Das Werk als privilegierter Kontext seiner selbst

Steffen Martus’ Buch „Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert“ präsentiert Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George

Von Ulrich KrellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Krellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Worauf lassen sich Menschen ein, die unter allen anderen denkbaren Berufen gerade denjenigen des Schriftstellers ergreifen? Und was tun Menschen, die unter allen anderen möglichen Tätigkeiten gerade die wählen, sich mit den Erzeugnissen von Schriftstellern zu beschäftigen? Fragen wie diesen versucht die Habilitationsschrift von Steffen Martus unter dem programmatischen Begriff „Werkpolitik“ in historischer Perspektive nachzugehen. Herausgekommen ist dabei ein Buch, das auf über 700 Seiten, gespickt mit 2.662 Anmerkungen und ergänzt von einem 77-seitigem Literaturverzeichnis mit weit über 1.000 Titeln, ein Maximum an Fleiß mit stilsicher formulierender Gelehrsamkeit zu verbinden weiß.

Der Umfang der Arbeit und die Akribie, mit der die einzelnen Teile der Studie ausgearbeitet wurden, lassen es von vornherein aussichtslos erscheinen, die Differenziertheit der Argumentation hier auch nur annähernd nachzeichnen zu können. Um so mehr verdient hervorgehoben zu werden, dass die Zentralgedanken des Verfassers über alle Unterkapitel hinweg klar erkennbar bleiben. Es geht um eine im 17. Jahrhundert aufgekommene und seit der Aufklärung voll ausgebildete literarisch-kritische Kultur der „selektionslosen Aufmerksamkeit“, die noch den ephemersten Texten von Schriftstellern Bedeutung zuschreibt, sowie um die „die Bewältigungsstrategien von Autoren für eine solche Beobachtungslage“.

Im Einleitungskapitel erläutert der Verfasser zunächst seine Privilegierung von „Textumgangsformen, die von einem mehr oder weniger emphatischen Werkkonzept ausgehen“. Anknüpfungspunkt ist das von Heinrich Bosse eingeführte Konzept der „Werkherrschaft“, das Martus durch den anschlussfähigeren Begriff „Werkpolitik“ zu ersetzen sucht, nicht zuletzt weil sich seiner Ansicht nach „die Rollen von Lesern und Autoren nicht trennscharf auseinander [halten lassen]“. Im gleichen Zug folgt ein Durchgang durch die Werktheorien seit der Begründung der Autonomieästhetik in der Weimarer Klassik und deren Fortwirken bis zur werkimmanenten Interpretation der 1950er-Jahre. Anschließend kommt Martus auf semiotische (Umberto Eco), dekonstruktivistische (Jacques Derrida), diskursanalytische (Michel Foucault) und literatursoziologische (Pierre Bourdieu) Werkmodelle zu sprechen, um schließlich für eine „methodenpluralistische Herangehensweise“ zu plädieren, die sich bei genauerem Hinsehen als gemäßigt systemtheoretische darstellt.

Die Kapitel zwei und drei widmen sich der Herleitung einer Geschichte literarischer Kommunikation, in deren Verlauf die immer selbstverständlicher auch als Kritiker ihrer Kollegen agierenden Autoren vom Prinzip „Mache es besser!“ abrücken und einer mehr tadelnden als lobenden Kritik Raum geben, die seit der Aufklärung schließlich zur dauerhaften „Etablierung von Negativität im literarischen Diskurs“ führt. Paradebeispiel dafür ist der zwischen Bodmer, Breitinger und Gottsched ausgetragene „Literaturstreit“, dessen Leitvorstellungen von kritischer Pädagogik, Temporalisierung und biografischer Kontextualisierung auch die (kursorisch präsentierten) Kritikerlaufbahnen von Nicolai, Lessing und Wieland kennzeichnet.

Als erstes ausführliches Beispiel für eine „Werkpolitik“ unter den Bedingungen etablierter Negativität thematisiert Martus im vierten Kapitel Klopstock. Untersucht wird in erster Linie der „Messias“; ein Werk, das in Produktion wie Rezeption einen bis dato ungewöhnlichen „Zeitbedarf“ beansprucht, der es – so Martus – gegen Kritik immunisiere. Der Inhaltsstruktur nach sei der „Messias“ auf eine „ästhetische Theodizee“ gegründet, die als Beglaubigungsstrategie Klopstocks erläutert wird, dem es gelungen sei, das zeitgenössische Publikum darüber zu verwirren, ob er mit seinem Werk als „der Mittler des Mittlers, also sein Jünger, oder der Mittler selbst“ auftrete. Flankiert werde Klopstocks „christologische Dimensionierung seiner Autorschaft“ von „messianischem Schweigen“, mit dem er Kritik von seinem Werk abzuwehren suche.

Entsprechend der Doppelperspektive der Untersuchung kehrt Martus im fünften Kapitel die Betrachtungsweise von der Produktionsästhetik des Klopstock’schen Werkes hin zu dessen Rezeption um. Im Fokus steht zunächst Johann Heinrich Voss, dessen in der Nahkommunikation des persönlichen Umgangs im Hainbund gründende öffentliche Parteinahme für Klopstock sich über metrischen Differenzen schließlich ins Gegenteil verkehrte. Weitaus konstruktiver vermochte hingegen der (bislang in seiner Bedeutung unterschätzte) Klopstock-Intimus Carl Friedrich Cramer die Aporien kritischer Kommunikation aufzulösen. Martus zeigt, dass Cramer sich dabei auf ein „protophilologisches“ Vorgehen stützt, das für die Etablierung der germanistischen „Leitgenres“ Monografie, Edition und Kommentar richtungsweisend werden würde: „Der Autor wird biographisch verzeitlicht, der Text wird durch Varianten verzeitlicht, und das Gesamtwerk wird durch die Abbildung auf ein Leben verzeitlicht“. In der zweiten Hälfte des Kapitels verfolgt der Verfasser den Prozess dieser Philologisierung der Kritik weiter bis zur den „Werkpolitiken“ von Tieck und Goethe.

Tieck erscheint dabei als Exponent einer „romantischen Poetisierung der Kritik“, die sich auf die werk- und rezeptionsästhetisch bedeutsame Kategorie der „Stimmung“ stützt. „Der Leser muß sich auf das stimmungsvolle Werk einlassen und wiederholte Lektürearbeit investieren.“ Für die Seite des Literaturproduzenten gelte: „Das stimmungsvolle Werk vertritt eigensinnig nichts weiter als sich selbst und wird gerade dadurch zum Attraktionspunkt für ein ausschweifendes Interesse.“

Einen Höhepunkt für das Konzept der „Werkpolitik“ markiert die Beschäftigung mit Goethe als einem Autor, dem es gelang, „ein Gesamtwerk zu schaffen, das die kritische Kommunikation transzendiert und eine selektionslose Aufmerksamkeit provoziert, wie sie insbesondere die Philologie entfaltet“. Allerdings wird Goethes Leistung als „Virtuose des Gesamtwerks“ nur anhand weniger Beispiele erläutert. Ausgeklammert bleiben der „Stellenwert der naturwissenschaftlichen Schriften“, „Goethes Überlegungen zur bildenden Kunst oder zur Musik […] und auch die im eigentlichen Sinn politische Tätigkeit Goethes“ sowie „die Werkfunktion, die fremde Schriften im Rahmen der eigenen Werke übernehmen“. Der Verzicht auf eine genauere Erörterung des wohl bedeutendsten ‚Werkpolitikers‘ ist zwar bedauerlich, bedeutet jedoch keine eigentliche Schwächung von Martus’ Argumentation, weil sich alle genannten Aspekte ins Konzept der „Werkpolitik“ integrieren ließen und so die Befunde des Verfassers weiter differenzieren könnten.

Die nur knappe Abhandlung der Goethe’schen Schriften hat ihren Grund im Bestreben, die Untersuchung möglichst dicht an die Gegenwart aktueller „Werkpolitik“ heranzuführen. Martus erörtert deshalb im sechsten und letzten Kapitel auf etwa 200 Seiten die Schriftstellerlaufbahn Stefan Georges als eine „Form von Werkpolitik unter Bedingungen der Moderne“. Im mehrfachen Rekurs auf das Gedicht „Weihe“ als dem „Initialgedicht“ von Georges Werk rekonstruiert der Verfasser unter Einbeziehung vieler ungedruckter Quellen den auf die „Gesamt-Ausgabe“ zulaufenden Weg eines Autors, der sich „erfolgreich der literaturkritischen Beobachtung entzieht und sich der philologischen und literaturwissenschaftlichen Beobachtung aussetzt.“

Steffen Martus ist mit seiner Habilitationsschrift etwas Erstaunliches gelungen: er hat in begrifflich einprägsamer Weise ein Konzept herausgeschält, das über alle Gattungs- und Epochengrenzen hinweg ein zentrales Moment literarischer Wirklichkeit und Wirksamkeit umreißt und bei klar erkennbarem philologisch-hermeneutischem Zuschnitt in vielerlei Hinsicht methodisch anschlussfähig bleibt. Die Stringenz der Arbeit belegt nicht zuletzt ihr Darstellungsmodus, der auf frappierende Weise dem Programm entspricht, das die Studie inhaltlich entwirft. Mit einer Vielzahl von Prolepsen auf spätere Interpretationsschritte, Synopsen ihrer Ergebnisse und einem extrem dichten Netz von textinternen Verweisen bedient die Arbeit nämlich nicht allein Ansprüche an eine Leserfreundlichkeit, sondern sie betreibt selbst „Werkpolitik“ im Sinne der mehrfach herausgestellten Maxime, „das Werk zum privilegierten Kontext seiner selbst zu machen“.

Literatur ist im Verständnis des Verfassers deshalb auch nicht lediglich „Gegenstand der Philologie, sondern sie ist deren Pendant“. Dieser Überzeugung trägt die rein alphabetische Gliederung des Literaturverzeichnisses Rechnung, insofern sie den Unterschied von Primär- und Sekundärliteratur einebnet und so jene „selektionslose Aufmerksamkeit“ einfordert, deren historischer Herausbildung sich die Studie inhaltlich widmet. Der Anspruch, der mit dieser spiegelbildlich verfahrenden literarisch-philologischen Konstellation verbunden ist, kann kein Geringer sein. „Der Autor – verstanden als eine Stellvertreterfigur es Subjekts – ist nicht selbständig, sondern gelangt immer auf Umwegen, nie allein durch sich selbst zur Sprache. Seine Aufgabe kann allenfalls darin bestehen, die Abhängigkeit […] erfolgreich zu verschleiern oder auf eine Weise offenzulegen, die ihn als souveränen Verwalter des literarischen Erbes erscheinen läßt.“

Als ein solcher „souveräner Verwalter des literarischen Erbes“ agiert auch Steffen Martus, wenn er die Literatur seit der Barockzeit als selektionsloses Spiegel-Spiel von innovationsgetriebener Produktion und Rezeption beschreibt. Kann man sich nicht – wie Woody Allen in seiner Wissenschaftssatire über die „lang erwartete“ Edition der „Wäschelisten“ eines erfundenen Autors „Metterling“, mit deren Interpretation die Arbeit von Martus einsetzt – über so viel Selbstgenügsamkeit lustig machen, so wird man die Leistung dieser profunden Studie ungeschmälert loben dürfen.

Titelbild

Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. Bis zum 20. Jahrhundert.
De Gruyter, Berlin 2007.
787 Seiten, 118,00 EUR.
ISBN-13: 9783110192711

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