Gelassene Summe

Hans Mommsen zieht eine Bilanz deutscher Geschichte zwischen den Kriegen

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hans Mommsen ist im November 2010 achtzig Jahre alt geworden. Die Rezensenten würdigten einen der ‚Großen des Fachs‘, der Zeitgeschichte nämlich, einen prägenden deutschen Historiker und Publizisten, der beharrlich auch in vergangenheitspolitische Auseinandersetzungen wie den Historikerstreit der 1980er- und die Goldhagen-Debatte der 1990er-Jahre eingegriffen hat – durchwegs im Geist der Sachlichkeit und nüchternen Besinnung, doch kompromisslos, wo es Schuld zu benennen galt.

Mit Martin Broszat brach Mommsen der ‚funktionalistischen‘ Auffassung vom Nationalsozialismus Bahn. Sie setzte der ‚intentionalistischen‘ Verengung des Blicks auf die Person Hitlers und deren unterstellte Absichten die komplizierte Herrschaftsstruktur des nationalsozialistischen Deutschland entgegen – und die Teilhabe der deutschen Gesellschaft als ganzer am Unrechtszusammenhang. Mit Redeweisen wie „polykratische Herrschaft“ und „kumulative Radikalisierung“ hat Mommsen das Ausdrucksvermögen der historiografischen Sprache entscheidend bereichert. Forscher, die Deutungsansätze jenseits Hitler’scher Dämonie und Suggestionskraft, der Deutschlands Bevölkerung hilflos ‚zum Opfer fiel‘, propagieren – darunter Michael Wildt und Götz Aly –, bleiben Mommsen trotz aller Auffassungsunterschiede verpflichtet.

Dass Hans Mommsen sich kritisch von Michael Wildts (Über-)Akzentuierung des rassistisch exklusiven „Volksgemeinschafts“-Gedankens absetzt, dito von Alys ‚materialistischer‘, die Deutschen vornehmlich als Profiteure der ‚Arisierung‘ jüdischen Eigentums und der Ausplünderung unterworfener Staaten begreifender Sicht, ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass Mommsen, fünfzehn Jahre nach seiner Emeritierung, Jahrzehnte nachdem ihm die Durchsetzung des eigenen, ‚funktionalistischen‘ Forschungsansatzes gelang, einen gleichsam olympischen, distanzierten Blick aufs akademische Geschehen und den Markt der Ideen richtet. Wo Jüngere neu zu lancierende Thesen scharfkantig umreißen, um diese zur Sprache und zum Bewusstsein der (akademischen) Öffentlichkeit zu bringen, kann Mommsen ausgleichend und abwägend wirken. Er füllt die Rolle des gelassenen Moderators im zeitgeschichtlichen Gespräch der Deutschen souverän aus.

Auch dieser Band – gewissermaßen eine Summe der Forschungsarbeit von Jahrzehnten – bezeugt Hans Mommsens hohes Differenzierungs- und Darstellungsvermögen. Einige wenige Aufsätze der letzten 15 Jahre wurden um ein Dutzend bislang unveröffentlichter Texte, meist von 10 bis 20 Seiten Umfang, ergänzt. Die insgesamt 20 Beiträge gruppieren sich in vier Abteilungen, deren jede ein zentrales Forschungsinteresse Mommsens umschreibt: „Von Weimar zum Dritten Reich“, „Hitlers Aufstieg und Monopolisierung der Macht“, „Krise und Zerfall des Dritten Reiches“ und „Der Widerstand im Dritten Reich“. Mit Einleitung, Anmerkungen und Personenregister ergibt sich ein weitgehend geschlossenes Ganzes, das ohne Schwierigkeiten in einem Zuge gelesen werden kann. (Die seltsam dekorative, Tapetenmustern ähnliche Umschlaggestaltung soll, scheint es, das mosaikhafte Gefüge des Bandes grafisch übersetzen – ob dies gelingt, steht dahin.)

Anzumerken ist, dass Mommsen neueste Forschungsliteratur einbezieht. So nimmt der Beitrag zur Frühgeschichte der NSDAP zustimmend Stellung zu Ludolf Herbsts erst 2010 vollzogener Dekonstruktion des ‚Führer‘-Mythos („Hitlers Charisma“): „Die Herausstellung Hitlers als charismatischer Führer nicht nur der Partei, sondern des deutschen Volkes […] war sehr bewusst von Eckart, Rosenberg und Esser betrieben worden. Dieser Schritt hatte die Funktion, die in viele Grüppchen und Ideenträger aufgesplitterte Partei zusammenzuhalten und positiv zu motivieren, was angesichts der drohenden Isolation der NSDAP im rechtskonservativen Lager dringend notwendig erschien. Mit Recht hat Ludolf Herbst diesen Rekurs auf das Charisma des erfolgreichen Parteiführers als ‚Erfindung‘ der Münchner Gefolgschaft Hitlers bezeichnet.“

Charakteristisch für Mommsens synthetisches Vermögen sind die zahlreichen Stellungnahmen gegen undialektisch zuspitzende Einschätzungen ‚neuralgischer Punkte‘ deutscher Vergangenheitspolitik wie der Novemberrevolution: „Wie auch immer man die Politik Friedrich Eberts […] in den Umsturzwochen nach dem November 1918 beurteilt […], verdiente seine Entschlossenheit, so rasch wie irgend möglich die Wahl zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung zu betreiben […] rückhaltlose Anerkennung.“

Ähnliches gilt für Bayern und dessen Hauptstadt, die vielerorts – mit gutem Grund, doch einseitig – als Brutstätte und politische Heimat der Nazis angesprochen werden: Hans Mommsen gibt, nach eingehender Darstellung des Münchner völkischen Milieus, oft übersehene Gründe an, die Einschätzung Münchens als ‚der‘ Nazistadt zu relativieren: „[…] was das Anwachsen der NSDAP in der Phase zwischen der Neugründung 1925 und der Machteroberung vor 1933 anging, erwies sich die spätere ‚Hauptstadt der Bewegung‘ im Unterschied zu Ostdeutschland und Schleswig-Holstein als wenig ergiebiges Feld. […] Bis zum 5. März 1933 lagen die Wahlergebnisse deutlich unter dem Reichsdurchschnitt, während sich sowohl die Bayerische Volkspartei als auch die SPD bemerkenswert behaupteten. […] die von Goebbels’ Propagandaapparat vorgetragene Fiktion eines Aufgehens der unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte in einer einheitlichen ‚Volksgemeinschaft‘ hatte mit der sozialen Realität namentlich in Bayern nichts zu tun.“

Naturgemäß kommt Mommsens, des Mäßigungskünstlers, Talent, stets beide Seiten einer Medaille zu sehen, den Beiträgen über den Widerstand und dessen moralische und politische Aporien besonders entgegen. Die Aufsätze zu Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Carl Friedrich Goerdeler, dem Kreisauer Kreis und der Roten Kapelle sowie zwei übergreifende Essays zur „Bilanz“ und politischen Zukunftsvisionen des Widerstands gegen Hitler nehmen insgesamt gut 100 Seiten, also ein Drittel des Bandes, ein.

Hans Mommsen ist einer der letzten Vertreter jener Historikergeneration, die, wenn auch mit kindlichem Blick, zum Augenzeugen der Nazizeit wurde: „Die bürgerliche Fassade überkommener unverletzlicher Werte fiel für mich damals in Scherben.“ Zugleich zählt Mommsen zu den wenigen verbliebenen Schülern jener deutschen Gelehrten, die bei vollem Bewusstsein, teils leidend, teils gestaltend, Weimar und den Nationalsozialismus erlebten. So gerät Mommsen zum Mittler zwischen Opfern wie Tätern des ‚Dritten Reichs‘ und Nachgeborenen. Seinem Lehrer, Hans Rothfels, dem jüdisch-deutschen Patrioten, der vor den Nazis geflohen und wider alle Wahrscheinlichkeit zurückgekehrt war, um die bundesrepublikanische Zeitgeschichtsschreibung zu prägen, hat Mommsen ein wissenschaftliches Porträt gewidmet. Es schließt den Band ab, und die letzten Sätze des Beitrags können mit einigem Recht auch auf Mommsen angewandt werden: „Als akademischer Lehrer und als historischer Essayist hat Hans Rothfels Generationen von Nachwuchshistorikern inspiriert und dazu beigetragen, […] sie zu ermutigen, ihrer moralisch-politischen Verantwortung nachzukommen und öffentlich Partei zu ergreifen, ohne dabei die Kontinuität geschichtlicher Prozesse aus den Augen zu verlieren.“

Titelbild

Hans Mommsen: Zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Demokratie, Diktatur, Widerstand.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010.
399 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783421044907

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch