Von den Möglichkeiten des unmöglichen Sprechens

Ein von Sabine Schneider herausgegebener Sammelband lotet „Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts“ aus

Von Ines SchubertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Schubert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sprachlosigkeit und Unsagbarkeit in der Literatur des 20. Jahrhunderts – dieses Thema ruft sofort die üblichen Verdächtigen auf den Plan: den Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals, das wohl bekannteste literarische Zeugnis für die Sprachkrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und Theodor W. Adornos berühmten wie folgenreichen letzten Satz des Essays „Kulturkritik und Gesellschaft“, demzufolge es nach Auschwitz unmöglich sei, Gedichte zu schreiben.

Am Anfang war also Lord Chandos, dem „völlig die Fähigkeit abhanden gekommen (ist), über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“. Dass sich in der Tradition Hofmannsthals und in der Auseinandersetzung mit dem Unsagbarkeits-Topos Adornos eine Vielzahl sprachkritischer und sprachskeptischer Positionen ausgebildet haben, dass sich die Denkfigur des Unsagbaren in der Literatur des letzten Jahrhunderts zu einer regelrechten intellektuellen Obsession entwickelt hat, davon zeugt der Sammelband „Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts.“

Es sind sehr lesenswerte und vielsagende Beiträge zur Unsagbarkeit in der Literatur, die die Herausgeberin Sabine Schneider in loser Chronologie versammelt hat. Ihre literarischen Gegenstände reichen von der Wiener und der Klassischen Moderne zur Postmoderne und schließlich bis in die Gegenwartsliteratur hinein. Weil der Bereich, der jeweils als ,unsagbar‘ gekennzeichnet wird, ganz unterschiedlich besetzt sein kann, bemüht sich der Sammelband erfolgreich, die vielfältigen Perspektiven des umstrittenen Feldes abzubilden. Neben der Inkommensurabilität der inneren Welt oder der Medienkonkurrenz von Sprache und Bild sind es im 20. Jahrhundert aber vor allem die Schrecken und Traumata totalitärer Gewalt, die die Autorinnen und Autoren zur kritischen Verhandlung mit den Grenzen des sprachlich Darstellbaren – im Sinne der Grenzen des Mitteilbaren wie des Zulässigen – gezwungen haben.

Daraus ergibt sich auch die asymmetrische Teilung des Bandes, der sich im ersten Teil der sprachreflexiven Moderne, namentlich Arthur Schnitzler, Robert Musil und Frank Kafka, widmet. Weitaus umfassender werden diejenigen Texte behandelt, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und in denen sich – wie die einzelnen Beiträge plausibel darstellen – die bereits zu Beginn des Jahrhunderts virulenten Aspekte und Paradoxien der Unsagbarkeit verschärfen. Die Einzelanalysen gelten Anna Seghers, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Jean Améry, Ernst Jandl, Josef Winkler und Anne Duden.

Während das plötzliche Verstummen des Lord Chandos und das Diktum Adornos, das zunächst oftmals verkürzt als Verbot der Kunst nach Auschwitz rezipiert wurde, die Grenzen des Sagbaren in der Literatur ziehen, unternimmt der Sammelband dies weniger stark, als es sein Titel vermuten lässt. Vielmehr präsentiert er überzeugend die Suche der Autorinnen und Autoren im 20. Jahrhundert nach einer neuen, entgrenzten, das Schweigen sowie das Unsagbare einschließenden Sprache.

Titelbild

Sabine Schneider (Hg.): Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010.
208 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826040849

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