„Du bist so krank! Ich muss kotzen!“

Ein Sammelband stellt 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen vor

Von Anne KramerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Kramer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Deutschland werden psychische Erkrankungen nach der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen“ (ICD-10) der World Health Organization (WHO) diagnostiziert. Daneben gibt es noch ein zweites, nationales Schema, das vor allem in der psychologischen Forschung verwendete „Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen“ (DSM-IV) der USA. In der mittlerweile 10. Revision geht die ICD auch auf terminologische Probleme der Klassifikation ein. So wird der Begriff „Krankheit“ weitgehend vermieden und durch den vermeintlich weniger diskriminierenden Begriff „Störung“ ersetzt. Ob sich diese Sprachregelung in anderen gesellschaftlichen Diskursen durchzusetzen vermag, bleibt abzuwarten. Neben solchen Benennungskämpfen geht es ja immer auch um die Frage, welche Verhaltensauffälligkeiten in welchen gesellschaftlichen Kontexten überhaupt als normabweichend gelten. Diese existenzielle und normstiftende Dimension kann vielleicht kein anderes Medium so wirkungsvoll vorführen wie der Film.

Psychiater und Psychologen werden einerseits zunehmend als Berater großer Filmproduktionen herangezogen, andererseits nutzen sie wiederum Filme als Material, einem breiteren Publikum psychische Störungen näher zu bringen. Unter dem Titel „Frankenstein und Belle de Jour“ gaben die Psychologin Heidi Möller und der Psychosomatiker Stephan Doering 2008 einen Sammelband zu Filmcharakteren und ihren psychischen Störungen heraus, der auf so große Resonanz stieß, dass sie nun einen zweiten Band nachlegten. 41 Autoren, vor allem aus den Fachgebieten Psychiatrie, Psychoanalyse, Psychologie und Germanistik, analysieren in „Batman und andere himmlische Kreaturen“ in 30 Kapiteln von „Alzheimer-Demenz“ über „Pathologisches Spielen“ bis hin zur „Zwangsstörung“ Filmfiguren entlang des Klassifikationsmodells der ICD-10. Dieser zweite Band fällt weniger enzyklopädisch aus als der erste, einige Störungen kommen nicht vor, andere mehrfach, weshalb nachvollziehbar ist, wie unterschiedlich Erscheinungsformen, Hintergründe und Interpretationen psychischer Störungen ausfallen können.

Die wenigsten der ausgewählten Filme widmen sich explizit psychischen Störungen. Die Mehrzahl erzählt eine Geschichte, deren Protagonisten unter anderem eben auch Traumatisierungen, affektive Störungen oder Persönlichkeits- und Verhaltensauffälligkeiten zu bewältigen haben. Und ganz wenige könnten an sich als gestörte Filme bezeichnet werden, die es fertig bringen, die Zuschauer selbst zu Gestörten zu machen.

Dieser Aspekt wird zum Beispiel von Franziska Lamott und William Adamson im Beitrag zu David Lynchs „Blue Velvet“ deutlich, wenn die Autoren schreiben: „So sind wir mitten drin, genießen oder verdammen im geschlossenen Raum, im Inneren des kinematografischen Guckkastens, das hemmungslose erotische Triebleben der Anderen, sind selbst der Voyeur, den wir eben noch beobachtet haben.“

Ein solches medienkritisches, selbstentlarvendes Verfahren verkraftete das Publikum gut 45 Jahre früher, bei „Peeping Tom“, noch nicht. Der Artikel von Mathias Hirsch geht neben der Psychodynamik des Protagonisten auch auf die interessante Wirkungsgeschichte des Films ein. Was gestört ist und was normal, bestimmt letztlich die Gesellschaft selbst, und ihren eigenen Voyeurismus wollte sie damals nicht sehen.

Umgekehrt stellt Udo Rauchfleisch in seinem Text zu „Pretty Baby“ die These auf, dass dieser Film von 1977 heutigen Normen der Gesellschaft widerspreche und so nicht mehr möglich wäre. Der Film stelle die sexuelle Grenzverletzung des pädophilen Protagonisten als etwas von der weiblichen Hauptfigur Gewolltes dar.

Dass und wie das Medium Film durch seine spezifischen Möglichkeiten in ausgezeichneter Weise näher bringen kann, was hinter und durch Krankheit sichtbar wird, zeigt Eva Jaeggi in ihrer subtilen Analyse zu „Winterreise“. Die abrupten Schnitte in rascher Folge verweisen auf die innere Wechselhaftigkeit der bipolaren Störung; statische Bilder in schneeverhangener, bayerischer Landschaft deuten die depressive Phase an, die im krassen Gegensatz zum wirren, brodelnden und exotischen Straßenbild der afrikanischen Metropole Nairobi für die Manie des Protagonisten steht. Jaeggi entfaltet, wie es durch Symptome hindurch um Leben und Tod gehen kann, weil schwere psychische Störungen andere Ordnungen herstellen und zulassen. Sie versteht die Diagnose im Sinne der ICD-10 als formale Hülle, die das „Eigentliche“ verbirgt und fragt nach der Rolle des Kontextes, in dem sich das wahnhafte Geschehen abspielt.

Bei einigen Beiträgen – etwa zur Zwangsstörung in „Besser geht’s nicht“ – schwingt aber auch mit, dass gerade die formale Hülle, also die Benennung eines Leidens, helfen kann, Behandlungswege zu finden und den Betroffenen nicht nur selbst entlastet, sondern sein Leiden auch für das soziale Umfeld zu verstehen hilft.

Auf die formalen und stilistischen Mittel des Films, die Aspekte von Ton, Farbe und Kameraeinstellung geht auch Timo Storck in seiner psychoanalytischen Lesart zum Neowestern „No Country for Old Man“ ein, um sich der Altersdepression jenseits deskriptiver Kriterien zu nähern. Er zeichnet nach, wie durch die Kargheit der filmischen Inszenierung die Sprach- und Gefühllosigkeit sozusagen als Effekt beim Betrachter „landet“ und dort „quasi-personale“ Gegenübertragungsgefühle von Ängstlichkeit über Enttäuschung bis zu Langeweile auszulösen vermag.

Tatjana Noemi Tömmel und Sieglinde Eva Tömmel analysieren ebenfalls nicht nur die Depression ihrer Hauptfigur – Carrie Bradshaw aus „Sex and the City“ –, sondern fragen nach der Rezeptionsästhetik der populärkulturellen Serie. Sie zeigen, wie Film auch als Therapeutikum wirken kann.

Ähnlich stellen Hermann Mitterhofer und Pia Andreatta in ihrem Text zu „Drei Farben: Blau“ fest, dass dies kein „Film über das Trauern, sondern ein Film über die Herstellung der Bedingungen der Möglichkeit zu trauern“ ist.

Jutta Menschik-Bendele nimmt den Film „Die blonde Sünderin“ von 1962 zum Ausgangspunkt, um das für unsere Zeit immer brisanter werdende Phänomen des pathologischen Spielens zu durchleuchten. Neben der Psychodynamik und den biologischen Hintergründen lässt sie Betroffene zu Wort kommen und vergleicht die Spielsucht mit substanzgebundenen Süchten.

Mathias Lohmer und Corinna Wernz charakterisieren Narzissmus und Dissozialität der Hauptfiguren aus „Wall Street“ schlüssig als interaktionelle und kulturelle Phänomene im Spiegel der ICD-10. Zur Entstehungszeit des Filmes 1987 wäre das in der Form allerdings so noch nicht möglich gewesen, denn die narzisstische Persönlichkeitsstörung hat erst ein paar Jahre später Eingang in die ICD-10 gefunden. In der Analyse wird eindrucksvoll demonstriert, wie das Dissoziale durch die Verfilmung – und entgegen der Intention von Drehbuch und Regie – regelrecht sozialkompatibel gemacht wurde: Viele wollten plötzlich so cool, gierig, skrupellos und gerade dadurch auch so erfolgreich werden, wie die Hauptfigur. Der Film hat also eine eigene Realität geschaffen und das Dissoziale sozusagen kinopalastfähig gemacht.

Einige Autoren orientieren sich relativ streng an der ICD-10, manche klassifizieren, was vor allem bei den zahlreichen amerikanischen Produktionen auch nahe liegt, nach dem dort gängigen DSM, andere verwenden beide Systeme. Die meisten gehen auf die inhärenten Schwächen der phänomenologisch-deskriptiven Ausrichtung ein und erweitern diese um ätiologische, historische und psychodynamische Betrachtungsweisen. Lediglich ein Autor lässt sich allzu hemdsärmelig von der Etikettierungslust hinreißen und attestiert einer Figur aus „Match Point“ mal eben so en passant eine „tiefgreifende Borderline-Persönlichkeitsstörung“.

Dass soziale Konflikte allein, ohne persönliche Beeinträchtigungen, nicht ausreichen, um eine psychische Störung zu diagnostizieren, darauf weist Andreas Hill in seinem Beitrag zu „Verfolgt“ hin. Um beispielsweise zwischen sexueller Vorliebe und klinisch gestörter Sexualität unterscheiden zu können, müssen auch subjektives Leiden oder die Selbst- und Fremdgefährdung als Kriterien miteinbezogen werden. Hill zeigt, dass sich „Verfolgt“ einfachen diagnostischen Einordnungen verweigert und jenseits klischeehafter Darstellungen zum Sadomasochismus eine Geschichte emotionaler Abhängigkeiten, Grenzüberschreitungen und Stigmatisierung erzählt. Nachdem der Protagonist von seinem Kumpel aus lauter Hass und Unverständnis zusammengeschlagen wurde, bekommt er noch die vielleicht brutalere verbale Gewalt ins Gesicht geschleudert: „Du bist so krank! Ich muss kotzen!“

Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Perspektiven, die spannenden Fragestellungen und Schwerpunkte des Sammelbandes sind für jeden Kinobegeisterten, unabhängig vom Stand des jeweiligen psychiatrischen Fachwissens, ein Gewinn. Nicht zuletzt fällt rein formal das angenehme Gestaltungskonzept des Buches ins Auge. Auf dem sehr weißen, seidig-glatten Papier kommen die zahlreichen Bildbeispiele und teilweise farbig gedruckten Textpassagen besonders intensiv zur Geltung.

Titelbild

Heidi Möller / Stephan Doering (Hg.): Batman und andere himmlische Kreaturen. Nochmal 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen.
Springer Verlag Berlin, Berlin 2010.
405 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783642127380

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