Sobald du stehen bleibst, bist du tot!

In seinem Roman „Jetzt wirds ernst“ erzählt Robert Seethaler, wie ein etwas abgedrehter Sonderling zum Theater findet

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wer am lautesten brüllt, wer am wildesten auf seiner Brust herumtrampelt, wer sich möglichst ungeniert im eigenen Dreck wälzt, dem gehört die Welt“. Eine Tatsache, die dem Protagonisten in Robert Seethalers Roman „Jetzt wirds ernst“ bewusst wird, nachdem er „die Pubertät einigermaßen unbeschadet überstanden“ hat. Er merkt, dass es immer um dasselbe geht: „Um Kraft, Macht und Potenz“; kann aber einer Welt, in der nur zählt, wer „ein dickes Auto“ fährt und im mindesten „die Filiale eines mittelständischen Unternehmens“ leitet, nicht wirklich etwas abgewinnen. Der ganze materialistische Firlefanz bedeutet ihm nichts. Ihn beeindrucken höchstens Mädchen.

Sechs Jahre ist er alt, als ihm die in etwa gleichaltrige Trixi „eine große Schleife um [den] Pimmel“ bindet und eine nicht mehr zu löschende Sehnsucht in ihm entzündet, die Jahre später mit „dem Chevrolet-Mädchen“ Lotte eine neue Dimension erreicht. Ihr gelingt es nämlich „in einer einzigen Zehnuhrpause [sein] Herz zu Brei“ zu schlagen; was zur Folge hat, dass der aus der Ich-Perspektive berichtende und den ganzen Roman über namenlos bleibende Held der Theatergruppe beitritt, die für das bevorstehende Schuljubiläum Anton Tschechows „Möwe“ probt.

Theater ist ziemliches Neuland für ihn. Außer, dass er als kleiner Junge einmal zum Störenfried einer Kasperltheateraufführung avanciert, indem er auf die Bühne klettert und den ihm unsympathischen Kasperl beseitigt, sind keine einschlägigen Erfahrungen da, weshalb er im ersten Moment sogar glaubt, „Die Möwe“ von Anton Tschechow sei ein Tierbuch.

Übermäßig theaterkompatibel scheint auch sein Naturell nicht zu sein, denn bis auf wenige Ausnahmen nimmt man ihn als schüchternen, zurückhaltenden Einzelgänger wahr. Als Kind hasst er es sogar, „angesehen […] zu werden“, ja kann er „alles, was Licht auf“ ihn wirft – „Kerzen, Lampen, Kronleuchter, Scheinwerfer“ – nicht leiden, sodass er lieber „zusammengerollt in einer Ecke“ liegt oder draußen im Freien im Gebüsch sitzt, das ihm als „ganz privater Schutzraum“ dient.

Der Begeisterung für das Theater nicht allzu förderlich erweist sich auch das gesellschaftliche Umfeld, in dem er groß wird. Die Eltern betreiben einen kleinen Frisörsalon; und sonst ist da nicht viel: „Ein paar Bauernhöfe. Ein paar Fabriken. Dörfer. Reihenhaussiedlungen. Einkaufszentren. Hochspannungsmasten. Wege. Straßen. Autobahnen.“

Mit mehr ist „am räumlichen und geistigen Rande des Landes, fern von allen Verkehrsknotenpunkten, Entwicklungsflächen oder Naturschutzgebieten“ auch kaum zu rechnen. Dennoch ist dieses Städtchen, in dem der Held des Romans Kindheit und Jugend verbringt, „nicht völlig kulturlos“. Bloß geht „eine funktionierende Müllabfuhr […]ein paar überbezahlten Clowns“ eindeutig vor.

Mit dem Begriff ‚kulturelle Höhepunkte‘ identifiziert man daher eher „Veranstaltungen in der Volkshochschule [oder] das jährliche Sommerfest, ein politisch legitimiertes Massenbesäufnis mit bunten Volksmusikgruppen und glitzernden Schlagersängern“. Es gibt aber auch noch Autorenlesungen, ein Seniorentanzfestival und die Premieren des von Irina und Janos Podgarcek vor 25 Jahren in den „Räumlichkeiten eines ehemaligen Kartoffellagers [gegründeten] Theaters im Kellerloch“. Dort landet schließlich der Held des Romans, nachdem er ein paar Dinge probiert und die eine oder andere Erfahrung dabei gemacht hat. Dass er sich bei allem ein wenig verschätzt, liegt daran, dass eben der erste Versuch schon das Leben selber ist. So führen ihn seine Gefühle und seine Einschätzung von Situationen sowohl in Liebesangelegenheiten wie in beruflicher Hinsicht etwas in die Irre.

Dass Lotte lieber mit seinem Blutsbruder Max statt mit ihm „eng umschlungen auf der Bank“ sitzt, kann er schließlich nur mit Hilfe einer Flasche giftig blauen Likörs verwinden. Andererseits hat er Mühe, den Avancen der dicken Tinka zu entkommen, die es im Turnsaal einmal sogar schafft, sich mit ihren „kleinen spitzen Zähnen“ in seinem Hintern zu verbeißen und so sein Image „als Sonderling mit Hang zur Geistesstörung“ weiter auszubauen.

Auch sein Versuch, Friseur zu werden, steht unter keinem guten Stern. Erstens weiß er von vornherein, dass ihn dieser Beruf nicht „sonderlich interessiert“; und zweitens vermag er das „an einem mit verschiedenen taiwanesischen Echthaarperücken bestückten Styroporkopf“ Eingeübte in der Praxis nicht umzusetzen.

Schuld daran ist Shakespeare, den er entdeckt, während er sich fünf Mal pro Woche nach Feierabend bei Pfefferminztee in „der Weinstube zum Heiligen Ernst“ via Reclambändchen durch „die komplette Theatergeschichte“ liest. „Schon nach etwa fünf Seiten“ weiß er, dass „dieser Shakespeare […] der Beste“ ist; eine Erkenntnis, die nicht folgenlos bleibt, verwandelt er doch wenig später beim ersten richtigen Haareschneiden (weil er dabei ständig „an König Richards Haupt“ denken muss) den Kopf „der mit Abstand ältesten Stammkundin des Salons“ statt in eine schicke Frisurenlandschaft in „ein von Heuschrecken zerfressenes Kornfeld“, was wüste Beschimpfungen seiner Person nach sich zieht.

So schnell er mangels Alternativen und einer gewissen Bequemlichkeit folgend nach dem Schulabbruch die Friseurlaufbahn einschlägt, so schnell verabschiedet er sich von ihr wieder und gibt bekannt: „Ich will Schauspieler werden!“ Gleich beim Vorsprechen im „Theater im Kellerloch“ ruiniert er, weil er einen Stapel Sperrholzplatten übersieht, der ihn unter sich begräbt, zwar das aktuelle Bühnebild, wird aber engagiert. Für einen Hungerlohn muss er „putzen, schrubben, schrauben, Karten abreißen, kaputte Bühnenbilder reparieren und so weiter“, erhält dafür jedoch „viermal die Woche“ Schauspielunterricht. Er übt „jede freie Minute“, lernt fechten, arbeitet an „Monologen und Szenen“, macht „Stimmtraining“ und versucht, um nicht „wie ein lungenkranker Esel“ zu klingen, seine Atem- und Sprechtechnik zu verfeinern; schließlich sehnt er sich „mit jedem einzelnen Faser seines Daseins [danach], eines Tages selbst im hellen, warmen Scheinwerferlicht zu stehen“.

Als es dann endlich so weit ist, galoppiert nicht nur sein Herz, es ist ihm auch noch „kotzübel“. Nach dem zweiten Satz öffnet sich allerdings „eine Luke“ in seinem Kopf, durch die sich das gesamte Lampenfieber verflüchtigt.

„Der Start einer großen Karriere“ ist damit natürlich noch nicht getan; das Ergattern einer Minirolle in einer Romanze fürs Fernsehen, die vor Ort gedreht und im Samstagabendprogramm ausgestrahlt wird, macht es aber immerhin möglich, dass sich auf einmal Mädchen für ihn interessieren, die ihn „bislang höchstens als zweibeinige Kuriosität“ gesehen haben. Doch anstatt aus seinem „auf dem Markt der Zwischenmenschlichkeit“ gestiegenen Wert Kapital zu schlagen, schaut er „wie ein halbstarker Löwe, […] ausgehungert und dumm […] und mit sabbernden Lefzen“ bloß hinterher, bis „ein dünnes Mädchen mit stoppelkurzen, strohblond gefärbten Haaren“, das es auf eine der Schauspielschulen in den großen Städten schaffen will, sich seiner erbarmt. So darf er neben der ersten Liebe, der ersten eigenen Wohnung und dem ersten Engagement auch noch den ersten Sex auf der Habenseite wichtiger Ersterfahrungen verbuchen.

Auf dieser Liste findet sich aber auch viel weniger Erfreuliches, wie der Verlust der Mutter oder Situationen, in die er durch Unvernunft und Leichtsinn gerät. Hier wäre die unkonventionelle Besiegelung einer Blutsbruderschaft oder der Selbstversuch mit einer „Menge bunter Pillen“, die den Boden unter seinen Füßen in einen „gewaltigen Lavastrom“ verwandeln und ihn „mit Blaulicht ins städtische Krankenhaus“ bringen, genauso zu nennen wie das Ausschlafen eines Rausches auf einer „nach Fäulnis und Urin“ stinkenden Matratze in einer Bretterbude und das Ohnmächtigwerden während eines Auftritts.

Wie ein Jugendlicher zur Schauspielerei findet, ist Hauptstrang dieser Geschichte, die alleine deshalb beeindruckt, weil sie sich nicht nur im geistreichen Gedanken, das Theater sei dazu da, „Märchen zu erzählen und dabei Wahrheiten zu übermitteln“, wunderbar spiegelt, sondern weil sich in ihr, gemäß dem Motto, dass man „als Schauspieler nicht aufhören [darf] weiterzugehen, denn: „Sobald du stehen bleibst, bist du tot!“, ständig etwas bewegt; und wenn es nur der Schimmel ist, der in den Ecken seiner Einzimmerwohnung wuchert.

Manches, von dem die insgesamt 43 Kapitel berichten, die so aussagekräftige Überschriften tragen wie: „Von Dämmerträumen und Arschbissen“, „Als die Leute fast etwas kapiert hatten“, „Ein Satz ist besser als keiner“ oder „Es knistert unter dem Hemd und brennt in der Hose“, ist traurig, vieles komisch, aber so gut wie alles von einer gefühlvollen Anteilnahme geprägt, die mittels Einfallsreichtum und Sprachkreativität einen richtig guten Eindruck zu hinterlassen vermag, sodass man kaum noch umhin kann, diesen Roman als großes Lesevergnügen zu bezeichnen.

Titelbild

Robert Seethaler: Jetzt wirds ernst. Roman.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2010.
304 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783036955742

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