Das war kein Spaziergang

Mit Stephan Wackwitz flanieren: Unterwegs durch die Fifth Avenue, der Hauptstraße des 20. Jahrhunderts

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mancher New York-Besucher mag diese Stadt auf einem schnellen, im Reiseführer empfohlenen Rundgang gesehen haben. Stephan Wackwitz bietet mit „Fifth Avenue. Spaziergänge durch das letzte Jahrhundert“ ein Gegenprogramm an. Dazu muss man etwas Zeit mitbringen, denn Wackwitz verabredet sich mit seinen LeserInnen in der Fifth Avenue und (ent)führt sie auf sieben Routen durch die Stadt und durch das ganze Jahrhundert. Die Routen sind thematisch konzipiert – „Musik“, „Eine höhere Form des Landlebens“, „Die Verklärung des Gewöhnlichen“, „Große Kunst“… –, scheinen aber nicht immer klar strukturiert zu sein. Nun, es sind ja auch Spaziergänge zum Entspannen und Genießen, so dass etwas Spontaneität dazu gehört. Ein kleiner Hinweis vorab: Wenn man sich von Wackwitz auf diese Spaziergänge mitnehmen lässt, sollte man keine eigene Vorstellungen haben, sondern sich ganz auf dieses Abenteuer einlassen. Man wird schließlich von einem weitgereisten, sprachgewandten und in New York verliebten Mann begleitet und unterhalten.

Der erste Spaziergang, Musik, steht im Zeichen des Jazz und beginnt mit der Erklärungstafel an dem Obelisken, der an das 369. Infanterieregiment erinnert. In dieser „rein afroamerikanische[n] Einheit“ war nicht nur „eine der berühmtesten und einflussreichsten Jazzformationen der Musikgeschichte“, sondern ihr verdanken wir auch die Einführung des Jazz in Frankreich und ganz Europa. Ein Jazzinteressierter wird kaum Neues über James Reese Europe, den Leutnant, Bandleader, Komponisten und Gründer der Musikkooperative „Clef Club“ erfahren. Auf informativen Ertrag kommt es aber weder in diesem Kapitel, noch im gesamten Buch an. Dem Motto getreu „Der Weg ist das Ziel!“ führt Wackwitz seine imaginär Mitspazierenden vornehm und in Sprache und Stil erhaben durch viele Seiten des Buches.

Stephan Wackwitz ist ein Meister der Beschreibung: die aneinander gereihten Aufzählungen, Adjektive, Partizipien, Vergleiche und Metaphern, oft auch Namen, Titel und Toponyme füllen Satz für Satz und Seite für Seite. Wie gerne würde man die Augen schließen, um sich beispielweise das von Wackwitz beschriebene Cover einer Platte von Frank Sinatra vorzustellen: „Als schlanker junger Mann, strahlend, in einem braunen, wundervoll geschnittenen Anzug, goldene Knöpfe an seinen perfekten Manschetten, steht Sinatra, bis zur Taille sichtbar, auf dem Cover seiner berühmtesten und bedeutendsten Platte, den Hut naturgemäß schief auf dem Kopf, unter einem vollkommen blauen, unendlich tiefen Himmel und zeigt mit dem Daumen auf eine hinter ihm wartende schneeweiße Cessna.“

In der folgenden Kostprobe schildert der Autor das Entsetzen seines zweijährigen Sohnes: „Mein sonst unaufhörlich von Ideen, Wünschen, Fragen und Bewegungsdrang umgetriebener Junge wurde plötzlich sehr still, wollte auf meinen Arm und legte den Kopf in meine Halsbeuge, während er die aufgerissenen Augen nicht abwenden konnte von dem grauen, in seiner entsetzlichen Größe daliegenden Tier (ich beeilte mich, aus dem Saal hinauszukommen).“

Emotionen sprudeln aus diesen Beschreibungen: Mal glaubt man in der Menge zu sein, die der Musiklegende Sinatra zujubelt, mal empfindet man die Angst des Zweijährigen auf das Eindringlichste nach. Gleich einem Maler, der mit Strichen und Farbschichten den Zuschauer ans Gemälde fesselt, beherrscht Wackwitz mit seinem Stil den Lesenden. Dass seine Art zu schreiben mit bildender Kunst zu tun hat, verrät der Autor selbst: „Überhaupt aber sind Formulierungen, Erwägungen, Begründungen, Geschichten, das Strömen der Prosa, der Aufbau eines Gedankengebäudes, einer Argumentation, einer Tröstung, einer Erbauung für mich seit dem frühen Scheitern meiner Karriere als bildender Künstler das Ausdrucksmedium der großväterlichen und väterlichen Welt.“

Einerseits wird durch viele Beschreibungen das Erzähltempo entschleunigt, und man stellt sich auf ein langsames genussvolles Lesen ein, andererseits strengen die vielen Namen, Titel und Toponyme, mit denen man nicht immer auf Anhieb viel anfangen kann, so sehr an, dass sich eine Diskrepanz im Lesefluss auftut. Als hätte der Autor dies vorhergesehen, fängt er seinen Leser mit heiteren, humorvollen, manchmal ironischen Bemerkungen auf oder „weckt“ ihn mit persönlichen, oft sehr privaten Episoden. Mal ist er ein dozierender Alleswisser, mal ein liebenswürdiger Enkel eines evangelischen Pfarrers. Die Ausflüge in die Familiengeschichte, das Plaudern aus dem Nähkästchen der Liebesbeziehungen, das Rekurrieren auf Dutzende Filme, Gemälde, Bücher gehören ebenso dazu wie aufmerksame Beobachtungen, treffende Schilderungen und pointierte Aussagen über Kunst, Geschichte und Politik.

Obwohl der Verlag bei der Vermarktung dieses Buches sehr explizit die Tätigkeit von Herrn Wackwitz als Programmleiter des Goethe-Instituts in den Vordergrund rückte, band sich der Autor nicht an die Erwartung, über diese ehrenwürdige Kulturinstitution, die deutschsprachige Literatur und Kultur an Amerikaner heranbringt, ausführlich zu schreiben, und begrenzte dies auf lediglich eine Seite. Gewiss könnte Wackwitz ein ganzes Buch darüber vorlegen. Man kann sicher sein, dass noch viele Bücher von Wackwitz folgen werden, denn als Leser spürt man seine Leichtigkeit des Schreibens und Freude des Formulierens. Zwar sind seine anspruchsvollen und ambitionierten Texte nicht immer ein Spaziergang, aber ein ästhetischer Lesegenuss sind sie allemal.

Titelbild

Stephan Wackwitz: Fifth Avenue. Spaziergänge durch das letzte Jahrhundert.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010.
266 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783100910592

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