Hitlers hochanständige Helfer

„Anständig geblieben“: Der Frankfurter Historiker Raphael Gross untersucht die NS-Moral und ihre Folgen nach 1945

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Böses tun und dabei auch böse sein wollen – das können nur wenige. Die Nazis bilden da keine Ausnahme, im Gegenteil. In seiner berüchtigten Posener Rede hielt es Heinrich Himmler, als er vor den Funktionären des Regimes erstmals offen vom Massenmord an den europäischen Juden sprach, für ein „niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte“, dabei „anständig geblieben zu sein“.

„Anständig geblieben“ ist auch der Titel einer Sammlung von faszinierenden Fallstudien des in Frankfurt lehrenden Historikers Raphael Gross. Schon ihr Untertitel provoziert: „Nationalsozialistische Moral“ – ist das nicht ein Widerspruch? Wissen wir nicht alle, dass die NS-Zeit eine unmoralische war? Wie sonst konnte es zum Holocaust kommen, wenn nicht durch die Missachtung moralischer Werte nach 1933?

Für den Leiter des Fritz Bauer-Instituts und des Jüdischen Museums in Frankfurt wird umgekehrt ein Schuh daraus. Entscheidend ist, dass Gross den Begriff Moral nicht in einem normativen Sinn verwendet, sondern in einem rein deskriptiven, weshalb er NS-Moral auch konsequent ohne Anführungszeichen schreibt: Moralisch ist so gesehen zunächst einmal jeder, der einem System von Normen, Werten und moralischen Gefühlen folgt – wie die Nazis: „Die meisten überzeugten Nazis hielten sich selber nicht für Verbrecher – auch nicht nachträglich.“

Um den Holocaust zu verstehen, müsse man die ihm zugrunde liegende, spezifische Moralkonzeption verstehen: „Der Holocaust hat keine neue Ethik hervorgebracht, genauso wenig wie irgendein anderes historisches Ereignis. Der Holocaust wurde aber durch eine ganz bestimmte radikale Form der partikularen Ethik erst ermöglicht.“ Die von Ernst Tugendhat übernommene Unterscheidung zwischen universalen und partikularen Moralvorstellungen ist für Gross‘ Ansatz entscheidend: Eine universale Moral (wie Kants kategorischer Imperativ oder Habermas‘ Diskursethik) erhebt den Anspruch, sich vor allen rechtfertigen zu können. Anders dagegen eine partikulare Moral, die von vornherein nur für eine bestimmte Gruppe gelten will, sei es eine Familie, ein Volk oder eine Glaubensgemeinschaft.

Wie Gross zeigt, waren in der NS-Moral Werte wie Ehre, Treue (zum eigenen Volk), Anstand oder Schande zentral: Nur die Deutschen besaßen Ehre (qua rassischer Abstammung), nur sie konnten sie auch verlieren (indem sie etwa mit einem Juden intim wurden). Juden dagegen waren von dieser Moral ausgeschlossen. Und wo die Juden selbst universale Werte verbreiteten, taten sie das nur, um ihre partikularen Interessen durchzusetzen: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“ (Carl Schmitt) Himmlers Stolz auf seine „anständig gebliebenen“ SS-Leute bezog sich darauf, dass diese sich, von Ausnahmen abgesehen, beim Morden nicht persönlich bereichert hätten, also den Tugenden der SS treu geblieben waren.

Raphael Gross‘ Versuch, die NS-Zeit von innen heraus zu verstehen, ist in der Holocaust-Forschung überraschend neu. Einen Verbündeten sieht er ausgerechnet in Daniel Jonah Goldhagen und dessen umstrittener These von „Hitlers willigen Vollstreckern“. Wie Goldhagen geht Gross davon aus, dass die Mehrheit der nicht-jüdischen Deutschen antisemitisch eingestellt war und die Taten der Nazis gebilligt hätte – eine These, die neuere Studien wie die Peter Longerichs oder die von Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel herausgegebenen geheimen NS-Stimmungsberichte ignoriert, die zumindest ein differenzierteres, heterogeneres Bild der Gesellschaft im „Dritten Reich“ nahelegen. Die Antriebsenergien für die Shoah lieferte nach Gross auch nicht Habgier (Götz Aly), sondern eine von der geteilten NS-Moral erzeugte „moralische Leidenschaft“ mit Begleitgefühlen von Hass, Ekel und Abscheu.

Wie verbreitet diese NS-Moral tatsächlich war, vermag Gross‘ mit einer Fülle von Quellen zu belegen. Diese reichen von juristischen Bestimmungen noch aus den Weimarer Jahren wie Badeverboten für Juden bis zu vermeintlich harmlosen UFA-Filmen wie „Hotel Sacher“. Womöglich noch bedeutender aber sind Gross‘ Studien, die sich der Nachkriegszeit widmen. Nach Gross lebten die in der NS-Zeit erlernten partikularen Argumentationsmuster nach 1945 munter fort. Mit einem bezeichnenden Unterschied: „Verstanden sich die antisemitischen Deutschen vor 1945 als Opfer der betrügerischen Juden, so konnten sie sich nach 1945 als Opfer des betrügerischen Führers verstehen.“ Ein Beispiel dafür aus dem Nachlass des Eichmann-Verteidigers Robert Servatius ist die Zuschrift eines Dr. von Schönberg aus dem Jahr 1961: Demnach hätten Hitler, Goebbels und Co. allesamt jüdisches Blut gehabt, der Eichmann-Prozess in Jerusalem sei die letzte Gelegenheit, „die deutsche Ehre zu verteidigen, die (von den Nazis) zu Unrecht in den Schmutz gezogen wurde“.

Wie lebendig partikulare Moralvorstellungen noch heute sind, zeigt Raphael Gross in frappierenden Analysen zum Kinohit „Der Untergang“ oder zu Martin Walsers Friedenspreis-Rede. Bei Martin Walser stiftete die (mit stehendem Beifall begrüßte) Kritik an der „Monumentalisierung unserer Schande“ offensichtlich Gemeinschaft. Angesichts eines Verbrechens sollte, so Gross, jeder Mensch Empörung empfinden; Schande stehe dagegen für eine partikulare Moral. Indem diese alle deutschen Juden von der Schande ausschließt, erneuere sie automatisch die Unterscheidung zwischen Deutschen und Juden.

Titelbild

Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
276 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783100287137

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