Ein Lob für Thomas Bernhards schärfste Kritikerin: Mireille Tabah hat eine „Festschrift für Irene Heidelberger-Leonard“ herausgegeben

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irene Heidelberger-Leonard, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Université Libre de Bruxelles, machte sich unter anderem als preisgekrönte Biografin und Herausgeberin der Werke Jean Amérys um die Kritik der deutschsprachigen Literatur nach 1945 verdient. Sie erforschte hauptsächlich die literarische Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Shoah, so etwa mit skeptischem Blick auf die Werke Alfred Anderschs, Ingeborg Bachmanns, W. G. Sebalds oder auch von Günter Grass.

2009 hat ihre Brüsseler Kollegin, die Literaturprofessorin und Thomas-Bernhard-Forscherin Mireille Tabah, eine Festschrift zu Ehren Heidelberger-Leonards herausgegeben, die unter dem Titel „Gedächtnis und Widerstand“ 23 Aufsätze namhafter und ausgewiesener PhilologInnen über die literarische Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, die Ästhetik der Holocaustliteratur sowie zu interkulturellen Fragestellungen versammelt.

Darin findet sich ein lesenwerter Beitrag des österreichischen Literaturwissenschaftlers, freien Autors und Publizisten Gerhart Scheit, in dem an einen kritischen Aufsatz erinnert wird, den Heidelberger-Leonard bereits 1995 in Hans Höllers Suhrkamp-Sammelband „Antiautobiografie. Thomas Bernhards ‚Auslöschung‘“ publizierte: „Auschwitz als Pflichtfach für Schriftsteller“ avancierte seither zu einem der meistdiskutierten Beiträge zu Bernhards 1986 erschienenem opus magnum „Auslöschung. Ein Zerfall“. Während andere Interpreten Bernhards Roman, in dem der Protagonist Franz-Josef Murau den von seinen Nazi-Eltern geerbten Familiensitz Schloss Wolfsegg zuletzt der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien vermacht, als mutige Anklage der verleugneten österreichischen NS-Vergangenheit begrüßten, konterte Heidelberger-Leonard mit dem rigiden Vorwurf eines literarischen Motivs der „Verdrängung schlimmster Art“. Erkaufe sich doch Murau sein „gutes Gewissen“ mit der bloßen Abschenkung seines mit Schuld beladenen „Herkunftskomplexes“ allzu billig – für die Interpretin nichts weiter als eine philosemitisch verbrämte, neuerliche „Beleidigung, wenn nicht gar […] Verhöhnung der jüdischen Opfer“.

Bernhard sei damit „weit hinter den Stand des österreichischen Auschwitz-Diskurses der achtziger Jahre“ zurückgefallen, urteilte Heidelberger-Leonard. Zeige er sich doch „ohne jede Sensibilität für die Situation der Juden“, indem er ihre Vernichtung nur aus der „Requisitenkammer der Geschichte“ hervorkrame, um seiner „eigenen Todessucht und -lust die erwünschte Fallhöhe“ zu verleihen. Dies erschien der Kritikerin „entweder gewollt zynisch, bestenfalls aber geschmacklos“: „In solch maschinell verfertigten Ritualen der Vergegenwärtigung werden diejenigen, die ‚vernichtet weiterleben‘, werden die Ermordeten ein zweites Mal ermordet. Liquidation allüberall.“

Scheit kontextualisiert diese harsche Kritik mit Bernhards in der Tat problematischer Klassifizierung der Bombenangriffe auf Salzburg im Zweiten Weltkrieg als „Terrorangriffe“, wie sie sich in dem früheren autobiografischen Roman „Die Ursache. Eine Andeutung“ (1975) findet – tatsächlich eine ursprüngliche NS-Propagandabezeichnung für den alliierten Verteidigungskrieg gegen jenes „Tausendjährige Reich“, das sich die komplette Vernichtung der Juden in aller Welt auf die Fahnen geschrieben hatte und anders als mit solchen massiven Gegenangriffen gar nicht mehr zu stoppen war.

Heidelberger-Leonards Polemik gegen Bernhards spätere Hinwendung zu einer ihr immer noch willkürlich und klischeehaft erscheinenden Thematisierung des österreichischen NS-Judenmords in „Auslöschung“ mag seither vielfach in Frage gestellt und mit differenzierten Argumentationen relativiert worden sein – ohne Weiteres zu ignorieren waren und sind ihre bohrenden Fragen nach Bernhards in der Tat vielfach widersprüchlichen ‚Opfer-Identifikationen‘ aber nicht. Es lohnt sich, ihnen weiter nachzuspüren und nachzuforschen. Gerade auch anlässlich eines „Bernhard-Jubiläums“, wie es der 80. Geburtstag des 1989 verstorbenen Schriftstellers darstellt – will man dieses nicht zur bloßen, unkritischen Lobhudelei verkommen lassen.

J.S.

Titelbild

Mireille Tabah (Hg.): Gedächtnis und Widerstand. Festschrift für Irene Heidelberger-Leonard.
Stauffenburg Verlag, Tübingen 2009.
319 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783860576656

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