Der Blick aus dem Text

Friedmar Apels Schrift „Das Auge liest mit. Zur Visualität der Literatur“ als Plädoyer für eine Poetik der Sichtbarkeit

Von Christoph KleinschmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Kleinschmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Friedmar Apels grandiosem Erstlingsroman „Das Buch Fritze“ aus dem Jahr 2003 spielt sich eine visuelle Konfliktlage ab, bei der eine Freundin des notorisch bekifften Protagonisten die Einladung zu Rausch und Vision mit der folgenden Erkenntnis aus einer Kantlektüre ablehnt: „es hat keinen Zweck etwas sehen zu wollen, was man nicht sehen kann“. Diese Replik könnte auch als Motto für Apels jüngst erschienenes wissenschaftliches Buch „Das Auge liest mit. Zur Visualität der Literatur“ (2010) stehen, das sich als gelungene Mischung aus theoretischem Konzept, literaturgeschichtlicher Rekonstruktion und kognitionswissenschaftlicher Forschung präsentiert.

In einem historischen Längsschnitt erörtert der an der Universität Bielefeld lehrende Literaturwissenschaftler die seit der Romantik und Goethezeit virulenten Pole literarisch verhandelter Visualität: die aufs Innere zielende Imagination und der ordnende Blick auf die Erscheinungswelt. Apels eigene Position ist dabei eindeutig. Sein Plädoyer für eine Poetik der Sichtbarkeit orientiert sich an Goethes Erfahrungsbegriff und tritt für eine Aufwertung der Referenzfunktion literarischer Texte ein. Diese These ist ebenso kühn wie die Kombination der Bezugstexte brillant, und es scheint Teil des Kalküls wissenschaftlicher Aufmerksamkeit zu sein, dass sich Apels Ansatz gegen eines der zentralen Paradigmen der Literaturwissenschaft wendet: die Auffassung von der Äußerlichkeit des literarischen Textes.

Insgesamt gliedert sich das angenehm überschaubare Buch in drei Bereiche: eine Theorie der Sichtbarkeit, eine Rekonstruktion literarischer und philosophischer Sehkonzepte seit dem 18. Jahrhundert und eine Auseinandersetzung mit dem Wirklichkeitsbezug zeitgenössischer Literatur.

Zentraler Ausgangs- und Angriffspunkt ist die Beobachtung, die Literaturwissenschaft habe sich „immer wieder auf ein autonomieästhetisches Paradigma berufen, das die Beziehung auf die Gegenständlichkeit der umgebenden Welt als Sündenfall erscheinen ließ.“ Demgegenüber entwickelt Apel im ersten Kapitel eine „ästhetische Theorie der Sichtbarkeit“, die sich auf neue Ergebnisse der Sehforschung und den topographical turn beruft und damit das Verhältnis von visueller Wahrnehmung, Kunst und Raum als ein interdependentes versteht.

In Rückgriff auf Überlegungen Hans Blumenbergs, Karl Heinz Bohrers und Willard Quines zur Referentialität von Kunst, das Konzept des Seherlebnisses bei John Searle, den Erlebnisbegriff Wilhelm Diltheys und die Studien zur Aufmerksamkeit Jonathan Crarys bestimmt Apel das Sehen als einen komplexen prozessualen Vorgang, der nach einem ähnlichen Muster funktioniert wie die Produktion literarischer Texte: „Die konkrete Konstitution der Sichtbarkeit der Welt ist folglich grundsätzlich ein sprachlich-ästhetischer Prozeß, der selbst nur mit ästhetischen Mitteln verstanden werden kann. Sehen als Kulturtechnik ist sprachlich bedingt und als ein Übertragungsprozeß und Verweisungszusammenhang in der Zeit metaphorisch“.

Mit dieser Engführung gelingen Apel drei unterschiedlich zu bewertende, mehr oder weniger innovative Ansätze: 1. die überzeugende Aufwertung der visuellen Wahrnehmung zum wesentlichen Kennzeichen menschlichen Erlebens der Wirklichkeit. 2. eine produktive Ausdehnung literaturwissenschaftlicher Fragestellungen auf visuelle Phänomene im Allgemeinen, und 3. eine nicht unproblematische Öffnung der sprachlich verfassten Literatur für die Erscheinungswelt.

Während der erste Grundgedanke dem seit der Aufklärung wirksamen und durch jüngste Entwicklungen in den Naturwissenschaften bekräftigten Primat des Auges folgt, sich also in eine gängige kulturgeschichtliche Hierarchie der Sinnesorgane einfügt, kann der zweite in seiner Innovationskraft nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die von William Mitchell Anfang der 1990er-Jahre angestoßene Visualitätsforschung ist mittlerweile bereitwillig von der Literaturwissenschaft aufgenommen worden – auch Apels Buch ist ein Beleg hierfür. Insofern das Sehen dort als ein sprachlich-metaphorischer Vorgang begriffen wird, geht es jedoch weit über gängige Adaptionen hinaus. Dank Apels Studie kann die Literaturwissenschaft mit ihrem Begriffsinstrumentarium nun ihrerseits Beschreibungsmodelle liefern, die zur Erforschung visueller Kultur beitragen. Problematisch dagegen scheint die vehemente Diskreditierung der Autonomieästhetik, weil deren Vertreter gar nicht von einer kompletten Losgelöstheit der Kunst von der Wirklichkeit ausgehen. Das Autonomiekonzept, wie es in der Romantik verstanden wurde, sieht eine Integration zeitgenössischer Diskurse vor, um sie im Raum der Kunst abwägen und frei über sie verfügen zu können.

Apel macht allerdings mit der Aufkündigung einer Differenz von Sehen, Text und Welt nicht einfach alle modernen Positionen und poststrukturalistischen Errungenschaften obsolet. Im Gegenteil folgen für ihn Seherlebnisse einem bestimmten Interesse und sind durch Medien gefiltert und gesteuert. Visuelle Wahrnehmung ist Apel zufolge ein Interpretationsvorgang, dessen sprachliche Kundgabe Vieldeutigkeit produziert, ohne indes die Kohärenz einer gemeinsamen Erscheinungswelt in Frage zu stellen: „Bei aller Strittigkeit des […] Problems einer gesellschaftlichen Wahrnehmungsverordnung gibt es keinen zureichenden Grund für die Annahme, daß die Welt des Dichters oder Malers je eine grundsätzlich andere ist als die, in der wir leben.“

Der theoretisch eingeleitete Komplex von Sichtbarkeit, Literatur und Wirklichkeit wird im zweiten Kapitel anhand einer Reihe von literarischen Beispielen aus der deutschen, englischen und französischen Literatur erweitert. So werden neben Autoren wie Johann Wolfgang Goethe, Novalis, E.T.A. Hoffmann und Ernst Jünger auch William Blake, Samuel Taylor Coleridge oder Charles Baudelaire herangezogen. Apel arbeitet dabei präzise verschiedene Sichtbarkeitstypen heraus, die von einer Widerständigkeit gegenüber verordneten Wahrnehmungsmustern bis hin zur unendlichen Potentialität visueller Rauscherlebnisse reichen. Über die Lektüreperspektive des Visuellen hinaus sind die Analysen derart kenntnisreich, dass man sich wünscht, aus ihnen würde eine eigene Literaturgeschichte hervorgehen.

Nicht immer stützen die ausgewählten Beispiele allerdings die zentrale These. So steht die Diagnose von Stefan Georges „imperativische[r] Wahrnehmungsstrategie“ in ihrer gruppenkonstitutiven, exklusiven „Sicht der Welt“ im Widerspruch zu der Vorstellung, dass die Wirklichkeit des Dichters sich nicht grundsätzlich von unserer unterscheidet. Teilweise driftet Apel auch von seiner Untersuchungsfrage ab und verirrt sich in Forschungskontroversen, wie im Falle des Individuationsproblems bei Hugo von Hofmannsthal. Zudem bindet er in manchen Kapiteln die Frage der Sichtbarkeit eher beiläufig an, wie in den Auseinandersetzungen zur Homosexualität bei Théophile Gautier, Oscar Wilde und Thomas Mann.

Dass die Literaturgeschichte Texte kennt, die für die Visualitätsforschung von größerer Bedeutung sind, zeigt ein Blick auf Volker Mergenthalers Studie „Sehen schreiben – Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel“. Die 2002 erschienene Monografie verfolgt – unter Einbezug der Diskursanalyse Michel Foucaults – einen ähnlichen Ansatz, zieht hierfür aber Autoren wie Georg Büchner, Wilhelm Raabe, Robert Musil oder Franz Kafka heran. Leider wird diese Studie von Apel ebenso ignoriert wie die wahrnehmungsphilosophischen Arbeiten Maurice Merleau-Pontys. Dabei hätte eine Beschäftigung mit dessen „Phänomenologie der Wahrnehmung“ (1945) und der Schrift „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ (1959-1961) die Argumentation bereichern können. Gleiches gilt für die Arbeiten Edmund Husserls und nicht zuletzt Konrad Fiedlers, der in seiner Studie „Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit“ (1887) den für Apel zentralen Begriff der Sichtbarkeit geprägt hat.

Ambivalent zu beurteilen ist überdies die – allzu knappe – Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Autorinnen und Autoren im dritten Kapitel des Bandes. Auch wenn die gesellschaftspolitische Klammer Claude Simon, Jean Rouaud, Herta Müller und Peter Handke zusammenhält, scheint ihre Auswahl willkürlich und die Beschreibung ihres Anteils an einer erstarkten Relevanz der sichtbaren Erscheinungswelt allzu bemüht.

Diese Beliebigkeit liegt allerdings ganz im Sinne Apels. Er macht sie zu einem integralen Bestandteil seiner Theorie, da sie ihm bestätigt, dass literarische Beschreibungsverfahren bei aller Themenvielfalt immer Sichtbarkeiten erzeugen, die es zu analysieren gilt. Ob damit zugleich das Autonomiediktat der Literatur in Frage gestellt und eine neue „Welthaltigkeit“ der Literatur ausgerufen werden muss, sei dahingestellt. Auf jeden Fall eröffnet die herausragende Studie von Apel einen neuen Raum literaturwissenschaftlicher Forschung. Ob er von ihr eingenommen wird? Wir werden es sehen.

Titelbild

Friedmar Apel: Das Auge liest mit. Zur Visualität der Literatur.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
190 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235694

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