Warum bekommt der dicke Waldemar eigentlich zwei Kirschen?

Soziale Gerechtigkeit in Deutschland und die Regierungsflüsterer aus Gütersloh

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Im Kinderbuchklassiker „Freunde“ von Helme Heine bekommen Franz von Hahn, Johnny Mauser und der dicke Waldemar auf einmal sehr großen Hunger. Nachdem es mit dem Angeln nichts wurde, weil ihre Mägen so laut knurrten, dass kein Fisch anbiss, besorgen sie sich Kirschen. Auf dem Bild sieht man, wie der dicke Waldemar, das Schwein, auf dem Gockel Franz von Hahn balanciert, der auf Johnny, der Maus, steht. Nachdem Waldemar die Kirschen geangelt hat, wird die Beute sofort aufgeteilt: „Eine Kirsche für Johnny, eine Kirsche für Franz von Hahn und zwei Kirschen für den dicken Waldemar. Johnny Mauser hatte nichts dagegen, aber Franz von Hahn fand das ungerecht. So bekam er die Kirschkerne noch dazu.“

Die meisten Kinder kichern darüber, dass der Gockel Franz anstatt einer zweiten Kirsche nur die Kerne bekommt, beschweren sich aber, dass Waldemar doppelt so viele Kirschen bekommt wie die beiden anderen. Wenn in dem Buch so nachdrücklich betont wird, dass „richtige Freunde“ einander helfen, dann stellt sich doch die Frage nach der Begründung für diese Ungleichbehandlung. Die mögliche Begründung, „Weil er so dick ist, braucht er eben mehr zu essen“, wird nicht akzeptiert. Eigentlich sollten alle gleich viel Kirschen bekommen, wo sie doch solchen Hunger haben: Nur das wäre gerecht!

Nicht nur Kinder reden viel von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wird überall gefordert. Nicht jeder hat die gleichen Vorstellungen davon, was gerecht ist. Die Diskussionsklassiker der Stammtische: Ist es gerecht, dass der Klinikchef ein Vielfaches von dem verdient, was die OP-Schwester bekommt? Ist es gerecht, dass der Hochschullehrer ein Vielfaches verdient von dem, was die Grundschullehrerin bekommt? Ist es gerecht, dass die Ossis weniger Rente bekommen als die Wessis? Ist es gerecht, dass Frauen im Durchschnitt weniger verdienen als die Männer? Ist es gerecht, dass die (immer gleichen) deutschen Geberländer die (immer gleichen) Nehmerländer seit Jahrzehnten alimentieren? Ist es gerecht, dass Deutschland der größte Zahler der EU ist?

Was ist schon gerecht?

Sozialwissenschaftliche Theorien zum Thema Gerechtigkeit gibt es zuhauf. Aber, was ist „Gerechtigkeit“? Einigermaßen konsensfähig ist die Aussage, dass der Begriff der Gerechtigkeit einen idealen Zustand des sozialen Miteinanders bezeichnet, in dem es einen angemessenen, unparteilichen und einforderbaren Ausgleich der Interessen und der Verteilung von Gütern und Chancen zwischen den beteiligten Personen oder Gruppen gibt. Damit sollten, so die Forderung, bestimmte Handlungsnormen und Rechtsnormen für die entsprechende Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens einhergehen. Als abstrakter Begriff hat der Begriff der Gerechtigkeit in Theorie und Praxis je nach sozialem Zusammenhang und darin eingenommener Perspektive unterschiedliche Ausprägungen erfahren, darum ist er oftmals umstritten und wird auch für immer umstritten bleiben. Dennoch wird Gerechtigkeit weltweit als Grundnorm menschlichen Zusammenlebens betrachtet, daher berufen sich in (fast) allen Staaten Gesetzgebung und Rechtsprechung auf sie. Die Vorstellung von Gerechtigkeit ist in der Ethik, in der Rechts- und Sozialphilosophie sowie in der Moraltheologie ein zentrales Thema bei der Suche nach moralischen und rechtlichen Maßstäben und für die Bewertung sozialer Verhältnisse.

Man kann über Gerechtigkeit philosophieren und man kann versuchen, sie zu messen. Soeben erschien eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung, die für sich in Anspruch nimmt, aus dem alten Dilemma der festgefahrenen Kontroversen zwischen einer gleichmachenden „Verteilungsgerechtigkeit“ – alle bekommen gleich viel – und einer lediglich formalen „Chancengleichheit“ – die Tochter des türkischen Gemüsehändlers beginnt in der gleichen Schulklasse wie die Tochter des Universitätsprofessors – vermitteln will. In dieser Studie wird soziale Gerechtigkeit verstanden als „Teilhabegerechtigkeit“. Damit soll gemeint sein, ein Konzept, demzufolge jedem Bürger tatsächlich gleiche Verwirklichungschancen durch die gezielte Investition in die Entwicklung individueller Fähigkeiten garantiert werden: Jeder Einzelne soll im Rahmen seiner persönlichen Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben und zu einer breiten gesellschaftlichen Teilhabe befähigt werden.

Eine empirische Studie zum Gerechtigkeitsindex

Um herauszubekommen, wie weit es bei der aktuellen Verwirklichung eines derartigen Konzepts von sozialer Gerechtigkeit in den 31 OECD-Staaten steht, unternahm die Bertelsmann Stiftung aus Gütersloh eine groß angelegte Untersuchung. Unter der Leitung ihres Senior Director, Stefan Empter, sollten mit dieser Studie die Politikfelder Armutsvermeidung, Bildungszugang, Arbeitsmarkt, sozialer Zusammenhalt und Gleichheit sowie Generationengerechtigkeit unter die Lupe genommen werden. Im Vergleich mit den anderen OECD-Staaten liegt Deutschland mit Platz 15 lediglich im Mittelfeld. Angeführt wird der „Gerechtigkeitsindex“ (Sustainable Governance Indicators) von den nordeuropäischen Staaten Island, Schweden, Dänemark, Norwegen und Finnland. Schlusslicht ist die Türkei.

Defizite für Deutschland sieht die Bertelsmann Stiftung insbesondere in den Feldern Armutsvermeidung, Bildung und Arbeitsmarkt. „In einer zukunftsfähigen Sozialen Marktwirtschaft dürfen wir uns nicht damit zufrieden geben, dass rund jedes neunte Kind in armen Verhältnissen aufwächst, Bildungschancen stark von sozialer Herkunft abhängen und vergleichsweise viele Menschen dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben“, sagte Gunter Thielen, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, bei der Vorstellung der Studie. Der internationale Vergleich zeige eindeutig: Soziale Gerechtigkeit und marktwirtschaftliche Leistungsfähigkeit müssten sich keineswegs gegenseitig ausschließen. Dies belegten insbesondere die nordeuropäischen Länder.

Nach dieser Studie hat die Einkommensarmut in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten zugenommen. Besorgniserregend ist dabei das Phänomen der Kinderarmut. Rund jedes neunte Kind lebt unterhalb der Armutsgrenze. Daher mangelt es vielerorts bereits an den Grundvoraussetzungen sozialer Gerechtigkeit, denn unter den Bedingungen von Armut sind soziale Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben kaum möglich. Zum Vergleich: In Dänemark, das neben Schweden und Norwegen die geringsten Armutsquoten im OECD-weiten Vergleich aufweist, sind lediglich 2,7 Prozent der Kinder von Armut betroffen. Selbst Ungarn (Rang 8) und Tschechien (Rang 13) liegen noch vor Deutschland (Rang 14).

Trotz verbesserter PISA-Ergebnisse deutscher Schülerinnen und Schüler – das deutsche Bildungssystem hat unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit weiterhin Defizite. Hier rangiert Deutschland im OECD-Vergleich mit Platz 22 nur im unteren Mittelfeld. Der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen hängt stark mit ihrem jeweiligen sozioökonomischen Hintergrund zusammen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus einem sozial schwachen Umfeld durch Bildung befähigt werden, am gesellschaftlichen Wohlstand teilzuhaben, ist in Deutschland geringer als in vielen anderen OECD-Staaten. Die Investitionen in frühkindliche Bildung, eines der Schlüsselfelder zur Gewährleistung gleicher Lebenschancen, sind zudem noch stark ausbaufähig.

Die weltweite Wirtschaftskrise ist in Deutschland am Arbeitsmarkt trotz der starken Exportabhängigkeit der inländischen Wirtschaft deutlich weniger spürbar als in anderen Ländern. Doch unter dem Gesichtspunkt soziale Gerechtigkeit gibt es durchaus noch Schattenseiten. So bleibt einigen gesellschaftlichen Gruppen – wie Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten – auch weiterhin der Zugang zu Beschäftigung massiv erschwert. Hinsichtlich der Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit liegt Deutschland im OECD-Vergleich sogar auf dem vorletzten Platz.

Auch beim Aspekt sozialer Zusammenhalt und Gleichheit bestehen Defizite. Die Ungleichverteilung der Einkommen in Deutschland hat innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte so stark zugenommen wie in kaum einem anderen OECD-Mitgliedsland. Mit Blick auf den Zusammenhalt einer Gesellschaft ist eine solche Polarisierungstendenz bedenklich. Bei Fragen der Gleichbehandlung und der Vermeidung von Diskriminierungen herrschen in Deutschland zwar hohe rechtliche Standards. Doch gibt es in der Praxis durchaus Fälle von Diskriminierung, insbesondere hinsichtlich des Alters, des Geschlechts und von Behinderungen. Auch bei der Integration von Zuwanderern erhält Deutschland nur mäßige Noten; Zuwanderung wird häufig mehr als Risiko denn als Chance betrachtet.

Das Prinzip der Generationengerechtigkeit ist in Deutschland hingegen vergleichsweise gut verwirklicht. Die Verankerung einer Schuldenbremse im Grundgesetz ist positiv zu werten, und auch im Bereich Umweltpolitik und Ressourcenschonung erhält Deutschland gute Noten. Dieses Ergebnis sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch weiterhin umweltpolitischer Handlungsbedarf besteht, insbesondere im Hinblick auf einen verbesserten Klimaschutz und die Förderung erneuerbarer Energien. Steigerungsfähig sind auch die öffentlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung, die maßgeblich über die Innovationsfähigkeit eines Landes und damit auch über dessen Wohlstand entscheiden.

Die nicht uneigennützige Denkfabrik in Gütersloh

Als Sozialwissenschaftler, der am Thema sehr interessiert sein muss, die methodologische Seite der Untersuchung jedoch nicht wirklich kompetent beurteilen kann, legte ich die Kurzfassung der umfangreichen Ergebnisse mit gemischten Gefühlen aus der Hand. Auf der einen Seite beeindrucken die „SGI 2011“, auf der anderen Seite beschleicht mich ein etwas mulmiges Gefühl bei dem Nachdenken über den Träger dieser Untersuchung.

Wieso steht als Auftraggeber einer solchen Studie nicht das Ministerium der Ursula von der Leyen auf dem Deckblatt? Wieso erinnern mich eher umgekehrt viele der von der Bertelsmann Stiftung skizzierten Lösungswege zu mehr „Teilhabegerechtigkeit“ an die aktuellen Gesetzesvorhaben eben dieser Ministerin? Die ganzen Maßnahmen, vor allem das „Bildungspaket“, kommen mir vor, wie die direkte Umsetzung der Blaupausen aus Gütersloh. Wenn es regierungsamtlich heißt: „Kinder brauchen Chancen, Kinder brauchen Perspektiven, egal wie gut oder schlecht ihre Eltern finanziell gestellt sind. Das neue Bildungspaket steht für mehr soziale Integration und mehr Chancen auf Bildung und Teilhabe für Kinder aus hilfebedürftigen Familien“, dann hört es sich an wie das politische Echo der Stiftungs-Studie. Daran ist nichts Schlechtes, es lässt mich nur fragen danach, wer eigentlich die Ideengeber der gegenwärtigen Politik sind. Und mit welchen Absichten hier wer wen „berät“, um nicht zu sagen, dirigiert?

Spätestens seit dem Buch von Thomas Schuler über die „Bertelsmann-Republik“ wäre es ja wohl naiv, solche Fragen nicht zu stellen. Thomas Schuler, Jahrgang 1965, Absolvent der Graduate School of Journalism der Columbia University in New York, lebt und arbeitet als freier Journalist in München, schreibt unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“ und „Berliner Zeitung“. Er ist Autor der erfolgreichen Familienbiografien „Die Mohns. Vom Provinzbuchhändler zum Weltkonzern. Die Familie hinter Bertelsmann“ (2004) sowie „Strauß. Die Biographie einer Familie“ (2006) und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Medienimperium Bertelsmann.

Wenn amerikanische Unternehmen angesichts der von Schuler rekonstruierten Praxis der Bertelsmann Stiftung zur Abwechslung einmal den deutschen Traum träumen und nicht umgekehrt, kann man getrost davon ausgehen, dass politischer Regelungsbedarf besteht. Im vorliegenden Fall geht es um das deutsche Stiftungsrecht, das – wenn man Thomas Schuler Glauben schenken darf – im Wesentlichen die Handschrift der mächtigsten nationalen Denkfabrik trägt, die – und das macht die Sache problematisch – zugleich zu seinen Hauptprofiteuren gehört. Die Rede ist von der Bertelsmann Stiftung, die mit ihren diversen Universitäten und Ministerien angegliederten „Centren“ und „Beratern“ seit Jahrzehnten nicht nur eine Gratwanderung an der Nahtstelle zwischen Forschung und Politik vollführt sondern auch zwischen Gemeinnutz und Lobbyismus, wie der Journalist bereits im Titel unmissverständlich suggeriert.

Doch so empörend die Enthüllungen von Schuler im Einzelnen auch sind, völlig überraschend sind sie nicht. Seit Jahrzehnten steht das deutsche Medienimperium wegen seiner undurchsichtigen Vermengung von vorgeblich gemeinnützigem und politischem Engagement mit unternehmerischem Interesse im Mittelpunkt heftiger Kontroversen. Im Fokus dabei immer wieder die Stiftung als vorgeblich gemeinnütziges Aushängeschild, das bei genauerem Besehen jedoch vor allem den Konzern- und Familieninteressen verpflichtet ist, wie Schuler überzeugend nachweist. Dabei geht es ihm einerseits darum, die fragwürdige personelle Verflechtung von Bertelsmann AG und Bertelsmann Stiftung sowie die absolute ideologische Kontrolle herauszustreichen, die die Familie Mohn auf die grundsätzlich zu Unabhängigkeit verpflichtete Stiftung ausübt. Skandalöser noch erscheint das dubiose Finanzgebaren, das die Familie an den Tag legt, damit es ihr durch geschicktes Verrechnen von Steuererleichterungen und Ersparnissen mit den Ausschüttungen gelingt, die Stiftung de facto mit öffentlichen Mitteln zu betreiben, wie Schuler unterstellt.

Dass der Autor, der bereits in einer Biografie mit dem Mythos der Verlegerfamilie Mohn aufgeräumt hat, mit seinem Buch pünktlich zum 175. Bertelsmann-Jubiläum einen Nerv getroffen hatte, belegten die empfindlichen Reaktionen aus Gütersloh. Ein lesenswertes Stück deutscher Unternehmensgeschichte und zugleich ein Lehrstück über Macht und Moral. Und ein Schlüsselbuch für das gegenwärtige Deutschland. Schuler gelingt es, durch viele Nachweise die Geschichte und den Einfluss der Stiftung auf Kernbereiche der Gesellschaft plausibel nachzuvollziehen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hartz IV, Hochschulreform, Europapolitik, Privatisierung öffentlicher Verwaltung et cetera: In allen diesen Fällen schafft die Stiftung nicht nur die Geschäftsfelder für die Bertelsmann AG, sondern betreibt auch eine massive Transformation der Gesellschaft in eine Richtung, die Norbert Blüm in seinem Buch „Gerechtigkeit. Eine Kritik des Homo oeconomicus.“ als „ökonomischen Totalitarismus“ bezeichnet.

Soziale Gerechtigkeit in Zeiten entgrenzter Märkte

Bereits angekündigt werden soll hier die deutsche Übersetzung des Buches eines französischen Kollegen, der sich eben diesem Thema der sozialen Gerechtigkeit in den Zeiten des Neoliberalismus in vorbildlicher Weise angenommen hat: Alain Supiot, Professor für Sozialrecht und Rechtsvergleich an der Universität Nantes und Direktor des dortigen Institut d’études avancées. In seinem Buch „L’esprit de Philadelphie. La justice sociale face au marché total“ erinnert Supiot daran, dass allgemeiner und dauerhafter Frieden nur auf sozialer Gerechtigkeit und der Sicherung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen aufgebaut werden kann. So wurde es bereits in der „Erklärung von Philadelphia“ vom 10. Mai 1944 formuliert, die heute als Gründungsdokument moderner Sozialstaatlichkeit gilt. Entstanden als Abschluss einer Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation, die heute im Auftrag der Vereinten Nationen arbeitsrechtliche Standards entwickelt, prägte der Geist dieser Erklärung das wenige Wochen später verabschiedete Abkommen von Bretton Woods, im Jahr darauf die Gründung der Vereinten Nationen und schließlich, im Jahr 1948, die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“.

Daran zu erinnern, braucht es keine private Denkfabrik aus dem Westfälischen. Aber, deren Rolle scheint es für Deutschland geworden zu sein, vorauszudenken, wie man diese philanthropischen Ideen aus Philadelphia mit der Doktrin vom entgrenzten Markt harmonisch und zum eigenen ökonomischen Vorteil „verbinden“ kann. Der gegenwärtige neoliberale Globalisierungsprozess, an dem die Bertelsmann AG ganz unmittelbar teilnimmt und diesen vorantreibt, und in dem das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit systematisch den ökonomischen Anforderungen des Marktes unterworfen wird, ist eine Pervertierung der Erklärung von Philadelphia. Der blinde Glaube an die Unfehlbarkeit der Finanzmärkte hat das Streben nach sozialem Ausgleich und nach gerechter Verteilung des Reichtums verdrängt. Und die gegenwärtige Finanzkrise hat keineswegs zur „Rückkehr des Staates“, sondern zur Privatisierung seiner Aufgaben auf Kosten der Mehrheit geführt. Die zahllosen Verlierer der neuen Wirtschaftsordnung sind zu Migration und einem Leben in Armut und Unsicherheit verurteilt. Daraus ergibt sich für Supiot die Forderung nach einer sozialen Gerechtigkeit, die an fünf lange unterdrückte Tugenden appelliert: an den Sinn für Grenzen, an Zurückhaltung, angemessenes Handeln, Verantwortung und Solidarität. Er plädiert vor diesem Hintergrund für eine an die Umstände der Gegenwart angepasste Rückbesinnung und Erneuerung der Werte der Erklärung von Philadelphia aus dem Jahr 1944.

Auch wenn die Freundschaft zwischen Franz von Hahn, Johnny Mauser und dem dicken Waldemar unter der Ungleichheit bei der Verteilung der Kirschen nicht gelitten zu haben scheint, sie sollte uns nicht als Vorbild dienen. Nur weil einer dicker ist als die anderen, hat er noch lange keinen Anspruch auf mehr Kirschen. Selbst wenn er mal, beginnend im Juli 1835, erbauliche christliche Lieder und Predigtvorlagen verlegt hat.

Literatur

Helme Heine: Freunde. Weinheim: Beltz, 2011.

Thomas Schuler: Bertelsmannrepublik Deutschland.Eine Stiftung macht Politik. Frankfurt/Main: Campus, 2010.

Norbert Blüm: Gerechtigkeit.Eine Kritik des Homo oeconomicus. Freiburg: Herder, 2006.

Alain Supiot: Der Geist von Philadelphia. Soziale Gerechtigkeit in Zeiten entgrenzter Märkte. Hamburg: Hamburger Edition, 2011.