Thomas Bernhard, der große Komödiant

Eine Rezension aus dem Jahr 1982 über „Ein Kind“, den letzten Band seiner Jugenderinnerungen

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Thomas Bernhard ganz ernst nimmt, bringt sich um einen einzigartigen Lektüregenuß. Was immer dieser österreichische Autor von sich gibt, ob als Dramatiker, als Interview-Partner, als Verfasser öffentlicher Erklärungen und auch als Erzähler, er ist auf den schockierenden Effekt bedacht, jeder Auftritt ist sorgfältig inszeniert, in höchstem Maße theatralisch, Hier spricht und schreibt jemand in einer ausgefeilten, betont künstlichen Rhetorik: pointenreich, witzig, in überraschenden Paradoxien und mit einer geradezu besessenen Vorliebe für alle Extreme.

Wieweit ist das, was er sagt, richtig, wahr und, wo er über sich selbst berichtet, ,,authentisch“? Thomas Bernhard schreibt nicht nur für das Schauspiel, sondern er ist, auch als Prosaautor, selbst ein Schauspieler durch und durch – ist doch überhaupt, wie er uns mit größter Hartnäckigkeit in immer neuen Variationen einzureden versucht, die Welt nichts anderes als ein grauenvolles, sinnloses und zugleich lächerliches Theater.

,,Das Leben sei eine Tragödie, bestenfalls könnten wir sie zur Komödie machen.“ So lesen wir es denn auch jetzt wieder in Bernhards Bericht über seine ersten dreizehn Lebensjahre, mit dem er die 1975 begonnene Reihe der nun fünfbändigen Jugenderinnerungen auf großartige Weise abgeschlossen hat. Aus der Tragödie eine Komödie zu machen, das gelingt diesem Autor in zunehmendem Maße. Er ist ein Komödiant, sein Witz freilich ist dem Entsetzen abgerungen. Er steigert seine Erfahrungen des Schreckens ins Groteske, macht sie dadurch erträglich, weil man über sie lachen kann und weil sie den Anschein des Irrealen bekommen.

Wie man es mit dem Wahrheitsgehalt seiner autobiographischen ,,Berichte“ (so nennt er sie selbst) zu halten hat, darüber gibt ein Passus in dieser Kindheitsgeschichte deutlich Auskunft. Er schließt an eine zu Beginn des Bandes erzählte Episode an, die an manch einen Höhepunkt deutschsprachiger Prosa erinnert.

Das achtjährige Kind erlebt Augenblicke vollkommener Glückseligkeit, nachdem es ihm gelungen ist, mit dem alten Fahrrad seines Stiefvaters auf Anhieb und ohne fremde Hilfe seine ersten Runden zu drehen. Und als es sogleich den kühnen, wenn auch unerlaubten Entschluß ausführt, von Traunstein in Richtung auf das sechsunddreißig Kilometer entfernte Salzburg zu radeln: ,,Ich hatte an diesem Tag die größte Entdeckung meines bisherigen Lebens gemacht, ich hatte meiner Existenz eine neue Wendung gegeben, möglicherweise die entscheidende der mechanischen Fortbewegung auf Rädern. So also begegnet der Radfahrer der Welt: von oben! Er rast dahin, ohne mit seinen Füßen den Erdboden zu berühren, er ist ein Radfahrer, was beinahe soviel bedeutet wie: ich bin der Beherrscher der Welt.“ Der Überschwang der Begeisterung hält nicht lange an. Als der kleine Bernhard in Rennfahrerhaltung seine Geschwindigkeit noch einmal zu steigern versucht, reißt die Kette, sie verwickelt sich in den Speichen des Hinterrades, der Junge fliegt kopfüber in den Straßengraben, blut- und ölverschmiert schiebt er, unbeachtet von den vorbeifahrenden Autos, das kaputte Rad den langen Weg zurück, und zu allem Überdruß ,,war auch noch von einem Augenblick auf den anderen ein Gewitter hereingebrochen, das die Landschaft, die ich gerade mit dem höchsten aller Hochgefühle durcheilt hatte, in ein Inferno verwandelte. Brutale Wassermassen ergossen sich über mich und hatten in Sekundenschnelle aus der Straße einen reißenden Fluß gemacht, und unter den tosenden Wassermassen mein Rad schiebend, heulte ich unaufhörlich.“

Das Kind verflucht sich, will sterben, hat maßlose Angst vor der Bestrafung seines bislang schwersten ,,Verbrechens“: ,,der Urteilsspruch mußte entsetzlich sein“. – Bernhard berichtet uns wenig später, wie der Junge das ganze Geschehen seinem Freund erzählt, und er veranschaulicht uns dabei so genau wie nirgendwo in den fünf Bänden sonst, was die Kunst seiner eigenen autobiographischen Erzählweise charakterisiert : ,,Ich selbst genoß meinen Bericht so, als würde er von einem ganz anderen erzählt, ich steigerte mich von Wort zu Wort und gab dem Ganzen, von meiner Leidenschaft über das Berichtete selbst angefeuert, eine Reihe von Akzenten, die entweder den ganzen Bericht würzende Übertreibungen oder sogar zusätzliche Erfindungen waren, um nicht sagen zu müssen: Lügen.“

Die Absicht des erzählenden Jungen ist es, den Freund mit rhetorischer Raffinesse davon zu überzeugen, daß man ihn trotz seines kläglichen Scheiterns am Ende doch als einen triumphierenden Helden anzusehen habe. Thomas Bernhards Absicht ist eine andere: Seine Jugenderinnerungen lassen sich nicht zuletzt als Versuch verstehen, die finstere Weltsicht seiner vorangegangenen Werke mit der Schilderung persönlicher Erfahrungen zu beglaubigen. Die scheinbar belanglose Anekdote aus der Kindheit belegt, wie alles, was er erzählt, die Richtigkeit dessen, was sein Werk schon vorher an Thesen und Theorien enthielt. Die mißglückte Fahrradtour ist, genau besehen, eine tiefgründige Geschichte, in die wesentliche Themen und Motive seines Werkes eingelassen sind: die Geschichte über einen höchst eigenwilligen, ja größenwahnsinnigen, doch letztlich lächerlichen Versuch der Selbstentfaltung, über das menschliche Scheitern und die mit ihm verbundene Einsamkeit, über die Angst, die Schuld und die Abhängigkeit vom urteilenden Blick der anderen.

Daß Thomas Bernhards Buch, anders als viele seiner früheren Werke, auf abstrakte Reflexionen und lange philosophische Exkurse verzichtet, daß der Autor hier seine Themen allein als Erzähler entfaltet, das macht sie literarisch so überzeugend. Nicht zuletzt deshalb, weil Bernhard so auch gänzlich absieht von den Überhöhungen des eigenen Leidens zur unverbesserlichen, allgemeinmenschlichen Misere, mit denen er seine kritische Schärfe bisher immer wieder ins Leere laufen ließ.

Für Bernhard-Interpreten, die nach Informationen zur biographischen oder gar psychoanalytischen Erklärung seines Werkes suchen, bieten sich die Jugenderinnerungen als wahre Fundgrube an. Schon mit dem Titel ,,Die Ursache“ forderte der erste Band zu erklärenden Schlüssen vom ,,Leben“ auf das ,,Werk“ geradezu heraus. Doch ist bei derartigen Ableitungen höchste Vorsicht geboten. Was läßt sich daraus folgern, wenn im ,,Kind“ der über alles geliebte Großvater, ganz in der polemischen Diktion des Thomas Bernhard, über die katholische Kirche richtet, sie als einen ,,völkerverdummenden und völkerausnützenden Verein zur unaufhörlichen Eintreibung des größten aller denkbaren Vermögen“ beschimpft? Oder wenn er die Schulen ,,Fabriken der Dummheit und des Ungeistes“ nennt, wenn er seine Sympathien mit dem Anarchismus bekundet oder ständig mit Gedanken an den Selbstmord spielt?

Hat Thomas Bernhard das alles von dem kauzigen Großvater übernommen? Oder hat er es ihm nicht vielmehr in den Mund gelegt? Vieles spricht dafür, daß der erwachsene Bernhard sein Werk und sich selbst beim Schreiben der Erinnerungen in seine Jugend und Kindheit hineinprojiziert hat. Wenn er seinen Großvater charakterisiert, dann charakterisiert er weithin die eigene Person.

Schon von Geburt an, ja bereits im Mutterleib, so suggeriert ,,Ein Kind“ nicht ohne spielerischen Witz, war er der, der er heute ist: ein Wesen mit energischem Selbstbehauptungs- und Lebenswillen und eine anstoßerregende Figur. ,,Ganz entschieden“ hatte sich das Ungeborene ,,zum endgültigen Eintritt in die Welt“ gemeldet und ein „rasches Gebären“ gefordert. Und bereits mit der Geburt ist das uneheliche Kind eines ,,Gauners“ ein skandalöses, unerwünschtes Ärgernis.

Thomas Bernhards autobiographische Berichte sind literarisch vollkommen durchstilisiert. Wie wenig man sie wörtlich nehmen darf, darauf verweisen schon die stets haarsträubenden Übertreibungen und der theatralische Sprachgestus, die für sein ganzes Werk charakteristisch sind. Auch ,,Ein Kind“ bewegt sich ausschließlich in Extremen. Bernhards literarisches Werk lebt wie die Presse, für die er früher einmal tätig war, von Sensationen und Abnormitäten. Adjektive verwendet der Autor selten, ohne sie zum Superlativ zu steigern. Was der kleine Bernhard erlebt, das ist entweder die Hölle (in der Schule vor allem) oder das Paradies (auf dem Bauernhof oder bei Spaziergängen mit dem Großvater). Jede Begebenheit, von der erzählt wird, hat den Charakter des Außerordentlichen, jedes Unglück oder Mißgeschick wird zur ,,Katastrophe“ hochstilisiert, eine ist dabei ,,ungeheuerlicher“ als die andere und jede die ,,furchtbarste“.

Das wirkt meist komisch. Doch die Komik ist beabsichtigt. Oft steigert der Autor sie noch ins Groteske: Das einzige Buch des zwar genialen, aber erfolglosen Großvaters geht nicht einfach verloren, sondern wird von einer großen, verhungerten Ziege aufgefressen. Und ein Flugzeug, dessen Abschuß der Junge beobachtet, stürzt nicht lediglich auf die Erde, sondern ausgerechnet auf einen Schweinestall.

Gewiß. Thomas Bernhard ist ein Komödiant, wenn auch ein grausiger. Seine persönlichen Obsessionen und aggressiven Ausfälle gehen uns gleichwohl etwas an. Sie vermitteln uns Wahrheiten, denen wir uns nicht entziehen können, und das weit wirkungsvoller als all jene Selbsterfahrungsliteratur der siebziger und achtziger Jahre, die sich bestenfalls etwas auf ihre ,,Authentizität“ zugute halten kann, nicht jedoch auf ihre Kunstfertigkeit.

Mehr als alle früheren Bücher des Autors hat sein letztes eine über das Private hinausreichende, exemplarische Bedeutung. ,,Ein Kind“ erzählt die Schauergeschichte der ersten dreizehn Jahre eines Lebens, die zwar nicht ganz gewöhnlich, aber doch auch nicht untypisch ist. Vieles davon liest sich wie ein literarisches Pendant zu den resonanzreichen Schriften der Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller (;,Das Drama des begabten Kindes“, ,,Am Anfang war Erziehung“), die einen Nerv unserer Zeit getroffen zu haben scheint. Was sie theoretisch analysiert, führt Bernhard mit epischer Anschaulichkeit vor: die Geschichte zahlloser Kränkungen, Vergewaltigungen und Verstümmelungen eines begabten Kindes.

Spätestens wenn er gegen Ende von sich als jemandem erzählt, dem jahrelang der ,,tödliche Titel“ des ,,Bettnässers“ anhängt und der in ein Heim für schwer erziehbare Kinder eingeliefert wird, dann schlägt das bei der Lektüre dominierende Grauen und Gelächter in Mitgefühl um, dann begreift man, dass die Kränkungen, die Thomas Bernhard der Kirche und der Schule, den Ärzten und Politikern, ja (wie ein Kind) der ganzen Welt mit wütender Energie zufügen möchte, nur ein Reflex der Kränkungen sind, die ihm selbst zugefügt wurden.

Die Rezension ist am 6.4.1982 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.

Titelbild

Thomas Bernhard: Die Autobiographie. Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind.
Residenz Verlag, St. Pölten ; Salzburg 2009.
575 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783701715206

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Titelbild

Thomas Bernhard: Ein Kind.
dtv Verlag, München 2011.
166 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-13: 9783423139632

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