„Jeder Mensch ist ein Abgrund…“

In seinem Erzählband „In dieser Wildnis“ lotet Constantin Göttfert die Abgründe der menschlichen Seele aus

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass man Bücher nie nach ihrem Umschlag beurteilen sollte, ist eine Tatsache, die es in der englischen Sprache gar bis zur Spruchweisheit gebracht hat. Doch wozu sind solch ehrwürdige Truismen da, wenn nicht, um sie hin und wieder auch einmal zu missachten? In diesem Sinne seien zunächst einige Worte zum Umschlag von Constantin Göttferts unlängst beim Leipziger Poetenladen erschienenen Band „In dieser Wildnis“ verloren: Drollig sehen sie aus, die vom Miriam Zedelius entworfenen Figuren, die das Cover des Buches bevölkern. Vor quietschgrünem Hintergrund stehen da kindlich-naiv scheinende, unbekleidete Männer und Frauen, deren Körper sich bald spindeldürr und lang über die Buchdeckel ziehen, bald klobig-kompakt auf dem Umschlag prangen. Doch scheint es eben nur so, als seien sie niedlich: Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass sich die vermeintlich lustigen Gesellen argwöhnisch beäugen, dass eine Figur einer anderen die Hand abbeißt, einen spitzen Finger ins Auge ihres Gegenüber rammt, oder auch dass ein besonders langgestreckt-hagerer Mann mit seinen Füßen unsanft auf den kantigen Köpfen zweier sich zähnefletschend-grimmig anstarrender Figuren steht.

Damit verdeutlicht bereits der Einband von „In dieser Wildnis“ die Grundprämisse der insgesamt zehn darin versammelten Erzählungen: „Die Wildnis ist überall“, wie es der Klappentext, wohl um ganz sicher zu gehen, noch einmal explizit macht. Mögen Situationen zunächst auch noch so ‚normal‘ oder fast schon idyllisch erscheinen – bald schon lässt Göttfert in diese mit aller Gewalt das Patholgisch-Brutale einbrechen: „Anna sitzt auf dem Küchenboden. Mit einer Hand hebt sie die Katze am Genick hoch, mit der anderen fasst sie nach den Pfoten“, beginnt der Autor die Erzählung „Annas Katze“. Doch wer nun die literarische Darstellung einer ausgiebigen Kuschelstunde zwischen einem kleinen Kind und seinem Lieblingshaustier erwartet, sieht sich bereits in den folgenden Sätzen auf das Schwerste getäuscht: Kein possierlich-flauschiges Kätzchen ist es, das sich da verzweifelt aus dem erbarmungslosen Griff des Mädchens zu entwinden sucht, sondern ein „alt[es]“ und „auffallend mager[es]“ Tier; das Kind wiederum zeigt, wie der Erzähler-Vater konsterniert feststellt, ein perverses Vergnügen am Leiden der Katze: „In Annas Augen ist ein seltsames Glitzern, das ich so noch nie gesehen habe.“

Die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen zunehmend, indem das Animalisch-Bestialische immer mehr zu einem Hauptmerkmal auch des kleinen Mädchens wird, das nach einem mehr oder minder erfolgreichen Versuch des Haustiers, sich gegen die unerwünschte Dominanz zur Wehr zu setzen, Laute von sich gibt, die „auch von einem Tier sein“ könnten, und der Vater selbst muss erstaunt über seinen schreienden Sprössling sagen: „Unvorstellbar doch, […] dass es ein Mensch ist.“

Ungewöhnlich, ja verstörend wirkt diese Geschichte natürlich vor allem dadurch, dass die Tierquälerin, der ihre Tat offensichtlich große Freude bereitet, ein Kind ist; doch beschränkt sich Göttfert keinesfalls darauf, nur die Psyche der kleinen Anna zu durchleuchten; fast schon etwas zu forciert unappetitlich wird auch der Versuch des – mit der Erziehung eines solchen Satansbratens völlig überforderten – Vaters, Fischstäbchen zuzubereiten, geschildert: Die im heißen Öl zerplatzenden Wassertropfen, das besudelte Küchenhandtuch, das spritzende Fett, dessen brennendes Aufschlagen auf ihre Haut Anna mit einem geradezu lustvollen Quieken quittiert, lassen die Umgebung zur schmuddeligen Seelenlandschaft für die sadomasochistischen Triebe der Charaktere werden: „Ich stelle den Teller auf ihre ausgestreckten Beine. Meine Hand berührt dabei versehentlich ihre schwarzen Haare. ‚Du liebes, liebes Kind!‘, schreie ich sie plötzlich an“, beschreibt der Vater sein Verhalten auf diese zufällige Berührung – eine Reaktion, deren Analyse wohl mehrere Freudianer wochenlang beschäftigen dürfte.

Fast noch verstörender als diese gebrüllte Liebesbekundung und das abschließende Gipfeln der kindlichen Gewalt in einer vollständigen Verstümmelung des Tieres ist jedoch der Grund, warum der Vater seinen wildgewordenen Spross nicht von letzterer Schandtat abhalten kann: „Im Badezimmer onaniere ich ins Waschbecken. Ich habe nur wenig Zeit. Ich stehe vor dem Spiegel und höre, dass Anna nicht schläft, […] sie kommt näher. Mit ihren Fingernägeln kratzt sie an der Badezimmertür. ‚Gleich‘, sage ich, sie kratzt weiter, ‚noch eine Sekunde.‘“ Spätestens hier wird deutlich: Übertriebene Subtilität ist Göttferts Sache nicht.

Verspricht der Klappentext noch „suggestive Nahaufnahmen, in denen Realität und Vorstellung verschmelzen“, gleichsam also eine Art literarischen Äquivalents zum „Blair Witch Project“, so wird hier klar, dass es dem Autor wohl zumeist eher darum geht, Leser und Leserinnen – wenn nötig auch a tout prix – zu schockieren. Als (angeblich) alltäglich werden diverse Formen häuslicher und sexueller Gewalt dargestellt, die perverse Lust am Leiden anderer Kreaturen wird zum grundlegenden Charakterzug der ansonsten zumeist merkwürdig hölzernen und oftmals beinahe leblosen Figuren. Dabei befremdet jedoch nicht so sehr die Tatsache, dass Göttfert unter jeder scheinbar noch so harmlosen Oberfläche nur Abgründe zu entdecken vermag, als vielmehr die unnötige und häufig viel zu platte Drastik, mit der diese Abnormitäten dargestellt werden.

Wenn etwa in „Arion Rufus“ die eponyme Nacktschnecke in eine Pfanne mit heißem Öl geworfen wird, schwelgt der Autor in einer derartig detaillierten Beschreibung ihres Todeskampfes, dass die vorausgegangene, etwas gewollt enigmatische Handlung der Geschichte völlig in den Hintergrund tritt. Darüber hinaus wird der Leser hier, wie im Gros der anderen Erzählungen auch, nur noch zum passiven Voyeur der dargestellten Perversionen: Das vom Klappentext eingeforderte ‚Vorstellungsvermögen‘ hat den gebotenen Schilderungen wohl kaum noch etwas hinzuzufügen und kann sich getrost in den Feierabend verabschieden. Freunde vergleichsweise drastischer Darstellungen werden daher sicherlich Gefallen an Göttferts Erzählungen finden können; für Anhänger subtilerer literarischer Vergnügungen hingegen ist „In dieser Wildnis“ nur bedingt zu empfehlen.

Titelbild

Constantin Göttfert: In dieser Wildnis. Erzählungen.
Poetenladen, Leipzig 2010.
121 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783940691156

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