Geniale Willkür

Alexander Kluges Betrachtungen über Kälte

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alexander Kluge hat die Künste und Medien vermischt, als ‚Intermedialität‘ noch ein Fremdwort war. Bis heute hat sich kein anderer Autor in Deutschland so lustvoll zwischen die Stühle gesetzt, die Grenzen von Wissenschaft und Kunst wie Literatur und Film so konsequent verwischt wie er, und keiner hat auf diesem Wege so viel Anerkennung eingeheimst, bis hin zum Büchner-Preis. Längst sendet Kluge eigene Programme im Fernsehen und unterhält eine Website, die zahlreiche seiner Hervorbringungen zugänglich macht, darunter manche der dreißig Denk- und Kontemplationsbilder, Interviews und Spielszenen, die auf vorliegender DVD „Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd“ aus der Filmedition des Suhrkamp Verlags zusammengeführt werden. Sie alle handeln von ‚Kälte‘ und falten diesen Begriff – wie die Erfahrung – in verblüffender Vielfalt der Formen und Inhalte auf.

Kluge bietet als Dreingabe ein üppiges, achtzigseitiges „Begleitbuch“, „Stroh im Eis“ betitelt, das über die Filme hinausgreift und, buntscheckig wie diese, Geschichten, Gedanken und autobiografische Notizen vereinigt: Sein ‚Mentor‘ Adorno hatte Kluge – unter dem Eindruck des frühen Erfolgsfilms „Abschied von gestern“ – nahe gelegt, einen „Film über die Kälte“ zu drehen: „Bei der Anspielung in Theodor W. Adornos Brief vom 13. März 1967 geht es darum, daß die Protagonistin des Films [„Abschied von gestern“], Anita G., überführt wurde, den Pullover einer Arbeitskollegin gestohlen zu haben. Der Richter fragt sie nach dem Motiv. […] Darauf antwortet Anita G. […]: ‚Ich friere auch im Sommer‘.“

Dem Wunsch Adornos ist Kluge nach vierzig Jahren gefolgt, denn sein Filmessay über die Kälte – „Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd“ – ist reich an Ideen und Anschauungen: Peter Weibel singt Nietzsche-Verse. Werner Herzog stellt ein gescheitertes Filmvorhaben über die Arktis vor, Rüdiger Sünner die populär-esoterische „Welt-Eis-Theorie“: „Den Kosmos, an den Adolf Hitler glaubte“. Helmut Lachenmann spricht über „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, sein beziehungsreiches Musiktheater nach Hans Christian Andersen – und über Gudrun Ensslin, die ihm aus schwäbisch-pfarrhäuslichen Jugendtagen nur allzu vertraut war. Artur Tschilingarow preist Sowjetrusslands Polarexpeditionen und sich selbst als deren Helden. Helge Schneider schließlich mimt mit genialisch trockenem Humor den Polarreisenden Helge Schneider.

Die Interviewstrecken und Spielszenen – letztere zeigen, zum Beispiel, Kannibalismus im Kessel von Stalingrad – werden verbunden durch kürzere, ein- bis dreiminütige stehende oder lebende Bilder: „Fußspur im Saubohnenfeld“, „Stiefel ohne Mann“, „Zeitraffer mit Schneetreiben vor meinem Balkon Elisabethstraße 38“. Diese bilden Scharniere, geben dem ungebärdigen Ganzen der drei Stunden Film Rhythmus, Façon, ‚poise‘. So meint für dieses Mal ‚Gesamtkunstwerk‘ oder ‚Intermedialität‘ nicht wagnerianischen Wust oder eklektische Indifferenz, sondern luzide gegenseitige Erhellung. Nicht an Bayreuther Nebel ist zu denken, weit eher ans epische Theater Bertolt Brechts. Kluge bewährt sich als Meister trockener – niemals steriler – Kunst des Zusammenhangs, unvermuteter Affinitäten und trickreicher Kompilation: Nicht wenige Beiträge sind neu verschnittene ältere Ware aus den Archiven.

Allein wer seiner Sache sicher ist, kann wagen, so disparate, teils idiosynkratische Mischungen zu offerieren. (Adornos Segen reicht nicht aus.) Kluge, seit Jahrzehnten im Geschäft, fehlt es an Selbstsicherheit nicht – auch kann er seitens ‚seines‘ Publikums auf Langmut rechnen, wo sich Verständnis für wagemutige Gedankenketten nicht einstellen will. Geduld jedenfalls zahlt sich aus.

Titelbild

Alexander Kluge: Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
180 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783518135211

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