Relikte eines Forschungsreisenden

„Der Schmetterlingskoffer“ von Arnold Schultze, nach 70 Jahren wiederentdeckt von Hanna Zeckau und Hanns Zischler

Von Nadine IhleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Ihle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

450 vergessene Gepäckstücke lässt die Lufthansa jeden Monat versteigern; Koffer, Rucksäcke, Trolleys, Taschen, in denen kaum jemand mehr erwarten würde als benutzte Wäsche, Reiseföns und vielleicht das ein oder andere Souvenir. Dass die Fundsachen einen solchen Absatz finden, kann eigentlich nur die Hoffnung auf einen außergewöhnlichen Zufall, einen verborgenen Schatz, eine besondere Kuriosität sein. Vergessene Koffer und alte Kisten – sie üben eine seltsame Faszination aus, eben weil es doch immer wieder die besonderen Geschichten gibt. Geschichten wie die von Arnold Schultzes Reisekoffer.

Entdeckt haben eben diesen die Grafikerin Hanna Zeckau und der Schauspieler Hanns Zischler im Berliner Naturkundemuseum. Und in ihm einen echten Schatz: Eine Sammlung von ungefähr 18.000 Schmetterlingen, wohlverwahrt in Papier und Zigarrenkisten. Der Geschichte der Schmetterlinge und ihres Sammlers spürt das Buch „Der Schmetterlingskoffer. Die tropischen Expeditionen von Arnold Schultze“ nach.

Arnold Schultze, deutscher Forschungsreisender, befand sich ausgerechnet bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mitten auf dem Atlantik, auf der Rückreise aus Südamerika nach Berlin. Einen seiner Koffer, randgefüllt mit seiner eigenen Schmetterlingssammlung, hatte er bereits vorausgeschickt, er kam unbeschadet an seinem Bestimmungsort, dem Naturkundemuseum in Berlin, an. Schultze und seine Frau gerieten in die britische Atlantikblockade. Sie wurden von ihrem Schiff evakuiert, das allerdings umgehend versenkt wurde. Mit ihm die gesamte zoologische und botanische Sammlung Schultzes. Er kehrte im Gegensatz zu seinem Koffer nie nach Berlin zurück, sondern blieb im Exil auf Madeira, wo er 1948 starb. Sein Schmetterlingskoffer wurde ungeöffnet als „Kiste 41/Trockenmaterial“ im Museum verwahrt. Erst jetzt, mehr als 70 Jahre später, ist der Schatz dieses Koffers wieder gehoben worden.

Einen Hauch von Entdeckerlust ahnt man schon beim Öffnen des Buches. Das Vorsatzblatt entspricht dem grafischen Muster des Kofferinneren, so gleicht das Aufblättern ein wenig dem Öffnen des Koffers selbst. Bei einem ersten Blick ins Innere kann man ebenfalls weiterstaunen und erst einmal fasziniert die wunderschönen Illustrationen von Hanna Zeckau betrachten. Stück für Stück eröffnet dann der Text ebenfalls das Leben und Wirken Schultzes. Die beiden Teile – Texte und Bilder – sind so dicht miteinander verwoben, dass man unmöglich sagen kann, wer hier wen begleitet. Die Illustrationen geben detailgetreu Papiere, Kisten, Schmetterlinge, Karten und Fotografien wieder. Die Essays von Hanns Zischler erläutern Schultzes Forschertätigkeiten; der Großteil der Texte besteht aus Schultzes Tagebuchnotizen, literarischen Zitaten und populärwissenschaftlichen Standardwerken zum Schmetterlingssammeln, sowie Schultzes engagierter Abhandlung „Flammen in der Sierra Nevada“. Diesen Reisebericht schrieb er 1927 am Ende seiner Zeit als Landvermesser in Kolumbien. Schultze beschreibt darin Land und Landschaften, Menschen und ihre Nöte, sowie die unabsehbaren Folgen der Intensivierung der Landwirtschaft für das Ökosystem des Regenwaldes. Und er erweist sich als eloquenter Erzähler, der sein wissenschaftliches Verständnis zwar niemals verleugnet, aber in der Eindringlichkeit der Darstellung offenbar auf ein umfassendes, großes Lesepublikum hoffte.

Dieses Buch ist mehr als die Summe seiner einzelnen Elemente. Die Tütchen, gefaltet aus Schultzes Papieren, bargen nicht nur die Schmetterlinge, sondern auch die Reste seines Alltagslebens. Gerne hätte man gewusst, wem und wofür Schultze am 1. Juni 1920 eine Anzahlung geleistet hat oder welches Telegramm er wohin schickte. Die gesammelten Fragmente ergeben ein überaus poetisches Gefüge, vielleicht gerade weil es keine vollständigen Bilder präsentieren kann und will.

Das Buch ist auch ein Lehrstück über museale Sammlungsbestände. Museen sammeln und bewahren Vergangenes, das gehört zu ihren grundlegenden Aufgaben. Dabei mag Vieles über Jahre und Jahrzehnte hinweg verstauben, Vieles eingelagert werden, was aus unserer heutigen Perspektive banal oder wenig sinnfällig erscheint. Aber niemand kann sagen, welche Fragen in fünfzig, hundert, zweihundert Jahren die Historiker bewegen werden. Deshalb ist das Auflösen von Sammlungsbeständen aus schierer Geld- oder Platznot heraus im Grunde Verrat an zukünftiger Forschung und damit der eigenen Geschichte. Die Dramatik des Verlustes kulturellen Erbes lässt sich ohnehin kaum bemessen, egal ob das Forschungsmaterial eines ganzen Lebens in den Fluten des Atlantik versinkt oder ein ganzes Museum in den Fluten der politischen Wechselspiele.

Die „Kiste 41/Trockenmaterial“ durfte glücklicherweise mehr als 70 Jahre im Dornröschenschlaf verweilen. Und mit seiner Wiederentdeckung zeigen, dass sich ganz vielfältige Wege in scheinbar längst vergessene Welten öffnen können. Schultze war mit seinem beschwörenden Pamphlet über die Landschaften und Kulturen Südamerikas kaum Widerhall vergönnt. Die Entdeckung seines Schmetterlingskoffers wird dies nun ändern und vielleicht zeigen, wie faszinierend und wichtig die Schätze in den verstaubten Koffern sind.

Titelbild

Hanns Zischler / Hanna Zeckau: Der Schmetterlingskoffer. Die tropischen Expeditionen von Arnold Schultze.
Galiani Verlag, Berlin 2010.
256 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783869710242

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