literaturpreis Lateinamerikas, dem Premio Romulo Gallegos, dass diese Geschichte „in gewisser Weise das Schicksal unseres Kontinents“ verkörpere: „Die nicht in Bolivien starben, starben in Argentinien oder Peru, und die überlebten, gingen nach Chile oder Mexiko, um zu sterben, und die man dort nicht umbrachte, die wurden später in Nicaragua, Kolumbien und El Salvador erschlagen. Ganz Lateinamerika ist übersät mit den Knochen jener vergessenen Jugend.“

In diesen Zeilen schwingt die desillusionierte Haltung des Chilenen gegenüber dem Menschen angesichts der Geschichte seines Kontinents mit, die über all seinen Romanen schwebt. Insofern ist „Stern in der Ferne“ nicht nur eine Allegorie auf Lateinamerikas Historie, sondern eben auch eine typische Bolaño-Erzählung, in der die Frage nach Gut und Böse eindrucksvoll, wenn auch in einem düsteren Szenario behandelt wird.

Mit der Erforschung dieses, seines ureigenen Themas konfrontiert Bolaño den Leser im zweiten Teil seines „Lumpenromans“. Bianca soll sich dem vereinsamten Lokalhelden Maciste, einem erblindeten Mister Universum, als Liebesdienerin anbieten, um so an sein bescheidenes Vermögen zu kommen. Sie soll das Versteck seines Tresors ausmachen, um einen Raubzug der skurrilen Wohngemeinschaft vorzubereiten. Bianca, bisher als Opfer gelesen, verliert nun, wie Bolaños Kirchendiener Lacroix in „Chilenisches Nachtstück“, ihren Nimbus der Unschuld – ohne dass sie zu einer wirklichen Täterin wird. Sie trägt Verantwortung, wie auch Lacroix, und damit ihren Teil zur Dunkelheit des Abgrunds bei.

Letztendlich erliegt sie den starken, Wärme gebenden Armen des verbrauchten Bodybuilders, der einfühlsam, aber bestimmt den Körper der jungen Bianca erobert. „Und wenn ich dann in seinen Armen lag und er mich wie im Flug durch die Dunkelheit trug […], dankte ich im Stillen dafür, dass ich den Tresor nicht gefunden hatte, noch nicht.“ Der Tresor bleibt Hirngespinst, ebenso wie die empfundene Nähe zwischen dem Mister Universum und Bianca. Alles was bleibt, ist ein Kind, wie wir zu Anfang des Romans erfahren. Wer der Vater ist, bleibt im Dunkeln.

Im Dunkeln, wie so vieles in dem Roman, dessen Erzählung einem Spaziergang auf der Rasierklinge gleicht, ohne Antworten auf die Frage nach den Grenzen von Gut und Böse zu geben. Vergleicht man den Abgrund, den Bolaño in seinem Werk erkundet hat, mit einem Vulkan, dann steigt er mit diesem Roman zwar nicht tief hinab, aber er erkundet neugierig die obere Zone eines unter Hochdruck stehenden Kessels. Anspruchsvolle Literatur, erklärte Bolaño 1999 in Caracas, ist „den Kopf ins Finstere stecken können, ins Leere springen können, das Wissen darum, dass es sich bei der Literatur um etwas Gefährliches handelt.“ Der „Lumpenroman“ entspricht dieser Definition, denn er lässt den Leser in einen Abgrund schauen, ohne ihn von der Leere, die sich ihm auftut, zu erlösen. Sicher, dabei wirkt der Roman zuweilen wie ein Fragment, unvollständig, unaufgelöst, rätselhaft verkürzt – aber als solcher ist er eben ein Sprung ins ungewisse Dunkel.

In seinem soeben bei Anagrama (Spanien) erschienenen Frühwerk „El Tercer Reich“ („Das Dritte Reich“ erscheint 2011) steht ein gleichnamiges Kriegsspiel im Mittelpunkt, in welchem Verlauf und Kriegsschauplätze des Zweiten Weltkriegs nachgestellt werden sollen. Die Spieler müssen im Laufe des Spiels die Wurzel des gesellschaftlichen Übels des Nationalsozialismus erkunden. „Das Dritte Reich“ als Metapher des verdrängten Bösen im Menschen nimmt hier seinen Anfang im narrativen Muster des Autors.

„Ich behaupte, dass wir es hier mit der ersten wirklich grauenhaften Hölle der Literatur zu tun haben“, wird der große argentinische Autor Jorge Luis Borges – auf den Bolaño neben Adolfo Bioy Casares in seinen Romanen immer wieder verweist – in „Chilenisches Nachtstück“ zitiert. Bolaños „Lumpenroman“ erzählt von den rätselhaften Rändern und Ausläufern dieser Hölle, durch deren apokalyptisches Zentrum uns die übrigen Romane des Chilenen geführt haben.

Titelbild

Roberto Bolaño: Exil im Niemandsland. Fragmente einer Autobiographie.
Übersetzt aus dem Spanischen von Kirsten Brandt und Heinrich v. Berenberg.
Berenberg Verlag, Berlin 2008.
153 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783937834269

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Titelbild

Roberto Bolaño: Lumpenroman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Christian Hansen.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
110 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235465

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