Kanonisierter „Störenfried“

Bernhard Judex bringt Licht ins Dunkel des Bernhard’schen Werks

Von Verena MeisRSS-Newsfeed neuer Artikel von Verena Meis

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„In meinen Büchern ist alles künstlich, das heißt, alle Figuren, Ereignisse, Vorkommnisse spielen sich auf einer Bühne ab, und der Bühnenraum ist total finster. […] In der Finsternis wird alles deutlich.“ Diese viel zitierte Selbstaussage Thomas Bernhards aus seinem Film-Monolog „Drei Tage“ ist wie alle anderen mit Vorsicht zu genießen. Allzu schnell wird das Werk eines Autors als pessimistisch, monomanisch und düster abgetan. Bernhards poetologische Prämisse der absoluten Finsternis, die Wendelin Schmidt-Dengler als „Fundamentalsatz der Bernhardschen Ästhetik“ bezeichnet hat, findet auch in Bernhard Judex’ literaturgeschichtlichem Arbeitsbuch „Thomas Bernhard. Epoche – Werk – Wirkung“ Erwähnung. Judex verweist auf die künstliche Selbstinszenierung der meist männlichen „Geistesmenschen“ und Künstlerfiguren Bernhards sowie die Inszenierung des als „Altersnarren“ bezeichneten Autors selbst, ohne in die berüchtigte und bei Bernhard schon oft beschrittene autobiografische Falle zu tappen.

Neben Friedrich Schiller, Gotthold Ephraim Lessing, Heinrich Heine, Bertolt Brecht Brecht und Thomas Mann reiht sich nun auch Bernhard in die Beck’sche Reihe ein. Ist der „Übertreibungskünstler“ und Skandalautor Bernhard also im literarischen Kanon angekommen? Bernhard Judex konstatiert: „Der Dichter scheint kanonisiert, die Fragen um sein Werk und seine Person bestehen indes weiter.“

So beginnt Judex sein hilfreiches Arbeitsbuch mit einer biografischen Darstellung, die seines Erachtens wichtige Voraussetzungen zum Verständnis des Bernhard’schen Werkes biete. Judex vermeidet es jedoch, den Zusammenhang zwischen Leben und Werk als allumfassenden Schlüssel des Verständnisses anzusetzen. Seine Auswahl konzentriert sich auf einzelne werk- und wirkungsgeschichtlich relevante Texte.

Als die „Suche nach der eigenen Stimme“ charakterisiert Judex die ersten lyrischen Schreibversuche Bernhards, die noch heute wenig Beachtung finden, obwohl sie mehr seien als die bloße Bewältigung persönlicher Leidenserfahrungen, mehr als eine „Biographie des Schmerzes“, in der Bernhard seine Einsamkeits- und Todeserfahrungen der Jugend artikulierte. Judex betont somit die Eigenständigkeit der Lyrik sowie das Auftauchen von Elementen der späteren Prosa. Von Beginn an zeigt das Arbeitsbuch sprachliche Entwicklungen Bernhards auf, legt plausibel Zusammenhänge zwischen Leben und Werk frei. Dies gelingt Judex zufolge nur, indem Bernhards poetologische Äußerungen immer im Hinblick auf den jeweiligen Text stets neu untersucht werden, um komplexe Vorstellungen innerhalb seines Werks erschließen zu können.

Nach der Lyrik findet der als Krankheitsgeschichte ausgewiesene Erstlingsroman „Frost“ genaue Beachtung. Der Verfasser betont in dem Zusammenhang die suggestive Macht der Sprache und die Figur des unzuverlässigen Erzählers, Motive, die von nun an ein Markenzeichen Bernhards wurden.

Aus den in den 1960er-Jahren zahlreich entstandenen kürzeren Erzählungen Bernhards wählt Judex „Die Mütze“ sowie „Der Kulterer“. Den 1975 erschienenen Prosatext „Korrektur“, den Alfred Pfabigan als das „vielleicht ehrgeizigste und gleichzeitig mißlungenste Werk Bernhards“ bezeichnet, charakterisiert Judex als „offenes Kunstwerk“, das die traditionellen Formen des Erzählens sprengt und eine Wende in Bernhards Schaffen andeutet.

„Eine Gesellschaft die zwei Minuten Finsternis nicht verträgt kommt ohne mein Schauspiel aus“ – ein Arbeitsbuch zu Thomas Bernhard darf auf die nähere Betrachtung der Bühnenstücke keineswegs verzichten. Neben kurzen einführenden Sequenzen und der darauffolgenden Textanalyse unter spezifischen Gesichtspunkten streut Judex auch die skandalträchtigen Wirkungen ein, die unter anderem die Bühnenstücke „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ und „Der Theatermacher“ bei ihrer Uraufführung begleitete.

Unter dem Stichwort „Autobiografie als Dichtung“ plädiert Judex für den Aspekt der Poetizität, unter dem Bernhards autobiografisches Werk zu verstehen sei, dem man eher die Bezeichnung „autobiografische Erzählungen“ als „Autobiografie“ erteilen sollte.

Auch den als Schlüsselroman ausgewiesenen späten Prosatext „Auslöschung“ sowie Bernhards bekanntestes und wirkungsgeschichtlich bedeutendstes Drama „Heldenplatz“, das 1988 für einen der größten Skandale der österreichischen Theatergeschichte sorgte, ist Teil der intensiven Betrachtung.

Im Anhang findet der Leser ein Gesamtverzeichnis des Bernhard’schen Schaffens sowie eine Auswahlbibliografie an Sekundärliteratur, beides erweist sich als sehr hilfreich und war längst nötig. Judex erschließt dem Leser Sinnzusammenhänge zwischen den verschiedenen Texten Bernhards, weist auf Ähnlichkeiten hin, sträubt sich aber subtil gegen die „Ein-Buch-These“, die lange Zeit vorwurfsvoll gegen dessen Werk gewendet wurde. Der Verfasser verhandelt die einzelnen Textgattungen für sich, macht jedoch auf vergleichende Aspekte, auch über die Gattungen hinaus, aufmerksam. Durch die gattungsspezifische Sichtweise muss es vereinzelt zu Wiederholungen kommen, die keineswegs stören, sondern die zentralen Merkmale verdeutlichen und somit vertiefen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass Judex’ Arbeitsbuch auch die Funktion eines Nachschlagewerks übernimmt.

Interpretatorische Deutungsansätze finden durchgängig Erwähnung und werden miteinander kontrastiert. Bernhard wird für den Leser sozusagen tastbar. Judex schafft es, die Vielfältigkeit ebenso wie Bernhards zentrale Motivkomplexe und die enge Verbindung zwischen Leben und Werk umfassend darzustellen. Mögliche Typologisierungen und Denkansätze lassen die Texte in ihren Grundzügen verstehen. Die vom Autor zahlreich eingestreuten Zitate verweisen auf die wichtigste Forschungsliteratur, die in Klammern gesetzten Quellenangaben erschweren manchmal leicht den Lesefluss.

Als Einführung in Bernhards Werk spinnt er ein überaus dichtes Netz der zentralen Motive und textlichen Charakteristika; es ist ein Buch, das den interessierten Leser zu Bernhards Texten greifen lässt. Judex hat eine exzellente Textauswahl getroffen, die sich als Einführung in Bernhards Werk als sehr sinnvoll erweist und zur intensiven Weiterarbeit mit den Primärtexten anregt.

Titelbild

Bernhard Judex: Thomas Bernhard. Epoche - Werk - Wirkung.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
186 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406606847

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