Schöne neue Prenzlauer-Berg-Welt

Alexander Osang erzählt in seinem Roman „Königstorkinder“ von einer Ost-West-Liebe im zwanzigsten Jahr der deutschen Einheit

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hat sich viel verändert am Prenzlauer Berg in Berlin. Da, wo früher, sprich: vor etwas mehr als zwanzig Jahren, der bärtige DDR-Oppositionelle im Anschluss an eine illegale Wohnungslesung auf sein Etagenklo schlich, sitzen inzwischen „Schwaben“ in ihren frisch sanierten Lofts und Maisonetten. Wo es einst – nach Adolf Endler („Tarzan am Prenzlauer Berg“, Leipzig 1996) – „Ruhä… Ruhä!!!… Hühlfä!… Hühlfä!!!… Polessai… Polesa… i…jj!!!“ aus den maroden Hinterhöfen scholl, hört man heute die sanften Laufgeräusche der Apple-Notebooks, schieben Yuppie-Pärchen ihre Bugaboos übers Trottoir und leben (laut Wikipedia) 82,7 Prozent derjenigen Bürger, die 1993 noch in der Gegend um den Kollwitzplatz beheimatet waren, längst woanders.

Gentrifizierung heißt das im Fachjargon und bedeutet, dass ein Großteil der aktuellen Bewohner des beliebten Stadtteils aus dem Westen beziehungsweise Südwesten der wiedervereinigten Republik kommt. Wenn einer von denen dann von „seinem Prenzlberch“ spricht – „det is’ unjefähr so, als ob eener in San Franzisco von ,Frisco‘ spricht: da weeß jeder echte San-Franziscoer sofort Bescheid, hab’ ick jelesen!: Der is’ nich von hier!“ (Endler, „Tarzan am Prenzlauer Berg“)

So ergeht es auch Ulrike Beerenstein, einer der beiden Hauptfiguren in Alexander Osangs neuen Roman „Königstorkinder“. Die Münchnerin lebt seit sechs Jahren samt gut verdienendem Mann und dreijähriger Tochter in Berlin, arbeitet in einer winzigen Werbefirma, wohnt prominent, fühlt sich in ihrem kleinen, abgeschotteten Paradies aber zunehmend gestört durch lautstarke Aktivitäten in einem benachbarten Haus. Dort werkelt eine Handvoll prekärer Existenzen, die in einer Ideenagentur Unterschlupf gefunden haben, an einem Programm, das man aus Anlass des zwanzigsten Jahrestages des Falls der Mauer in Altenheimen zur Aufführung bringen will. Klar, dass dabei auch Honeckers Lieblingslied, der legendäre „Kleine Trompeter“, geschmettert werden muss – und zwar mit allen überlieferten Strophen und so oft und laut, wie es der Staatsratsvorsitzende und Erste Sekretär des Zentralkomitees mochte. Und das geht Ulrike richtig auf den Keks, weshalb sie sich aufmacht, es diesen Ewiggestrigen endlich einmal zu zeigen. Doch plötzlich steht sie vor Andreas Hermann.

Osang erzählt in seinem neuen Roman, seinem dritten nach „Die Nachrichten“ (2000) und „Lennon ist tot“ (2007), eine Ost-West-Liebesgeschichte in einer Zeit, in der es den „alten“ Osten und den „alten“ Westen schon seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gibt. Ressentiments freilich sind langlebiger als gut gemeinte politische Willenserklärungen, und so stoßen in dem locker komponierten Buch zwei nach wie vor unterschiedliche Weisen, die Nachwenderealität zu erleben, aufeinander. Mit Hermann bringt Osang dabei eine Figur ins Spiel, der er viel von sich selbst mitgegeben hat, allerdings nicht den journalistischen Erfolg, den der vielfach ausgezeichnete Reporter nach der Wende einheimsen konnte.

Nein, dem gebürtigen Neustrelitzer, Anfang 40 und in der neuen deutschen Wirklichkeit noch längst nicht angekommen, ist in den letzten zwanzig Jahren trotz allem Bemühen das meiste danebengegangen. Ein Journalistikstudium hat er abgebrochen, seit zehn Jahren keinen Text mehr geschrieben und nach fünf Computerlehrgängen und einem Bewerbungstraining verschlug es ihn schließlich in die Agentur „contact“, wo er gemeinsam mit beschäftigungslosen Schauspielern, Musikern, die sich von Engagement zu Engagement hungern, und dem letzten Kulturattaché der DDR-Botschaft in Nigeria die Geschichte des Weinbaus in Berlin (!) erforscht und Kulturprogramme für Altenheime und Krankenhäuser ersinnt. Er nimmt Antidepressiva, lebt von Hartz IV in einer ziemlich zugemüllten kleinen Butze und bewirbt sich in der Rahmenhandlung des Romans gerade um einen Platz in einem Langzeitschlafprojekt an der Charité – auch eine Form von Wirklichkeitsflucht.

Eine Liebesgeschichte kommt ihm jedenfalls gerade recht. Und für Ulrike ist er interessant als der Exot aus einer fremden Welt, ein alles in allem sanfterer Typ als der eigene Mann, der als erfolgreicher Anwalt unterwegs ist und der im Roman gekennzeichnet wird über eine „Aufbissschiene“ – Was für ein Bild für den sich den Osten unterwerfenden Knirscher aus Bayern! –, die Andreas in die Hände fällt, als er die Geliebte zum ersten Mal zu Hause besucht. Doch mehr als zehn Tage gibt Osang seinen beiden Hauptfiguren nicht für ihre Romanze – Königs(tor)kinder sind und bleiben sie eben. Und so arbeiten sie in dieser Zeit nicht zu knapp an sich selbst, ihren Freundes – und Bekanntenkreisen samt den dazugehörigen, klischeebeladenen Blicken auf die Welt des jeweils anderen ab.

Osang hat viel Sympathie für seinen Helden Andreas, während der Blick auf Ulrike Beerenstein und deren Milieu etwas distanzierter gerät. Und er kennt sich aus auf den Straßen, Gassen und Plätzen rund um das Bötzowviertel. Fast könnte man einen kleinen Kneipenführer für die Gegend zwischen Danziger Straße und Volkspark Friedrichshain aus den knapp 300 Buchseiten extrahieren. Da stimmt die Atmosphäre, wird messerscharf beobachtet und das Gesehene pointiert zu Papier gebracht. Warum der Roman darüber hinaus noch einen zweiten Erzählstrang um das Tagebuch eines verstorbenen Professors herum aufbauen muss und am Ende gar – indem er Rahmen- und Binnenhandlung ineinanderlaufen lässt – eine das bis dahin Erzählte relativierende Pointe anbringt, leuchtet nicht so richtig ein. Vielleicht hat da die Furcht davor eine Rolle gespielt, das Buch könnte von seinen Lesern nur allzu schnell der reinen Unterhaltungsware zugeordnet werden? Aber auch Unterhaltunsliteratur will erst einmal so gekonnt und kurzweilig geschrieben sein wie hier.

Titelbild

Alexander Osang: Königstorkinder. Roman.
2. Auflage.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
334 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783100576132

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