Verloren im Leben

Michael Kleeberg lässt im Roman „Das amerikanische Hospital“ zwei Menschen einander ihre Ängste entdecken

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Herbst 1991 begegnen sich Hélène und David im amerikanischen Hospital im Pariser Vorort Neuilly. Infolge einer mysteriösen Panikattacke sinkt David der zufällig anwesenden Hélène formlich in die Arme. Eine Liebesaffäre entwickelt sich daraus nicht, doch die Geschichte einer schönen Freundschaft. David Cote, ein amerikanischer Soldat im Range eines Colonels, war eben noch im Irak stationiert und aus dem 1. Golfkrieg als dekorierter Sieger heimgekehrt. Trotz des kurzen Feldzugs reichte die Zeit, dass er Schreckliches sah und seither verdrängt. Auf knallende Geräusche wie zuschlagende Türen reagiert David reflexartig mit Schweißausbruch und Zähneklappern.

Die Innenarchitektin Hélène hat andere Gründe für ihren Spitalaufenthalt: Wegen einer Entzündungskrankheit kann sie keine Kinder bekommen, deshalb versuchen sie und ihr Mann, mit einer künstlichen Befruchtung zum erstrebten Ziel zu gelangen. Der Weg dahin erweist sich bald als verzehrende Tortur. Hélène fühlt sich von den medizinisch-technischen Prozeduren je länger desto mehr ausgelaugt.

Die sich über Jahre hinweg zufällig ergebenden und durch längere Pausen unterbrochenen Begegnungen zwischen David und Hélène schenken beiden ein wenig Trost – wobei vor allem David darauf hofft, Hélène zu sehen, weil er sonst niemanden in Paris kennt. Die wachsende Vertrautheit überschreitet nie die imaginäre Linie, die sie zum Paar werden ließe. Der Erzähler Thomas, Hélènes beinahe unsichtbarer Mann, legt sich wie ein diskreter Schatten über die Beziehung. Viele Jahre später erzählt er von seiner Ehe mit Hélène, welche bald nach Abbruch der Inseminationsversuche still und leise auseinanderbrach. Geblieben ist ein wehmütiges „Dahin dahin“, das er im Rückblick gefühlvoll und aufmerksam erinnert.

Michael Kleeberg ist ein brillanter Erzähler, der seine Motive souverän in eine Handlung einbettet, die nie überinstrumentiert wirkt. Ohne spürbare Anstrengung führt er Hélène und David immer wieder zufällig zusammen, so dass zwischen ihnen über die Zeit hinweg eine zwanglose Intimität entsteht, die Einblick in die Nöte von zwei ungleichen Menschen gibt.

Beiden zugrunde liegt das Leiden an der Fremdheit und somit Entfremdung auch sich selbst gegenüber. David erzählt von seinem Irak-Einsatz, der ganz in der Nähe des biblischen „Garten Eden“ stattgefunden habe. Der paradiesische Friede wurde von Bombeneinschlägen übertönt und von grausamen Bildern überblendet, an die er sich erst wieder erinnern muss – Bild für Bild, Moment für Moment. Einzige Gewissheit sind dumpfe Schuldgefühle, die zu den Panikattacken führen. Es dauert Jahre, bis er zu ihrem Kern vordringt: sehnsuchtsvollen Blicken von Kindern, denen er in einem Dorf eine Freude bereiten wollte, und die deshalb von amerikanischen Granaten getötet wurden. Hélène ihrerseits kennt nur das manchmal hektische Pariser Leben. Doch die mehrfach scheiternden In-vitro-Fertilisationen lassen in ihrem Bauch kleine Föten absterben – und somit auch ihre Zuversicht. Wer trägt die Verantwortung für ihr Leben, wenn nicht sie selbst? Diese Frage markiert den Wendepunkt. „Ich kann darüber entscheiden“, lautet der daraus folgende, auf Anhieb noch verblüffende Gedanke. Auch David muss allmählich vom Kadavergehorsam der Armee wegkommen und lernen, dass die Konsequenzen seines soldatischen Tuns (also die daraus resultierende Angst) letztlich an ihm selbst haften bleiben.

Michael Kleeberg führt seine beiden Figuren behutsam an diesen Punkt der Selbsterkenntnis, ohne ihnen Gewalt anzutun. Die Frage nach der Verantwortung in einem System, das willenlose Menschen gerne zu Rädchen einer gut geölten, vernünftig begründeten Maschinerie macht – diese Fragen werden weniger theoretisch reflektiert als erzählerisch veranschaulicht. Hierin beweist Kleeberg seine Kunst. David führt mit seiner soldatischen Karriere ein lange Familientradition weiter, ganz und gar freiwillig, obwohl es ihn eigentlich zur Literatur, zur Poesie hinzieht. Er versucht beides miteinander zu verbinden. Hélène ihrerseits möchte die Tradition der Familie als sinnstiftende Einheit mit ihrem Mann weiterführen. Wenn sie schließlich schmerzhaft davon Abschied nimmt, bedeutet das auch, dass sie das eigene Leben grundlegend neu definieren muss.

„Das amerikanische Hospital“ verknüpft diese beiden Sphären in einem klugen Wechselspiel zwischen drei Erzählebenen: der sachlichen Routine in der Umgebung des Spitals, den zunehmend vertrauteren Gesprächen zwischen David und Hélène und – als Bindeglied – topografisch genauestens protokollierten Spaziergängen durch Paris. Den Höhepunkt bildet die gemeinsame Befreiung. Hélène hat ihren Entschluss gefasst und David, der sie zufällig davonstürmen sieht, folgt ihr, ohne Rücksicht auf seine Agoraphobie. Gemeinsam geraten sie ins Chaos der generalstreikenden Metropole, in der alles drunter und drüber geht und die Menschen trotzdem nicht aneinandergeraten, sondern unvermittelt Solidarität entwickeln.

Kleeberg rundet diese Geschichte mustergültig zu einer erzählerischen Einheit, die durch zeitliche Auslassungen behutsam verzögert wird, also eine Geschichte und nicht das Leben selbst wiedergibt. Indem er auf unnötige Zuspitzungen verzichtet, erhält sein Roman eine zarte Glaubwürdigkeit. Von ferne erinnern Hélène und David an „Héloise und Abälard“ – an deren Grab sie einmal vorbeikommen.

Kleebergs Roman streift mit seinem Motiv der Verarbeitung von Kriegsschuld nicht zuletzt den so ganz anders gearteten Roman „Zone“ von Mathias Énard. Auch dieser fragt danach, wie und wo die Mörder unter uns leben. Reizvoll ist die große stilistische Differenz, welche die auf ihre Weise je stupenden Bücher voneinander trennt.

Titelbild

Michael Kleeberg: Das amerikanische Hospital. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010.
236 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783421043900

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