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Arthur Brehmers historischer Sammelband wirft einen Blick aus dem Jahre 1910 auf „die Welt in 100 Jahren“

Von Nadine IhleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Ihle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1910 ging die Welt unter. Zumindest hatte es für kurze Zeit den Anschein. Für das Frühjahr war das Wiedererscheinen des Halley’schen Kometen vorausgesagt. Der Komet nähert sich ungefähr alle 75 Jahre der Erde auf Sichtweite. 1910 sollte die Kometenbahn besonders dicht an der Erde vorbeiführen und am 20. Mai durchquerte die Erde den Schweif des Kometen. Die Spekulationen über die Folgen dieser Begegnung waren an Dramatik kaum zu überbieten: Verschiebungen der Erdachse, Sintfluten, Vergiftungen der Erdatmosphäre und der Bevölkerung durch Cyangase oder gleich das Fortziehen der Erde selbst im Kometenschweif. 1910 war aber auch das Jahr, in dem für Virginia Woolf die moderne Welt begann. In einer Lesung, die sie 1923 vor Studenten in Cambridge hielt, stellte sie fest, dass um 1910 sich die Welt nachhaltig geändert hatte: Während eine Köchin des viktorianischen Englands noch ein Wesen des Verborgenen gewesen sei, beträte die moderne Köchin selbstverständlich das Wohnzimmer ihrer Herrschaften.

Die ambivalente Aufbruchsstimmung am Beginn des 20. Jahrhunderts, die drängende Frage: was kommt auf uns zu, wie geht es weiter, gehen wir unter? – all dies spiegelt sich wider in dem von Arthur Brehmer 1910 herausgegebenen Band „Die Welt in 100 Jahren“. Brehmer versammelte eine ganze Reihe illustrer Autoren und Autorinnen – darunter unter anderem die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, die Pädagogin Ellen Key, den Schriftsteller Hermann Bahr – und bat sie um ihr Wort zu der Welt, wie sie im Jahre 2010 aussehen wird. Die Bandbreite der Themen reicht von allgemeinen politischen Verhältnissen, gesellschaftlichen Lebensformen und Geschlechterrollen, über militärische Zukunftsentwürfe und Friedenswelten bis hin zu technologischen Entwicklungen.

Der Georg Olms Verlag hat dieses hochinteressante Kompendium als faksimilierte Ausgabe mit einem Essay „Zukunft von gestern“ von Georg Ruppelt versehen und neu aufgelegt. Herausgekommen ist ein schön gestaltetes Buch, dessen Wirkung sich gleich auf zwei Ebenen entfaltet: Da sind zum einen die für den heutigen Leser anregenden Denkanstöße über das Jahr 2010, aber auch die Vergegenwärtigung der zeitgenössischen Sichtweise des Jahres 1910. Welche Voraussagen gingen in Erfüllung? Welche Entwicklungen haben sich überholt? Welche erscheinen allzu futuristisch? Selbstverständlich sind die eingetroffenen Entwürfe am reizvollsten, wie zum Beispiel das von Robert Sloss prophezeite Taschentelefon, inklusive Vibrationsalarm. Oder, noch beeindruckender, die Voraussage der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, das Wettrüsten und die Militarisierung der Welt würde zu einer Patt-Situation und damit zu einem unfreiwilligen Waffenstillstand führen – der Kalte Krieg noch vor der Erfindung der Atombombe prophezeit. So erstaunlich und bemerkenswert die Präzision mancher Voraussagen ist, so belustigend sind jene Ideen, die auch heute noch absurd oder durch hundert Jahre Zeitläufe völlig veraltet scheinen – wie zum Beispiel die fliegenden Quadrathäuser deutscher Kolonialherren.

Auch die Architektur der Zukunftsstadt, wie sie kongenial der Illustrator des Buches Ernst Lübbert entwirft, zeigt diese Ambivalenz. Lübberts Stadt im 21. Jahrhundert ist eines seiner bekanntesten und am häufigsten zitierten Bilder aus der Reihe der Illustrationen für „Die Welt in 100 Jahren“. Auch in der Neuauflage bekommt es als Titelbild einen exponierten Platz. Und es zeigt stellvertretend für alle Beiträge ganz hervorragend die Widersprüchlichkeit der meisten Zukunftsprognosen: Einerseits erscheint das Hochhauslabyrinth aus der heutigen Sicht als sehr vertrautes Stadtbild. Andererseits ruft ein Detail in dem Lübbert’schen Stadtleben heute Schmunzeln und Nachdenklichkeit hervor: die Autos. Das Bild zeigt die Autos noch in der an Kutschen erinnernden Form und nicht als stromlinienförmige Metalleier. Was aus heutiger Sicht rührend naiv erscheint, ist ihre Anzahl: es sind verschwindend wenige. In einer modernen Stadt hat sich das Verhältnis zwischen Fußgängern und Autos längst umgekehrt. Unsere überfüllten Straßen – das konnte sich selbst der geniale Illustrator 1910 nicht ausmalen.

Eben genau diese Ambivalenz zieht sich durch das gesamte Buch und macht es so außerordentlich reizvoll. Es ist eine Entdeckungstour durch eine Welt, für die noch alles möglich und denkbar schien, und die zurück in unsere heutige Welt führt, Fragen aufwirft über den Weg, den wir in den letzten hundert Jahren zurückgelegt haben. Und so wünschte man sich am Ende des Buches eine Fortsetzung über „Die Welt in 100 Jahren“. Und wer weiß, vielleicht fände sich ja wieder ein Autor, der das Telefonieren im Jahre 2110 treffsicher beschriebe?

Titelbild

Arthur Brehmer: Die Welt in 100 Jahren.
Mit einem einführenden Essay 'Zukunft von gestern' von Georg Ruppel.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2010.
319 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783487083049

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