Der Lyrikwart als Alleskönner

Robert Gernhardts Texte zur Poetik demonstrieren, wie Dichtung als Sprachkunst funktioniert

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Robert Gernhardt ein großartiger Verfasser komischer Texte und Satiren war, weiß man schon lange. Auch als scharfsinniger Theoretiker komischer Kunstformen war Gernhardt spätestens seit seinem erstmals 1988 erschienen Band „Was gibt’s denn da zu lachen. Kritik der Komiker, Kritik der Kritiker, Kritik der Komik“ berühmt. Als Dichter und sprachartistischer Produzent ernster Lyrik wurde der Mitstreiter der Neuen Frankfurter Schule im Laufe der 1990er-Jahre vom Feuilleton zunehmend anerkannt und kanonisiert; und wie üblich langsamer auch von der Literaturwissenschaft. Der Büchner-Preis als weithin sichtbarer Ritterschlag des Literaturbetriebs wurde ihm nie zuerkannt. Doch erhielt er 1987 den Deutschen Kritikerpreis und seither neben zahlreichen Kleinkunst- und Komiker-Auszeichnungen auch die Ehrungen mit dem Bertolt-Brecht- und dem Heinrich-Heine-Preis.

Als weiteren, fraglos gewichtigen Baustein am Denkmal dieses handwerklich meisterhaften, komisch-ernsten Bild- und Sprach-Gesamtkünstlers kann man nun seine Poetik-Vorlesungen nachlesen. Sie waren bisher nur teilweise publiziert, auszugsweise etwa als Hörbuch. Gernhardt hielt sieben unterschiedliche Poetik-Vorlesungen an den Universitäten Frankfurt, Essen und Düsseldorf in den Jahren 2001 bis 2006. Im ehrwürdigen S. Fischer Verlag, der seit einigen Jahren die Gedicht-, Satiren- und Erzählbände Gernhardts in Taschenbuchausgaben verfügbar hält, haben nun Lutz Hagestedt und Johannes Möller Gernhardts dichtungstheoretische Schriften in einem dicken, schön gebundenen Buch zusammen mit seinen wichtigsten lyriktheoretischen und analytischen Texten zu einzelnen Gedichten und Lyrikern ediert. Das kenntnisreiche Nachwort der Editoren ist ebenso hilfreich wie ihre editorische Rechenschaft über die Auswahl der hier vorgelegten (und eben auch: weggelassenen, weil anderswo greifbaren) Texte zum Gedicht aus Gernhardts Werkstatt. Die solide äußere Erscheinungsform dieser auch inhaltlich höchst seriösen poetologischen Überlegungen bedeutet mehr als nur eine beliebige Verpackungsfrage. War Gernhardt doch lange Jahre als Zweitausendeins- und Haffmans-Autor, als Beiträger für „Titanic“ und „Pardon“ oder als Texter für Otto Waalkes ein Schriftsteller, dem man im Rahmen verbrauchsorientierter Paperback-Publikationen mit begrenztem Haltbarkeitsdatum begegnete. Erfreulich, schön und angemessen ist es mithin, seine wohlbedachten, blitzgescheiten und gründlich ausgearbeiteten Vorlesungen und Studien zu Dichtern und Dichtungen nun in einer feinen, haltbaren Ausgabe zu lesen, wie sie einem Klassiker gebührt.

Die erste Vorlesung bestimmt, grundlegend wie es sich gehört, den Gegenstand. Nach einem Überblick über einige defizitäre historische Definitionsversuche der Gattung Lyrik schließt sich Gernhardt Karl Otto Conradys Gebietsbestimmung an: „Zur Lyrik gehören alle Gedichte, und Gedichte sind sprachliche Äußerungen in einer speziellen Schreibweise. Sie unterschieden sich durch besondere Anordnung der Schriftzeichen von anderen Schreibweisen, und zwar durch die Abteilung in Verse […]. Der Reim ist für die Lyrik kein entscheidendes Merkmal.“ Zu Potenz und Status dieser Schreibweise bemerkt der gebildete Lyrikkenner und Lyrikkönner Gernhardt: „Das Gedicht kann alles, behaupte ich, zugleich aber muß ich fortwährend verbuchen, daß der Dichter heutzutage wenig wenn nicht gar nichts gilt.“ Als argumentationsstarke Widerrede gegen diesen Geltungsverlust kann man diesen Poetik-Band verstehen. Mit Peter Rühmkorf verortet er den Beginn der Lyrik im ersten kindlichen Wort ‚Mama’, das aus den ebenfalls repetitiven Schmatzlauten der saugenden Babymünder hervorgeht. Über Kinderreime, Merkverse und Kollektivdichtungen gelangt Gernhardt in seiner ersten Poetikvorlesung, die er als gereifter 63-Jähriger bestreitet, zum biografisch-bibliografischen Rückblick auf seine ersten Gedichtpublikationen.

Diese entstanden im Verbund mit F. W. Bernstein. Die beiden hatten in Stuttgart und Berlin zusammen Kunst studiert, sich als komische Zeichner etabliert und dann begonnen, gemeinsam sprachspielerisch tätig zu werden. In den 1990er-Jahren wurde Matthias Politycki für Gernhardt zum Sprachartisten-Partner, mit dem gelegentlich Gedichtanfänge zur wechselseitigen Weiterdichtung getauscht wurden. Das Gemeinschaftliche des Gedichts hebt Gernhardt hervor, wenn er in seinem mit ‚Clubraum‘ überschriebenen Abschnitt beim Rundgang durch das Haus der Dichter auf die Goethe-Schiller Koproduktion der Xenien verweist. Sowohl das Zünftig-Handwerklich-Regelhafte wird durch den Einstieg mit den Teamwork-Dichtungen betont als auch das gemeinschaftsstiftende Unterhaltsame verdichteter Sprache. Dem weithin lyrikabstinenten Publikum wird das Lyrikmachen, Lyrikhören und Lyriklesen so als eine gesellige Veranstaltung schmackhaft gemacht.

‚Die mit dem Hammer dichten‘ ist die zweite Vorlesung schlagfertig überschrieben. Sie mustert politische Gedichte, umkreist jedoch vor allem einprägsame Verse, die sich wie Friedrich Hölderlins „Was bleibet aber, stiften die Dichter“, durch die Zeiten hindurch immer wieder als Zitat oder Variante aufdrängen. Gernhardt war als Lyriker ein Virtuose der Aufnahme solcher Hammerverse seiner Vorgänger, die er kunstvoll in seine Gedichte einbaute – und auf sie antwortete. Lyrik betrachtet er mithin als Lesesaal und Hallraum. Einprägsame, langlebige Verse zu erfinden, „Lyrik-Hammer‘ oder ‚Lyrik-Hits‘ zu schmieden sei die Herausforderung und Qualitätsprobe für Dichter. Gedichte sollen kurz und bündig sein, wodurch sie die Kommunikation beschleunigen. Was ‚bündig‘ meint, expliziert Gernhardt mit Verweis auf die handwerklichen, bastelnden Aspekte des Gedichte-Machens. Als Poetologe und Lyrikkritiker orientiert sich Gernhardt dabei an vier nachvollziehbaren Qualitätskriterien: ein gelungenes Gedicht müsse „gut gefühlt / gut gefügt / gut gedacht / gut gemacht“ sein. Überlieferte oder neuerfundene Formen, Spielregeln und Metren sind für Gernhardt, wie schon für Charles Baudelaire oder Paul Valéry, keineswegs Fesseln, die eine formlos schweifende Originalität beschränken. Diese formalen Anforderungen ans Denken und Schreiben werden vielmehr als Kreativitätsermöglicher begrüßt. ‚Ordnung muss sein‘, lautet der dritte Vorlesungstitel und überträgt das Werkstattideal des traditionellen Handwerks in die moderne Dichterstube.

,Leben im Labor‘ ist die vierte Vorlesung überschrieben. Sie widmet sich dem anschaulichen Nachweis, dass der Reim als Formelement weder passé sei (wie manch moderner Lyriker zu glauben scheint), noch eindeutig als komisches Stilelement gelten könne. Auch der Reim kann, je nach Verwendungsweise, fast alles bewirken. Nicht nur Natur, Liebe und Tod sind für den Universalkünstler genuine Gedichtthemen. Auch die Großstadt oder jeder andere Raum sowie jedes – vermeintlich noch so unpoetische – Ding kann Anlass und Gegenstand eines Gedichts werden. Dies demonstriert Gernhardt, indem er in seiner Vorlesung die an Joseph von Eichendorff angelehnte Frage „Schläft ein Lied in allen Dingen?“ schlicht mit ‚ja‘ beantwortet. Und dies an vielen Beispielen, besonders aus der Waren- und Reklamewelt, nachweist.

Die Vorlesung ‚Was bleibt?‘ sichtet und wertet Anthologien mit Lyrik aus den 1950er-Jahren und ihre Bemühungen um den Wiedereintritt in die Moderne. Nicht wirklich überraschend ist der Befund, dass 50 Jahre nach Walter Höllerers Anthologie ‚Transit‘ ein Großteil der damals als „Marksteine auf Wegen, die weiter beschritten werden“, ausgewählten Dichter und Gedichte heute kaum mehr bekannt sind. Den gelegentlichen Wildwuchs an Metaphern sowie ungelenke Bildvermengungen in dieser Anthologie hatte schon der von Gernhardt stetig hochgeschätzte und regelmäßig als Autorität zitierte Peter Rühmkorf moniert in seiner Rezension 1958 (unter Pseudonym als Leslie Meier in „konkret“). Das „Groteske von der Stange, das Edle als Norm“, so Rühmkorf, markiere standardisierte Verfahren der 1950er-Modernisten. Der Fischer, insbesondere der im Wunschland Italien, ist ihr liebstes Motiv, wie Gernhardt an vielen kuriosen Gedichten belegt.

Nach dieser kritisch distanzierten Bestandaufnahme teilweise abgestandener 1950er-Jahre-Lyrik geht der Lyrikwart, als der sich Gernhardt in einigen Sammelrezenionen einst ironisch selbst titulierte, in seiner ‚Schmerz lass nach‘ überschriebenen Vorlesung dahin, wo es weh tut. Er ergänzt die vier traditionellen Großthemen der Lyrik – Natur und Kunst, Liebe und Tod – indem er eine persönliche Anthologie von Gedichten über Alter, Tod und Krankheit versammelt und kommentiert. Auch diesen Themen ist das Gedicht in ernsten oder komischen Tönen gewachsen. In seiner im angezeigten Band gleichfalls abgedruckten Besprechung von Zbigniew Herberts Spätestwerk „Gewitter Epilog“ untersucht Gernhardt unter der Überschrift „In Alltags Krallen“ erneut die lyrischen Reaktionen und Potentiale angesichts solcher Grenzerfahrungen.

Unser Poet und Poetologe hat in mehreren Aufsätzen und Vorlesungen die Bertolt Brecht’sche Unterscheidung einer pontifikalen, also ernsten, und einer profanen, mithin komikbereiten Linie des Dichtens aufgenommen und weitergedacht. Brecht sah in Johann Wolfgang von Goethe und implizit gewiss in sich selbst den letzten Dichter, der in beiden Tonlagen und Rollenbildern glänzte. Man darf Gernhardt als würdigen Erben dieser proteisch potenten Dichter betrachten, die pontifikale und profane Hammergedichte schufen. Gernhardt ergänzt und potenziert seine po-pro-Doppelbegabung durch seine gleichfalls zum Höhenkamm zählende poetologische Prosa.

Neben den sieben Vorlesungen, die gut 200 Seiten füllen, bildet und unterhält Gernhardts Poetologie-Hammer-Band mit gemischten Gelegenheitsschriften. Neben Joachim Ringelnatz und Christian Morgenstern, neben Bertolt Brecht und Gottfried Benn gilt seine vielleicht größte Bewunderung Peter Rühmkorf. Der verstand es, die Artistik Benns mit dem zeitkritischen, politischen Bewusstsein Brechts in kunstfertigen Gedichte zu vereinen. Rühmkorf wird von Gernhardt deswegen als Lehrer gerühmt und geehrt.

Sechzehnmal verfasste Gernhardt erhellende Gedichtinterpretationen für die von Marcel Reich-Ranicki herausgegebene „Frankfurter Anthologie“. In diesen erst in der „FAZ“, dann in Buchform gesammelten Kurzdeutungen klassischer oder auch vergessener Lyrik widmet sich Gernhardt komischen Reimern wie Christian Morgenstern oder dem famosen Trio Ludwig Rubiner / Friedrich Eisenlohr / Herbert August Livingston Hahn. Hier kommentierte er pointiert Brecht und Fritz W. Bernstein, aber auch Goethe („Wonne der Wehmut“), Marie Luise Kaschnitz, Peter Hacks und zweimal Erich Kästner. Seine ausführlichste poetologische Gelegenheitsarbeit ist eine gründliche Revision von Friedrich Schillers lyrischem Schaffen. Dieses gilt heute manchem als obsolet; Gernhardt würdigt es als Werk eines ‚Ideartisten‘. Er rekonstruiert und rechtfertigt Schillers Gedichte als die eines – wie Brecht – unter Ausdruckszwang stehenden Schreibers. Vom Vorwurf, gipsernen Klassizismus zu produzieren, wird der Weimarer Schwabe freigesprochen. Schillers Poesie biete allemal mehr und besseres als schlecht-idealistische Thesendrechslerei.

Doch kann Gernhardt auch als Lyrikrezensent herzhaft polemisch sein. Dies zeigt sich etwa, wenn er in einer Rezension des ersten Bandes von Friedrich Rückerts (sehr umfangreichem) dichterischem Nachlass die dürftigen lyrischen Qualitäten dieser oft läppischen Gelegenheitsdichtungen untersucht. Seine hohen Ansprüche an Logik, Sinn und Sprachkunst demonstrierte Gernhardt nicht nur an den Anthologien der meist längst verstorbenen Nachkriegsdichter. Auch die zeitgenössischen Lyriker der 1990er-Jahre bekamen ihr Fett weg, wenn der als ‚Lyrikwart‘ publizierende Gernhardt die Schwächen ihrer formlosen Ergüsse scharfsinnig und pointiert offenlegte. Schludrige Formen und schlechtes Denken wabern und stolpern häufig Hand in Hand durch die Gedichte seiner Zeitgenossen, wie Gernhardts Blütenlese demonstriert.

Zu Gernhardts aufschlussreichen Rückblicken auf die Nachkriegs-Lyrik und – Kultur, die Zeit seiner eigenen ästhetischen Sozialisation, zählt sein Essay „Den Benn alleine lesen. Eine 50er Jahre Reminiszenz“. Die Begeisterung für den Sprachartisten, der als Befreier vom Moral- und Gefühls-Schmock erlebt wurde, sichert ihm das künstlerische Nachleben: „da zappte sich einer bedenkenlos durch die Wallungswerte der Worte, das war trotz der dreißig Jahre, die seit der Erschaffung solcher Bilderfluchten vergangen waren, absolut modern, und ihr Schöpfer, der 1912 seine erste Gedichtsammlung ‚Morgue‘ veröffentlicht hatte, der 1919 mit 8 Gedichten in Kurt Pinthus legendärer Anthologie ‚Menschheitsdämmerung‘ vertreten gewesen war – dieser Benn war nicht nur einer der Dichterväter der Moderne, sondern nach wie vor ein moderner Dichter, auch in seinen späten Gedichten.“

Bei Robert Gernhardt, dem mit allen handwerklichen Wassern gewaschenen gelehrten Dichter, verhält es sich mit Ruhm, Rang und Nachleben vielleicht anders herum. Vom Ende her erstrahlen auch seine hellen, spielerisch satirischen, komisch-anarchischen früheren Werke in immer größerem Glanz. Gerade das lyrische Spätwerk ließ diesen Sprach- und Bildkünstler immer deutlicher als einen der wichtigsten und vielseitigsten Dichter der Jahrtausendwende kenntlich werden. Die Lyrik von „Lichte Gedichte“ bis „Später Spagat“ etablierten den Komik-Könner als einen Klassiker auch im ernsten Fach. Seine nun in schöner Ausgabe versammelten Texte zur Poetik verdeutlichen, dass solchem praktischen Machen-Können in heiteren wie düsteren Tonlagen eine gründliche und systematische Reflexion der poetischen Kunst zur Seite stand.

Keine andere Autorenpoetik der letzten Jahre dürfte so entschieden und luzide das Handwerk aus Vers- und Wortgenauigkeit gepredigt haben wie die Gernhardts. Das macht die – selbstredend auch lustige – Lektüre dieser pointensicheren Texte zur Poetik zum lehrreichen Vergnügen. Gernhardt, der Universalkünstler der Neuen Frankfurter Schule, gilt. Denn er erklärt uns (auf analytischere und fröhlichere Art als etwa Martin Heidegger) wie Dichten und Denken, wie Kunst und Können, wie Artistik und Arbeit zusammenhängen.

Titelbild

Robert Gernhardt: Was das Gedicht alles kann: Alles. Texte zur Poetik.
Herausgegeben von Lutz Hagestedt und Johannes Möller.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
602 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783100255044

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